Franz Schubert (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Franz Schubert(Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD)

Wer sich mit Autographen Schuberts beschäftigt, stößt über kurz oder lang unweigerlich auf die berühmte Akzent-Frage, genauer gesagt: auf die Frage, ob an dieser oder jener Stelle mit dem notierten Zeichen ein Akzent oder eine Decrescendogabel gemeint ist. Während der moderne Notensatz beide Zeichen sehr deutlich voneinander trennt – der Akzent wird direkt zum Notenkopf gesetzt, die Gabel unter oder über das System –, sind sie entstehungsgeschichtlich eng verwandt. Als im auslaufenden 18. Jahrhundert die Schwellzeichen (Crescendo- und Decrescendogabel) als Alternative oder als Ersatz für die ausgeschriebenen Anweisungen crescendo und decrescendo aufkamen, entwickelte sich das Zeichen > als verkürzte Decrescendogabel. Der Zusammenhang wird etwa in Liedern Beethovens anschaulich.

 

Abb 1: Beethoven, „An die ferne Geliebte“ op. 98, T. 328.

Abb 1: Beethoven, „An die ferne Geliebte“ op. 98, T. 328.

Das erste Beispiel zeigt einen Akzent für das Wort „Herz“, der eigentlich eine extrem verkürzte Decrecendogabel zur nächsten Note darstellt, wie sich an der parallelen Gabel im Klavier ablesen lässt:

 

An anderer Stelle handelt es sich eindeutig um einen Akzent im modernen Sinne, wobei Beethoven für die Singstimme die Zeichen >, für das Klavier aber die typischen sfp notiert:

Abb 2: Beethoven, „An die Geliebte“ WoO 140 (2. Fassung), T. 22.

Abb 2: Beethoven, „An die Geliebte“ WoO 140 (2. Fassung), T. 22.

Während sich beide Zeichen im Allgemeinen deutlich voneinander unterscheiden lassen, bringt die spezifische Notationsweise Schuberts Probleme mit sich. Auch er benutzt zur Wiedergabe von Betonungen die Abkürzungen sf, fz, ffz, sfp oder fp, jedoch in zunehmendem Maße auch das Akzent-Zeichen >. Der Gebrauch von Kürzeln und Zeichen ist meist synonym; Kombinationen wirken verstärkend (z. B. fp mit >) oder auch redundant (fz mit >). Anders als Beethoven, Mendelssohn oder Schumann setzt Schubert > jedoch nicht konsequent zum Notenkopf oder über die Note, sondern, je nach verfügbarem Platz, unter oder über die Notenzeile, was die Unterscheidung zu den Schwellgabeln, mit denen er genauso verfährt, sehr erschwert.

 

HN-9562Die in Kürze beim Henle-Verlag erscheinende Neuausgabe des berühmten Oktetts D 803 von 1824 (HN 9562; HN 562) bietet die Gelegenheit, dieses alte Thema sozusagen mit neuen Variationen anzuspielen, denn im Oktett finden sich Betonungs- und Dynamikzeichen in geradezu verschwenderischer Fülle. Das heute in der Wienbibliothek (ehemals Stadt- und Landesbibliothek in Wien) aufbewahrte Autograph, dem die nachfolgenden Beispiele entnommen sind, lässt sich vollständig online einsehen. Zur leichteren Orientierung: Schubert notiert die Instrumente in der Reihenfolge hohe Streicher – Bläser – tiefe Streicher, also: 1. Violine I, 2. Violine II, 3. Viola, 4. Klarinette, 5. Fagott, 6. Horn, 7. Violoncello und 8. Kontrabass.

Im Idealfall unterscheidet sich der Akzent bei Schubert sowohl durch seine Länge als auch durch seine Ausrichtung von der Decrescendogabel. Akzente sind kürzer und sind nach oben gerichtet, wie Pfeile, deren Spitzen auf die Noten oder Notenköpfe gerichtet sind. Sehr schön lässt sich dies im ersten Beispiel in der Klarinettenstimme (4. Zeile) beobachten, wo Akzente (T. 16) und Decrescendogabel (T. 17) aufeinander folgen. Dass in Takt 17 eine Decrescendogabel gemeint ist, geht überdies auch aus der identischen Notierung des Zeichens im Horn (6. Zeile) hervor, wo eine entsprechende Crescendogabel vorangeht:

Abb 3: Schubert, „Oktett“ D 803, 1. Satz, T. 15–17.

Abb 3: Schubert, „Oktett“ D 803, 1. Satz, T. 15–17.

Abb 4: Schubert, „Oktett“ D 803, 1. Satz, T. 32–33.

Abb 4: Schubert, „Oktett“ D 803, 1. Satz, T. 32–33.

Leider aber gestalten sich nicht alle Stellen so eindeutig, insbesondere kommen die beiden formalen Kriterien der Zuordnung – Länge und Ausrichtung – nicht überall zum Tragen. Nur zwei Seiten weiter im Autograph finden wir in Violine I (Zeile 1, T. 33) und Klarinette (Zeile 4, T. 33) ein Zeichen, das nach Länge und Ausrichtung ein Decrescendo sein müsste (siehe auch den Unterschied zu den Akzenten T. 32). Der Kontext lässt jedoch an dieser Interpretation zweifeln. Zwischen den Akzenten T. 32 notierte Schubert für die Violine I ein cresc., d. h. das p zu Beginn ist ein „subito p“, zu dem der Akzent wesentlich besser passt als ein anschließendes Decrescendo. Das notierte p entspricht also dem fp in der Klarinettenstimme im selben Takt – und die Kombination von fp und > begegnet sehr häufig bei Schubert. Insofern spricht einiges dafür, hier in der Edition Akzente zu setzen – aber ganz eindeutig ist die Stelle keineswegs.

 

Abb. 5: Schubert, „Oktett“ D 803, 3. Satz, T. 191–193.

Abb. 5: Schubert, „Oktett“ D 803, 3. Satz, T. 191–193.

Noch ein letztes Beispiel, diesmal das Ende des 3. Satzes betreffend. Ausgehend von pp treffen wir auf eine cresc.-Anweisung Takt 191/192, die zu p in Takt 194/195 führt. Die Zunahme der Dynamik ist dann durch Crescendo- und Decrescendo-Gabeln in den Takten 192/193 nochmals differenziert. Das heißt innerhalb eines dynamischen Anstiegs gibt es einen kurzzeitigen Abstieg (was sich an späterer Stelle wiederholt). Notiert sind cresc. und Gabeln nur für Violine 1 (1. Zeile), Klarinette (4. Zeile) und Violoncello (7. Zeile), sollen aber natürlich für alle Instrumente gelten. Irritierend wirkt nun aber das isolierte Zeichen für das Horn (6. Zeile) in Takt 193, das nach Länge und Ausrichtung als Akzent zu gelten hätte. Sollte Schubert aus klanglichen Gründen hier dem Horn einen zusätzlichen Akzent verliehen haben? Nicht ganz auszuschließen, aber aus dem gesamten Kontext heraus – Violine und Horn werden ja parallel geführt – spricht doch mehr dafür, dass es sich um ein Versehen handelt.

 

In der Edition ist daher die Stelle wie folgt wiedergegeben:

Abb. 6: Schubert, „Oktett“ D 803, 3. Satz, T. 190–198.

Abb. 6: Schubert, „Oktett“ D 803, 3. Satz, T. 190–198.

Die wenigen Beispiele zeigen, dass Länge und Ausrichtung allein für die Deutung des Zeichens > untauglich sind, aber leider auch der musikalische Kontext nicht immer zur gewünschten Eindeutigkeit führt.

Anregungen von Ihrer Seite zu diesem alten Thema sind daher sehr willkommen!

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Eine Antwort auf »Die Akzent-Frage bei Schubert. Ein altes Thema mit neuen Variationen«

  1. Peter Jost sagt:

    Prof. Dr. Peter Thalheimer machte mich freundlicherweise auf seinen kürzlich erschienenen Beitrag “Wechselwirkungen zwischen Dynamik, Vibrato, Agogik und Espressivo, betrachtet an Beispielen aus der Flötenmusik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts” (in “Tibia”, Heft 3/2014, S. 162 ff.) aufmerksam, der für Dynamikgabeln und Akzente bei Schubert (und seinen Zeitgenossen) vor dem Hintergrund musiktheoretischer Äußerungen der Zeit agogische Tendenzen ins Spiel bringt.
    Besten Dank für diesen Hinweis.

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