Tobias Glöckler

To­bi­as Glöck­ler

Mit dem Dresd­ner Bas­sis­ten To­bi­as Glöck­ler kam der Kon­tra­bass vor ei­ni­gen Jah­ren ins Pro­gramm des Henle Ver­lags. Zu­nächst mal ganz klas­sisch mit den Kon­zer­ten von Hoff­meis­ter und Dit­ters­dorf, aber bald ge­sell­ten sich dazu auch etwas exo­ti­sche­re Titel wie die Zwölf Wal­zer von Dra­go­net­ti für Kon­tra­bass solo oder der be­rühm­te Ele­fant aus Saint-Saëns’ Kar­ne­val der Tiere. Das jüngst er­schie­ne­ne „Fa­mous Solo” von Do­me­ni­co Dra­go­net­ti stellt in der Fas­sung für Kon­tra­bass und Streich­quar­tett nun gar eine Erst­aus­ga­be eines Kon­tra­bass­werks in un­se­rem Ver­lags­pro­gramm dar. Lesen Sie hier, wie es dazu kam…

An­net­te Op­per­mann (AO): Lie­ber Herr Glöck­ler, wie sind wir ei­gent­lich zu die­sem „Fa­mous Solo” ge­kom­men?

Domenico Dragonetti (1763–1846), Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD

Do­me­ni­co Dra­go­net­ti (1763–1846), Quel­le: Wi­ki­me­dia.org, Li­zenz: PD

To­bi­as Glöck­ler (TG): Nach der er­folg­rei­chen Aus­ga­be der Dra­go­net­ti-Wal­zer für Kon­tra­bass solo (HN 847) frag­te der Pro­gramm­lei­ter des Henle Ver­lags Herr Dr. Gertsch an, ob ich nicht Lust hätte, auch mal ein Werk Dra­go­net­tis für Kon­tra­bass und Kla­vier her­aus­zu­ge­ben. Kurze Zeit spä­ter, wäh­rend eines Eng­land-Ur­laubs zweig­te ich einen Tag für den Hand­schrif­ten-Le­se­saal der Bri­tish Li­bra­ry in Lon­don ab und sich­te­te dort den um­fang­rei­chen Nach­lass Dra­go­net­tis. Dabei kris­tal­li­sier­te sich sehr bald das „Fa­mous Solo” als mu­si­ka­lisch loh­nens­wert her­aus. Bei der Ar­beit an der Her­aus­ga­be stell­te sich dann die ge­ra­de­zu über­bor­den­de Quel­len­la­ge – pa­ra­do­xer­wei­se – als Pro­blem her­aus: Das Werk scheint Dra­go­net­tis ab­so­lu­tes „Pa­ra­de­stück“ ge­we­sen zu sein; es ist in 13 (!) ver­schie­de­nen Quel­len für di­ver­se Be­set­zun­gen und in un­ter­schied­li­chen Werk­sta­di­en über­lie­fert. Nun muss­te zu­erst ein­mal die ent­schei­den­de Frage nach der „Fas­sung letz­ter Hand“ ge­klärt wer­den. Dabei stell­te sich her­aus, dass dies mit höchs­ter Wahr­schein­lich­keit eine au­to­gra­phe Fas­sung für Kon­tra­bass und Streich­quar­tett ist. Ob­wohl ich da­nach in Lon­don gar nicht ge­sucht hatte, fand ich diese Be­set­zung bald sehr reiz­voll. Dra­go­net­ti setzt das Be­gleit­quar­tett im „Fa­mous Solo” durch­aus dif­fe­ren­ziert ein, von stre­cken­wei­se äu­ßerst spar­sa­mer Be­glei­tung des Kon­tra­bas­ses mit nur zwei Vio­li­nen im 1. Satz…

… bis hin zu fast or­ches­tra­ler Wir­kung in ei­ni­gen Ron­do-Ab­schnit­ten im vir­tuo­sen 2. Satz, wie man in un­se­rem Live-Mit­schnitt auf YouTube hören kann:

Gleich­zei­tig fan­den sich aber auch meh­re­re zeit­ge­nös­si­sche Kla­vier­aus­zü­ge, die be­le­gen, dass Dra­go­net­ti selbst das „Fa­mous Solo“ nicht nur mit Or­ches­ter- und kam­mer­mu­si­ka­li­scher Be­glei­tung, son­dern auch mit Kla­vier ge­spielt hat. Glück­li­cher­wei­se war der Ver­lag so­fort be­reit, beide Fas­sun­gen in die Edi­ti­on auf­zu­neh­men. Somit wird auch dem heu­ti­gen Kon­tra­bas­sis­ten die his­to­risch ver­bürg­te Fle­xi­bi­li­tät Dra­go­net­tis bei der Be­set­zung er­mög­licht.

AO: Worin be­steht für einen ak­ti­ven Mu­si­ker wie Sie ei­gent­lich der Reiz, Ur­text-Aus­ga­ben her­aus­zu­ge­ben? Wür­den sie viel­leicht lie­ber auch mal an­de­re Aus­ga­ben ma­chen, die Ihnen mehr Frei­heit zur Be­ar­bei­tung lie­ßen?

TG: An­ders als man viel­leicht ver­mu­ten könn­te, emp­fin­de ich als Mu­si­ker die Vor­be­rei­tung einer Ur­text-Aus­ga­be kei­nes­falls als Ein­schrän­kung, son­dern viel­mehr als wohl­tu­en­de Kon­zen­tra­ti­on auf das We­sent­li­che und als Hin­ter­fra­gen bis­he­ri­ger (auch ei­ge­ner) Auf­füh­rungs­kon­ven­tio­nen. Gleich­zei­tig hat man als Her­aus­ge­ber bei­spiels­wei­se in den Ka­den­zen (für die so­ge­nann­te be­zeich­ne­ten Stim­me in der Aus­ga­be) sehr viel Frei­heit und Raum für ei­ge­ne Krea­ti­vi­tät. Auch beim „Fa­mous Solo“ wurde na­tür­lich jede Wie­der­kehr des Ron­do-The­mas im Al­le­gret­to mit einer im­pro­vi­sier­ten Mi­ni-Ka­denz, einem so­ge­nann­ten „Ein­gang“, ver­se­hen, der bei Dra­go­net­ti nur mit einer Fer­ma­te an­ge­deu­tet ist. Für die Edi­ti­on habe ich ver­sucht, in der ge­bo­te­nen Kürze Ein­gän­ge im Stil des Werks, aber mit un­ter­schied­li­chem Cha­rak­ter zu schrei­ben:

Hin­sicht­lich Ihrer Frage nach „an­de­ren“ Aus­ga­ben wür­den mich in der Tat ein­zel­ne Werke rei­zen, vor allem sol­che, die nicht ori­gi­nal für Kon­tra­bass ge­schrie­ben wur­den. Al­ler­dings stehe ich Tran­skrip­tio­nen eher kri­tisch ge­gen­über, so dass nur Stü­cke in Frage kom­men, die für heute kaum noch ge­bräuch­li­che In­stru­men­te kom­po­niert wur­den. Dabei ste­hen für mich Bachs 2. Gam­ben­so­na­te BWV 1028 und Schu­berts „Ar­peg­gio­ne“-So­na­te ganz oben auf der Wunsch­lis­te. Beide Werke ge­hö­ren längst zum Stan­dard-Re­per­toire der Kon­tra­bas­sis­ten, ohne dass es dafür wirk­lich quel­len­kri­ti­sche Aus­ga­ben für den in­ter­es­sier­ten Mu­si­ker gibt. Von bei­den Wer­ken sind üb­ri­gens im Henle Ver­lag schon her­vor­ra­gen­de Aus­ga­ben er­schie­nen. In­ter­es­san­ter­wei­se nicht nur für Cello, son­dern auch für die eine Ok­ta­ve höher klin­gen­de Brat­sche. Warum soll­te da nicht auch eine Ok­ta­ve tie­fer für den Kon­tra­bass mög­lich sein…?

AO: Ja, damit sind wir bei der schwie­ri­gen Frage, wie­viel Be­ar­bei­tung in einem Ur­text-Ver­lag er­laubt ist (der üb­ri­gens auch schon in einem Blog-Bei­trag nach­ge­gan­gen wurde…). Aber keh­ren wir noch­mal zum Ein­fluss des Prak­ti­kers Glöck­ler auf die Ge­stal­tung einer Ur­text-Aus­ga­be zu­rück. Da gibt es ja nicht nur die bei uns üb­li­che be­zeich­ne­te Stim­me, für die Sie neben Fin­gersatz und Strich­be­zeich­nung auch Ka­den­zen und Ein­gän­ge fi­xie­ren, son­dern auch die kon­tra­bass­spe­zi­fi­sche Frage der „Stim­mun­gen“ spielt eine große Rolle.

Orchester- und Solostimmung

Or­ches­ter- und So­lo­stim­mung

TG: Hin­ter­grund die­ses für Au­ßen­ste­hen­de oft­mals etwas ver­wir­ren­den The­mas ist die von Gio­van­ni Bot­te­s­i­ni im 19. Jahr­hun­dert ein­ge­führ­te „So­lo­stim­mung“, bei der der Kon­tra­bass um einen Ganz­ton höher ein­ge­stimmt wird, um hel­ler und durch­set­zungs­fä­hi­ger zu klin­gen. Prak­tisch sieht das so aus, dass der Bas­sist bei­spiels­wei­se in D-dur spielt und greift, das In­stru­ment aber durch die So­lo­stim­mung in E-dur er­klingt. Damit muss dann die Be­glei­tung na­tür­lich auch in E-Dur ste­hen. Dies er­klärt auch, warum ich mir im Fall der er­wähn­ten So­na­ten von Bach bzw. Schu­bert nicht ein­fach die Cel­lo-Aus­ga­be aufs Pult legen kann.

In der Pra­xis hat sich die So­lo­stim­mung im so­lis­ti­schen Be­reich, bei Pro­be­spie­len, Wett­be­wer­ben und an den Hoch­schu­len, zu­min­dest in Eu­ro­pa weit­ge­hend durch­ge­setzt. In den an­glo­ame­ri­ka­ni­schen Län­dern nutzt man häu­fi­ger die „nor­ma­le“ Or­ches­ter­stim­mung.

AO: Und des­we­gen bie­ten wir eben auch die Be­gleit­stim­men zum „Fa­mous Solo“ nicht nur in der no­tier­ten Ton­art e-moll/G-dur, son­dern auch (für die So­lo­stim­mung) einen Ton höher trans­po­niert in fis-moll/A-dur an. Aber bei den Kon­zer­ten von Hoff­meis­ter und Dit­ters­dorf kommt noch etwas hinzu:

TG: Ja, als ob dies nicht schon Her­aus­for­de­rung genug wäre, gibt es auch noch die his­to­ri­sche „Wie­ner Stim­mung“, für die alle so­lis­ti­schen Werke der Wie­ner Klas­sik ge­schrie­ben wur­den. Wiener StimmungEs ist wirk­lich eine tolle Er­fah­rung, alt­be­kann­te Kon­zer­te wie Dit­ters­dorf oder Hoff­meis­ter ein­mal in die­ser wun­der­bar klang­vol­len (und griff­güns­ti­gen!) Stim­mung aus­zu­pro­bie­ren. In den Hen­le-Aus­ga­ben der bei­den Kon­zer­te haben wir ver­sucht, mit einer prak­ti­schen Griff­no­ta­ti­on für die Wie­ner Stim­mung die „Hemm­schwel­le“ zu sen­ken und Lust auf die alte Stim­mung zu we­cken. Selbst­ver­ständ­lich sind na­tür­lich auch die „nor­ma­len“ Kon­tra­bass-Stim­men für Solo- bzw. Or­ches­ter­stim­mung in der Aus­ga­be ent­hal­ten.

AO: Apro­pos Griff­no­ta­ti­on: An wen den­ken Sie bei der Be­zeich­nung einer Stim­me?

TG: Fin­gersatz-An­ga­ben sind ge­ra­de auf dem Kon­tra­bass durch die Viel­zahl der Lagen ein schwie­ri­ges Thema. Ich selbst habe mich schon oft über die fal­schen Zah­len an der fal­schen Stel­le ge­är­gert. Des­halb setze ich in der be­zeich­ne­ten Stim­me Fin­ger­sät­ze nur sehr spar­sam und wenn, dann in Rich­tung für „jede Hand“. Durch meine Stu­den­ten an der Hoch­schu­le habe ich hof­fent­lich ein ganz gutes Ge­spür dafür ent­wi­ckelt… Glei­ches gilt für Strich­be­zeich­nun­gen: Durch den – im Ver­hält­nis zur Sai­ten­län­ge – kur­zen Bogen gibt es beim Kon­tra­bass sel­te­ner den „idea­len“ Strich­vor­schlag, son­dern jeder Mu­si­ker hat hier seine ei­ge­nen Er­fah­run­gen. Ent­spre­chend zu­rück­hal­tend bin ich bei die­sem Thema.

AO: Worin un­ter­schei­det sich ei­gent­lich der Mu­si­ker Glöck­ler vom Her­aus­ge­ber?

TG: Ein wei­tes Feld… Ganz prin­zi­pi­ell ver­su­che ich als Mu­si­ker bei jedem Werk erst ein­mal zu er­grün­den, was der Kom­po­nist damit aus­drü­cken woll­te. Dafür brau­che ich zu­nächst einen un­ver­fälsch­ten No­ten­text, frei von gut­ge­mein­ten Her­aus­ge­ber-Zu­sät­zen, Ver­än­de­run­gen etc. (be­son­ders die „alte“ Dit­ters­dorf-Aus­ga­be ist voll davon!) – sprich: eine Ur­text-Aus­ga­be. Auf die­ser Grund­la­ge er­ar­bei­te ich meine In­ter­pre­ta­ti­on, die durch­aus auch mal in Dy­na­mik, Ar­ti­ku­la­ti­on etc. vom Ur­text ab­wei­chen kann, so­lan­ge ich gute Grün­de dafür habe.

So spie­le ich z. B. im Al­le­gret­to des „Fa­mous Solo“ das Ron­do-The­ma beim letz­ten Mal als bur­schi­ko­se Stret­ta, brin­ge das Schluss-for­te an­dert­halb Takte eher und im Stac­ca­to – nichts davon steht im Au­to­graph!

Auschnitt der autographen Kontrabass-Stimme (Quelle: GB-Lbl: Add. Ms. 17832-4)

Aus­ch­nitt der au­to­gra­phen Kon­tra­bass-Stim­me (Quel­le: GB-Lbl: Add. Ms. 17832-4)

Ich bin si­cher, dass auch Dra­go­net­ti hier in ir­gend­ei­ner Form den Bei­fall des Pu­bli­kums be­son­ders her­aus­ge­kit­zelt hat, nur muss­te er dies für sich selbst na­tür­lich nicht in die Noten schrei­ben. Diese Frei­heit und die Mög­lich­keit der in­di­vi­du­el­len Aus­deu­tung sind für mich ge­ra­de das Groß­ar­ti­ge an der Musik.

Im Kon­trast dazu ar­bei­te ich als Her­aus­ge­ber mög­lichst ob­jek­tiv, mit wis­sen­schaft­li­cher Akri­bie (und na­tür­lich immer mit dem Wis­sen um die spiel­prak­ti­schen Aus­wir­kun­gen von edi­to­ri­schen Ent­schei­dun­gen). Soll­te dabei doch ein­mal der Mu­si­ker Glöck­ler die Ober­hand ge­win­nen, gibt es ja noch das un­be­stech­li­che Hen­le-Lek­to­rat…

AO: Hät­ten Sie in un­se­ren klas­si­schen Ur­text-Aus­ga­ben gerne auch ein zu­sätz­li­ches Fea­ture, eine an­de­re Aus­stat­tung?

TG: Das Kon­zept der klas­si­schen Ur­text-Aus­ga­be halte ich für ab­so­lut stim­mig. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir bei ei­ni­gen Aus­ga­ben viel­leicht noch eine Seite mit Ab­bil­dun­gen aus der Quel­le wün­schen. Die Hand­schrift und der Duk­tus eines Mu­sik-Au­to­graphs of­fen­ba­ren schon etwas vom Cha­rak­ter des Werks und ver­mit­teln auch dem eher prak­tisch ori­en­tier­ten Mu­si­ker etwas von dem Spe­zi­fi­schen, was einen Ur­text aus­macht.

AO: Lie­ber Herr Glöck­ler, wir dan­ken Ihnen für die­ses In­ter­view – und laden alle Leser hier­mit ein, sich in das Ge­spräch über Ur­text-Aus­ga­ben für Kon­tra­bass ein­zu­klin­ken.

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