Am 1. November 2014 erscheint im G. Henle Verlag ein knapp 2.000 Seiten starkes, zweibändiges Buch – für unser Haus, in dem fast ausschließlich Notenausgaben veröffentlicht werden, ein rares und daher besonderes Ereignis. Es handelt sich um ein neues Verzeichnis der Werke Ludwig van Beethovens, das den als „Kinsky-Halm“ bekannten Vorgänger von 1955, immerhin auch schon etwa 900 Seiten stark, ablöst.
Werkverzeichnisse aus dem Hause G. Henle – wir haben sie neben Beethoven für Brahms, Schumann und Reger veröffentlicht, und in wenigen Jahren wird auch eines zu Bartók dazu stoßen – sollen Diener vieler Herren sein. An sie richten sich Musiker, wenn sie zum Beispiel etwas über die Entstehungsgeschichte von Kompositionen erfahren wollen. Aus gleichem Grund liest auch ein Journalist in ihnen, aber auch, um sich etwa über den Widmungsträger eines Werkes zu erkundigen. Musikwissenschaftler informieren sich zu überlieferten musikalischen Quellen – Handschriften und Drucken –, die besonders die Editoren von wissenschaftlichen Notenausgaben interessieren. Antiquare ermitteln mit Hilfe der Werkverzeichnisse regelmäßig die Bedeutung und damit den Wert eines Druckes, den sie verkaufen oder versteigern wollen, und Bibliothekare schließlich wollen unter anderem wissen, ob eine Ausgabe oder eine Handschrift aus einem zu katalogisierenden Nachlass so kostbar ist, dass sie in den Tresor und nicht ins Magazinregal gehört.
Immer wieder wurden in den vielen Jahren der Vorbereitung des neuen Beethoven Werkverzeichnisses die Herausgeber (Kurt Dorfmüller, Norbert Gertsch und Julia Ronge) dieses Grundlagenwerks gefragt, ob sich denn bei einem „so gut erforschten“ Komponisten überhaupt nach 1955 der Aufwand lohnte, ein neues Verzeichnis zu erarbeiten. Ist nicht zu Beethoven schon alles gesagt? An drei Beispielen möchte ich daher im Folgenden zeigen, dass es der Mühe wert war:
(1) Sie kennen die zwei Klaviertrios op. 70, besonders das wundervolle „Geistertrio“ op. 70 Nr. 1, das seinen Namen dem mysteriösen „Largo assai e espressivo“-Mittelsatz verdankt?
(Ganz nebenbei: Hätten Sie die Opuszahl des „Geistertrios“ nicht gewusst und im alten Werkverzeichnis von 1955 nach diesem Werk gesucht, hätte Sie das Finden einige Mühe gekostet. Denn dort wird der Populärtitel des Trios an keiner Stelle genannt, geschweige denn erläutert. Im neuen Verzeichnis schlagen Sie das Register der Populärtitel auf und werden fündig. Und die Erklärung des Titels findet sich dann im Eintrag zu Op. 70. Aber das wirklich nur en passant.)
Interessiert man sich für die überlieferten handschriftlichen musikalischen Quellen zum „Geistertrio“, findet man im 1955er Werkverzeichnis von Kinsky-Halm ein paar ernüchternde Hinweise: Der Besitzer von Beethovens eigener Werkniederschrift war damals nicht zu ermitteln. Dieses Autograph war 1950 in New York verkauft worden und stand der Forschung nicht mehr zur Verfügung. Der Fundort einer weiteren wichtigen Quelle, einer vom Komponisten Korrektur gelesenen, sogenannten überprüften Abschrift der Klavierstimme, die noch im 19. Jahrhundert nachweisbar war, konnte ebenfalls nicht mehr genannt werden, er war unbekannt.
Die Legende der obigen Abbildung verrät es schon: Der Fundort des Autographs ist heute bekannt und die Quelle ist sogar vollständig digitalisiert im Internet aufrufbar. Das Manuskript war 1950 an Mary Flagler Cary verkauft und 1968 von der Morgan Library in New York erworben worden. Auch die überprüfte Abschrift der Klavierstimme ist wieder aufgetaucht. Sie findet sich heute im Beethoven-Haus in Bonn und kann ebenfalls online vollständig eingesehen werden. Man erwarb sie dort 1991, nachdem sie über Pressburg, Budapest und München ihren Weg zum Tutzinger Antiquar Hans Schneider gefunden hatte. All dies ist dem Spezialisten, der sich selbst auf die Suche nach den Quellen gemacht hat, heute natürlich bekannt, ebenso wie die Tatsache, dass sich im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien auch eine überprüfte Abschrift aller Stimmen zum Trio op. 70 Nr. 2 findet, das dem Werkverzeichnis des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zu demjenigen von 2014 gar nicht bekannt war. Der Leser des letztgenannten braucht nun allerdings nicht weiter nach Informationen zu suchen.
(2) Neben der Aufarbeitung des Bestandes an handschriftlichen Quellen widmet sich das neue Werkverzeichnis auch den Neubewertungen von frühen Drucken zu Beethovens Kompositionen. Vom berühmten 5. Klavierkonzert in Es-dur, op. 73, nahm man 1955 an, dass es im Februar 1811 zuerst bei Breitkopf & Härtel in Leipzig im Druck erschienen sei. Für Sammler, aber auch für quellentreue Musiker und Editoren, hat diese Ausgabe (in Stimmen) also einen sehr großen Wert, viel höher als ein beliebiger Nachdruck, wie etwa die im alten „Kinsky-Halm“ als solcher eingestufte Ausgabe, die nur eine Zeile im Verzeichnis wert war: „Nachdruck: London, Clementi & Co. (1811?, als Op. 64).“
Heute wissen wir und das Werkverzeichnis von 2014 stellt es dar, dass dieser „Nachdruck“ die eigentliche „Erstausgabe“ des Klavierkonzerts war. Sie erschien nachweislich bereits im November 1810, also vier Monate vor der Ausgabe bei Breitkopf, und sie ist ein von Beethoven selbst in die Wege geleiteter, autorisierter Druck – eine Originalausgabe.
(3) Während das neue Werkverzeichnis vor allem den aktuellen Stand der Beethoven-Forschung zusammenträgt, so konnte doch auch darüber hinaus Neues kundgetan werden. Unter der Werknummer WoO 120 listet das Werkverzeichnis von 1955 das Lied „Man strebt, die Flamme zu verhehlen“ eines unbekannten Dichters, das Beethoven laut Aufschrift auf dem überlieferten Autograph für die Schauspielerin und Bühnendichterin Johanna Franul von Weißenthurn (1776–1847) komponiert hatte. Eine etwas intensivere Recherche in Weißenthurns Œuvre brachte nun zutage, dass die Empfängerin des Autographs auch die Dichterin des Liedtextes ist. In Ihrem Lustspiel „Das Nachspiel“ singt die Protagonistin Leonore (!), sich selbst am Klavier begleitend, das Lied, das Beethoven vermutlich für die Premiere des Schauspiels im Jahr 1800 am Burgtheater in Wien komponierte. Damit war nicht nur die Frage nach der Textvorlage geklärt, im neuen Werkverzeichnis konnte auch die bisher vermutete Entstehungszeit „um 1795“ auf „wohl 1800“ korrigiert werden.
An diesen wenigen Beispielen zeichnet sich hoffentlich bereits ab, warum sich nach fast 60 Jahren die Erarbeitung eines neuen Verzeichnisses der Werke Beethovens lohnte. Sie wollen mehr wissen? Dann schauen Sie sich doch auf unserer Website die zahlreichen Leseproben an, die wir für Sie bereitgestellt haben.