Zwar ma­chen die blau­en Ur­text-Aus­ga­ben den Lö­wen­an­teil un­se­res Ka­ta­logs aus, aber so ganz ne­ben­bei pro­du­zie­ren wir auch noch eine ganz an­de­re Art von Noten, näm­lich Fak­si­mi­les, also ori­gi­nal­ge­treue Re­pro­duk­tio­nen von be­son­ders be­deu­ten­den Hand­schrif­ten. Oft genug füh­ren wir zu einem Werk sogar bei­des, so dass man­cher sich fra­gen mag: Wozu braucht man ei­gent­lich das Fak­si­mi­le, wenn man doch eine ver­läss­li­che Ur­text-Aus­ga­be hat, die ge­ra­de diese Quel­le wis­sen­schaft­lich aus­wer­tet und dem Mu­si­ker damit die op­ti­ma­le Auf­füh­rungs­grund­la­ge für das Werk bie­tet? András Schiff lie­fert dafür in sei­nem Ge­leit­wort für un­se­re ge­ra­de in Vor­be­rei­tung be­find­li­che Fak­si­mi­le-Aus­ga­be des Schu­bert­schen Es-dur-Kla­vier­tri­os (HN 3225) ein star­kes Ar­gu­ment, dem si­cher viele Mu­si­ker zu­stim­men wer­den: „Gute No­ten­aus­ga­ben sind wich­tig, Ma­nu­skrip­te un­ent­behr­lich […], nur durch sie kön­nen wir uns den Schöp­fern der Werke wirk­lich nahe füh­len.“

Eben­so wie uns das Au­to­graph eines Goe­the-Ge­dichts oder die erste Seite einer Kaf­ka-Er­zäh­lung auf be­son­de­re Weise an­spre­chen, so „lesen“ wir eben auch Cho­pins be­rühm­te As-dur-Po­lo­nai­se op. 53 (HN 3221) oder Beet­ho­vens spä­tes Streich­quar­tett op. 132 (HN 3222) in der in­di­vi­du­el­len, nu­an­cen­rei­chen Hand­schrift ihres Schöp­fers mit an­de­ren Ge­füh­len und Er­kennt­nis­sen als im nor­mier­ten Par­ti­tur­bild einer mo­der­nen Ur­text-Aus­ga­be.

Schu­mann, Au­to­graph Wald­sze­nen

Das gilt nicht nur für Strei­chun­gen, Kor­rek­tu­ren und Über­kle­bun­gen, die uns in Ar­beits­ma­nu­skrip­ten wie Schu­manns Wald­sze­nen (HN 3217) oder Liszts Ri­go­let­to-Pa­ra­phra­se (HN 3219) einen Ein­blick in die Werk­statt des Kom­po­nis­ten geben. Auch die Ve­he­menz oder Ele­ganz der säu­ber­li­chen Nie­der­schrift von Mo­zarts Streich­quar­tett F-dur KV 168 (HN 3209) oder De­bus­sys be­zau­bern­der L’isle joy­eu­se für Kla­vier (HN 3224) teilt uns viel über den Cha­rak­ter der Musik mit.

De­bus­sy, Au­to­graph L'isle joy­eu­se

Ein zum Ge­schenk für den Ban­kier Wil­helm Lin­deck ei­gens vom Kom­po­nis­ten auf Schmuck­pa­pier no­tier­tes Lied wie die Feld­ein­sam­keit von Jo­han­nes Brahms (HN 3207) liest sich ganz an­ders als des­sen stark re­vi­dier­tes Ma­nu­skript zu den Fan­ta­si­en op. 116 für Kla­vier (HN 3210), und der Ver­gleich bei­der Fak­si­mi­les lässt uns zu­gleich er­ah­nen, wie viel­fäl­tig die Funk­tio­nen eines Au­to­graphs sein kön­nen.

Brahms, Au­to­graph Feld­ein­sam­keit

Aber gibt’s das heute nicht alles im In­ter­net? Ja, si­cher sind ge­ra­de in den letz­ten Jah­ren un­glaub­lich viele Hand­schrif­ten in her­vor­ra­gen­den Ein­zel-Scans kos­ten­frei im In­ter­net ab­ruf­bar – ob von Samm­lun­gen wie der des Bon­ner Beet­ho­ven-Hau­ses, in na­tio­na­len Ka­ta­lo­gen wie Gal­li­ca oder schlicht über die all­seits be­lieb­te Platt­form imslp. Aber der Un­ter­schied zu einem Fak­si­mi­le ist him­mel­weit: Denn für die ge­druck­te Aus­ga­be set­zen wir alles daran, dem Ori­gi­nal in For­mat, Farbe, Auf­tei­lung und Bin­dung so nahe wie mög­lich zu kom­men. Und manch­mal kann sogar nur eine Fak­si­mi­le-Aus­ga­be das Ori­gi­nal wie­der her­stel­len: wenn die fak­si­mi­lier­te Quel­le näm­lich gar nicht mehr als eine Ein­heit be­steht.

So ver­hält es sich z. B. bei Schu­berts Vio­lin­so­na­te D-dur op. 137 Nr. 1, auf deren leer ge­blie­be­ner Rück­sei­te der Kom­po­nist so­gleich mit der Nie­der­schrift eines Lie­des be­gann. Als er dies wei­ter­ge­ben woll­te, trenn­te er die Lied­sei­ten von der So­na­te – wo­durch der Schluss der So­na­te fort­an mit dem Lied einen an­de­ren Über­lie­fe­rungs­weg ein­schlug. Aber damit nicht genug: Auch der rest­li­che Teil des Au­to­graphs blieb nicht bei­sam­men, son­dern wurde noch im 20. Jahr­hun­dert unter zwei Nach­fah­ren des Ver­le­gers Au­gust Cranz auf­ge­teilt. Erst in un­se­rer 1988 er­schie­ne­nen Fak­si­mi­le-Aus­ga­be (HN 3208) konn­ten die drei Teile des Au­to­graphs wie­der ver­eint – und damit die ur­sprüng­li­che Schrei­bein­heit Schu­berts re­sti­tu­iert – wer­den.

Be­schrie­ben wer­den sol­che und an­de­re De­tails der Über­lie­fe­rung üb­ri­gens in dem Teil der Fak­si­mi­le-Aus­ga­be, der fast ge­nau­so wich­tig ist wie die Bil­der: der Kom­men­tar. Neben An­ga­ben zur Ent­ste­hung und Über­lie­fe­rung des Wer­kes lie­fert er auch eine An­lei­tung zum Lesen der Hand­schrift: Sei es die Mo­zart­sche Ge­rüst­no­ta­ti­on bei grö­ße­ren Wer­ken wie dem A-dur-Kon­zert KV 488 (HN 3216) oder die Deu­tung ver­schie­de­ner Schreib­schich­ten in Beet­ho­vens spä­ter Kla­vier­so­na­te op. 101 (HN 3211).

So ver­su­chen wir, mit un­se­ren Fak­si­mi­le-Aus­ga­ben weit mehr als schö­ne Bil­der zu pro­du­zie­ren – näm­lich die Ge­le­gen­heit, sich einem Werk oder Kom­po­nis­ten le­send und stu­die­rend auf ganz be­son­de­re Weise zu nä­hern und so ein (noch) grö­ße­res Ver­ständ­nis für die Schön­heit sei­ner Kunst zu ent­wi­ckeln. Für mich ist das der beste Grund für ein Fak­si­mi­le – aber viel­leicht sehen Sie das ganz an­ders? Dann schrei­ben Sie doch einen Kom­men­tar zum Blog – wir freu­en uns!

 

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2 Antworten auf »Wozu eigentlich Faksimiles?«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Ich sehe das genauso. Und was hinzukommt: bei Unklarheiten ist es geradezu unumgänglich, – wenn vorhanden und erreichbar – das Manuskript des Komponisten zu konsultieren. Wobei man allerdings berücksichtigen muss – und das macht die Sache besonders spannend -, dass natürlich auch die großen Komponisten Menschen waren: auch ihnen sind gelegentlich Fehler unterlaufen. (Das klingt nach Blasphemie, aber selbst von J. S. Bach gibt es eine von ihm geschriebene Instrumentalstimme, die an einer Stelle satztechnisch eindeutig nicht so sein kann. Wahrscheinlich handelt es sich nur um einen Flüchtigkeitsfehler, aber in mehreren Ausgaben taucht es heute so gedruckt auf – weil ER es ja so geschrieben hat…)
    Außerdem: was die Aufführungspraxis betrifft, kann man aus den alten Handschriften (auch wenn sie nicht vom Komponisten, sondern “nur” von bezahlten Kopisten stammen) sehr viel lernen. Von daher fände ich es begrüßenswert, wenn es noch viel mehr (im Idealfall: von allen Werken) Faksimiles gäbe.

  2. Sehr spannend, die “wilde” Geschichte rund um das Original zu Schuberts Violinsonate lese ich hier zum ersten Mal! Ich kenne Ähnliches aus eigener Erfahrung als Komponist… ;-) Gerade wenn es um interpretatorische Feinheiten und Aufführungen im Sinne einer historischen Aufführungspraxis geht, ist der Blick in eine Faksimile-Ausgabe oder in ein archiviertes Manuskript von großer Wichtigkeit. Je älter die Werke sind, desto mehr echte Erkenntnisse lassen sich hier gewinnen. In diesem Sinne: Gerne mehr davon!

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