Wie im Vorwort der Henle-Ausgabe von Henryk Wieniawskis Scherzo-Tarantella (HN 553) vermerkt, gibt es von diesem Werk eine Fassung für Violine und Orchester in einer unvollständig erhaltenen Kopie des verlorenen Autographs. Diese Fassung wurde nicht veröffentlicht und weist erhebliche Unterschiede zur gedruckten Fassung für Violine und Klavier auf. Leider ist kein weiteres Autograph der Scherzo-Tarantella überliefert, und ohne entsprechende Hinweise zu Wieniawskis Arbeit an dem Werk konnten wir die Orchesterfassung nicht für die Edition der Klavierfassung in Betracht ziehen.
Nichtsdestotrotz ist die Orchesterfassung eine wertvolle und interessante Quelle, da sie uns im Einzelnen Aufschluss über den Kompositionsprozess der Scherzo-Tarantella geben kann.
Das Hauptaugenmerk in diesem Artikel liegt auf zwei musikalischen Aspekten, die lediglich die Orchesterfassung von Wieniawskis Scherzo-Tarantella betreffen: einerseits die erweiterte Einleitung (dort 20 Takte lang) vor dem ersten Soloeinsatz, andererseits das musikalische Begleitmaterial der D-dur-Passagen des „Cantabile“-Teils. Eine Untersuchung dieser Teile in Bezug auf ihre musikalische Struktur, technische Überlegungen für den Pianisten sowie im Hinblick auf das Ensemble fördern Hinweise zutage, die Wieniawskis kompositorischen Prozess und seine Ideen erkennen lassen. (Die Taktzahlen unterscheiden sich in den beiden Fassungen. Um den Vergleich und die Disskussion zu vereinfachen, beziehen sich alle Taktzahlen in diesem Artikel auf die diejenigen, wie sie in HN 553 abgedruckt sind.)
Unterschiede zwischen der Fassung für Violine und Klavier und der Fassung für Violine und Orchester
In der autographen Partitur der Orchesterfassung ist der Solopart (in T. 271) als „Cantante“ anstelle von „Cantabile“ bezeichnet, während gleichzeitig oberhalb der Notenzeile der ersten Violine „Scherzando“ notiert ist. In diesen D-dur-Teilen spielen die ersten und zweiten Violinen Passagenwerk, das auf Material aus dem ersten Teil der Tarantella basiert, besonders auf den wellenförmigen Triolen und dem Oktavsprungmotiv. Bemerkenswert ist, dass in der Begleitung kein Material der Solo-Violine aus dem Kopfthema der Tarantella verwendet wird. (Siehe Bsp. 1: Takte 271 bis 278. Um so viele Schichten und Stimmen wie möglich in kompakter Form darzustellen, wurden die Beispiele unten auf einen Klavierauszug reduziert, ohne großen Wert auf die technische Ausführbarkeit zu legen. Die Bogenführung folgt dem Manuskript.)
Die Wiederholung des Oktavsprungmotivs leitet elegant in den ebenso von der Tarantella inspirierten Solo-Teil der Violine über, der in Takt 301 Oktavsprünge aufweist (mit der Bemerkung grazioso in der Fassung für Violine und Klavier, ohne Zusatz in der Fassung für Violine und Orchester). (Siehe Bsp. 2: Takte 294 bis 302.)
Nach der Rückkehr zu einem „Scherzando“ in Takt 317, das dem vorherigen ähnelt, wird die Satztechnik anspruchsvoller, mit Arpeggio-Akkorden in den Streichern. Dies leitet über in die mit Akkorden ausgeschmückten Oktavsprünge in der Solo-Violine in Takt 347. (Siehe Bsp. 3: Takte 341 bis 350.) Zudem spielt die Solo-Violine in den Takten 343 bis 346 jeweils eine ausgehaltene leere A-Saite statt der Oktavverdoppelungen, wie in der Fassung für Violine und Klavier.
Die erweiterte Einleitung in der Fassung für Violine und Orchester beginnt mit einer Art Frage-Antwort-Spiel; die Bläser spielen Oktavsprünge, woraufhin die Streicher mit Triolen antworten. Es folgt ein Crescendo, das die Triolen und Oktavsprünge kombiniert, um schließlich in den Einsatz der Solo-Violine überzuleiten. Dies unterscheidet sich sehr von der komprimierten Introduktion der Fassung für Violine und Klavier. (Siehe Bsp. 4: Beginn der Fassung für Violine und Orchester.)
Bsp. 4: Beginn der Fassung für Violine und Orchster
Welche Aufschlüsse bietet die Fassung für Violine und Orchester ?
Es ist festzuhalten, dass man nicht weiß, ob die Fassung für Violine und Orchester vor oder nach der für Violine und Klavier komponiert wurde. Weil die Fassung für Violine und Klavier zudem die einzige ist, die publiziert wurde, war es aus dem Blickwinkel unserer Edition klar, dass die abweichenden Elemente der Fassung für Violine und Orchester nicht in den Klavierauszug übertragen oder mit diesem vermischt werden sollten.
Für den wissbegierigen Interpreten oder Wissenschaftler kann es aber lohnenswert sein, sich ausführlicher mit den signifikanten Unterschieden zwischen den Fassungen zu befassen. Diese könnten auf Wieniawskis praktische und/oder künstlerische Überlegungen hinsichtlich beider Ensemblearten hinweisen oder sogar über das Konzept der Komposition selbst Aufschluss geben.
Józef Wieniawski
Bis 1855 trat Henryk Wieniawski für gewöhnlich mit seinem als Pianisten sehr talentierten Bruder Józef auf. Sie komponierten sogar gemeinsam, woraus ein früheres Werk, das Grand Duo Polonaise (op. 8 für Henryk und op. 5 für Józef), entstand. Aus diesem Grund ist es sehr wahrscheinlich, dass die jeweilige Klavierstimme in Henryks Kompositionen – bis hin zur 1855 entstandenen Scherzo-Tarantella oder davor – Józefs kritische Prüfung durchlief und dessen pianistischen Vorlieben widerspiegelt, da er schließlich derjenige war, der den Klavierpart übernahm.
Obwohl es keine Beweise gibt, dass die Fassung für Violine und Orchester vor der Fassung für Violine und Klavier entstand, ist dies durchaus möglich. Die Fassung für Violine und Klavier enthält mehr Aufführungsanweisungen und einige Unterschiede bezüglich Kontrapunkt und Phrasierung, die man als Verbesserung ansehen kann. Und wenn wir dieser Hypothese weiter folgen, ist es wahrscheinlich, dass die Fassung für Violine und Orchester entworfen wurde, als Henryk und Józef noch die Absicht hatten, zusammen aufzutreten. Demnach könnte es sein, dass irgendwann in Erwägung gezogen wurde, musikalische Ideen aus der Fassung für Violine und Orchester in die Klavierstimme zu übernehmen. Dies hätte zur Folge gehabt, dass die Klavierstimme im Vergleich zur letztendlich veröffentlichten Fassung für Violine und Klavier stärker in den Vordergrund getreten wäre.
Anders ausgedrückt: Die längere Einleitung am Anfang und die komplexere Begleitung in den Takten 271 bis 301 und 317 bis 347 werfen die Frage auf, ob es zu einem früheren Zeitpunkt beabsichtigt war, Józef eine selbständigere Klavierstimme zuzuweisen. Das wäre in Henryks Kompositionen keine Seltenheit. Beispielsweise verfügt sein Thème original varié, op. 15 über virtuose begleitende Klavierpassagen zur Violin-Melodie und über eine Themenzitat, das die Aufmerksamkeit auf das Klavier lenkt.
Aber mit der beruflichen Trennung von Józef könnte Henryk gezwungen worden sein, die längere Einleitung und die potenziell technisch anspruchsvolle und musikalisch komplexe Cantante / Scherzando-Episode zu überarbeiten. Als die Scherzo-Tarantella als Fassung für Violine und Klavier veröffentlicht werden sollte, hatte Henryk keinen festen Pianisten als Partner mehr, auf den er sich auf allen Ebenen verlassen konnte. Das könnte ihn auf die Idee gebracht haben, die Klavierstimme der Scherzo-Tarantella einfacher zu gestalten. Ist dies auch rein spekulativ, so bietet es doch immerhin eine praktische Erklärung für die viel kürzere und einfachere Einleitung und die Cantante-Passage (geändert zu Cantabile), die durch ein konventionelles Satz-Schema bestehend aus Melodie mit Arpeggiobegleitung neu gestaltet wurde.
Eine Fusion aus Elementen von Scherzo und Tarantella
Ein anderer Erklärungsansatz mit weitreichenden musikalischen Konsequenzen beruht auf Belegen in der Fassung für Violine und Orchester, denen zufolge Henryk eine Passage komponieren wollte, in der Elemente aus dem Scherzo und der Tarantella miteinander verschmelzen sollten, und dies in einem Kontext, der die bezaubernde Violinmelodie gut zur Geltung bringen sollte. Dies lenkt den Blick auf viele mögliche Fragen, unter anderem, was Wieniawski mit dem Titel Scherzo-Tarantella beabsichtigte, und auf die Komplexität der musikalischen Gedanken, die er in dieses Virtuosenstück investierte.
Wie in den Beispielen oben gezeigt wurde, spielt die Solo-Violine in dem Abschnitt Cantante / Scherzando eine lyrische Melodie, die von scherzo-artigen Elementen begleitet wird, unter Rückbeziehung auf die Schlüsselelemente des Tarantella-Anfangs. Auch ist festzustellen, dass dies in ganz ähnlicher Weise geschieht wie in der Einleitung (derselben Fassung für Violine und Orchester). Aus formaler Sicht ist das Cantante / Scherzando indessen die zweite lyrische Episode, die in Dur steht (hier in D-dur), bevor die Tarantella in der Grundtonart g-moll wieder aufgegriffen wird. Strukturell befindet sich daher das Cantante / Scherzando an der Schlüsselposition des Stückes. Die variierte Wiederholung der Cantante / Scherzando-Sequenz (d. h. Takte 271 bis 301 und Takte 317 bis 347) wie auch ihre komplexe Schichtung von Motiven belegt zudem, dass Wieniawski sich der Bedeutung dieses Abschnitts durchaus bewusst war.
Sowohl die Fassung für Violine und Klavier als auch die für Violine und Orchester spiegeln die stilistischen Merkmale einer Tarantella wie auch eines Scherzos mit seinen Trio-
Kontrasten wider. Nur aber die Fassung für Violine und Orchester zielt auf eine Synthese der beiden Genres. Mit dem Cantante / Scherzando setzt Wieniawski, im Mittelpunkt des Stückes, das Versprechen des Titels wörtlich um.
Natürlich bleibt die Frage, warum die Fassung für Violine und Klavier keine derartig raffinierte Verschmelzung von Scherzo und Tarantella aufweist. Vielleicht war Wieniawski mit seinem ehrgeizigen Experiment nicht ganz zufrieden oder fand es zu sperrig und kompliziert für die Besetzung Violine / Klavier. Es ist überdies denkbar, dass die Änderung des Cantante / Scherzandos in das Cantabile der Fassung für Violine und Klavier Wieniawski davon überzeugte, dessen strukturelle Beziehung zur Einleitung zu überdenken. Mit anderen Worten, ein vereinfachtes Cantabile kann der Grund gewesen sein, auch die Einleitung weniger komplex zu gestalten.
Festzuhalten bleibt, dass Wieniawski die Fassung für Orchester und Violine nicht veröffentlichte und dass die Scherzo-Tarantella in der vorliegenden Form für Violine und Klavier, diejenige Fassung darstellt, die Wieniawski zur Veröffentlichung freigab. Die Kenntnis der Fassung für Violine und Orchester kann allerdings unsere Wertschätzung für Wieniawskis kompositorische Komplexität, sein scharfes Urteilsvermögen und seine Umsicht vergrößern. Die Summe seiner Entscheidungen brachten die Version der Scherzo-Tarantella hervor, die wir heute so schätzen.
Der Beitrag wurde verfasst von Dr. Ray Iwazumi.
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Von der CD: Iwazumi & Usui Play Brahms, Debussy, Mozart, Wieniawski and Ysaÿe