Haben Sie sich auch schon manchmal im Konzert gewundert, mit was für merkwürdigen Notengebilden die Musiker die Bühne betreten? So mancher Pianist stellt große Pappen aufs Pult, auf denen vollständige Sätze einer Bach’schen Suite in verkleinerten Kopien zusammengeklebt sind. Auch bei Quartettabenden hängen gerne rechts und links vom Notenständer angeklebte Kopien herunter – ganz zu schweigen von Lieder-Recitals, bei denen sich auf dem Flügel ganze Berge von selbst angefertigten Faltblättern sammeln. Der Grund dafür liegt natürlich auf der Hand: Man kann oder will nicht dort blättern, wo die Notenseite endet. Aber als Lektorin für praktische Urtext-Ausgaben frage ich mich dann schon: Geht das nicht auch anders?
Die Fortschrittlichen sagen jetzt vielleicht: Ja, elektronisch – und wirklich wird ja seit Jahren an elektronischen Noten mit entsprechender Blättersoftware gearbeitet, bei der man die Seiten (zum Beispiel mit einem Fußpedal) „wendet“. Aber wirklich bühnenreif ist diese Technik noch nicht. Solange also Musiker noch mit Papier statt Tablet auftreten, ist uns die Lösung dieses Problems eine besondere Verpflichtung.
Und das ist der Grund, warum die Arbeit an einer praktischen Urtext-Ausgabe mit der Konstitution des wissenschaftlich fundierten Notentextes keineswegs abgeschlossen ist. Vielmehr sind die optimale Verteilung dieses Notentextes auf der Doppelseite, die Suche nach geeigneten Wendestellen für den Musiker und – falls solche fehlen – das Ausknobeln besonderer Lösungen ganz wesentliche und mitunter auch zeitintensive Aufgaben im Herstellungsprozess.
Schon die Entscheidung, ob der Kopfsatz einer Sonate auf einer rechten oder linken Seite beginnt, hat ja Auswirkungen bis ins Finale. Freilich ist das Risiko heute durch den modernen Computersatz etwas minimiert: Während beim Notenstich die einmal gestochene Seite nur noch mit großem Aufwand zu verändern war, kann man heute am Bildschirm verschiedene Möglichkeiten durchspielen. Im Idealfall endet mit einer rechten Seite natürlich auch der Satz oder die Geige hat in einer Duosonate mehrere Takte Pause, während das Klavier spielt. Geht dies nicht auf, so kann man sich mitunter durch Einfügen einer Leerseite behelfen, um die Blätterstelle nach vorne zu verschieben oder den nachfolgenden Satz besser aufzuteilen – worauf wir mit dem Hinweis „Diese Seite bleibt unbedruckt, um gutes Blättern zu ermöglichen“ aufmerksam machen.
Aber was macht man, wenn das Soloinstrument einfach keine Pause hat, die zum Wenden reicht? Dann hilft meist nur eins: die Klapptafel, mit der man die Doppelseite um eine Seite erweitert und die nach Bedarf ein- und ausgeklappt werden kann. So fand sich auch in unserer Neuausgabe der 1. Violinsonate von Saint-Saëns eine überzeugende Lösung für das abschließende Allegro molto. Die Erstausgabe hatte dem Geiger in diesem von Sechzehntelskalen durchzogenen Satz gnadenlos abverlangt, während ein oder zwei Viertelpausen (bei einem Tempo von Viertel = 168 kaum ein Wimpernschlag!) zu wenden. In unserer Neuausgabe wird der spielerische Elan dank einer Klapptafel durch nichts mehr gebremst.
Auch Schuberts großem G-dur-Quartett ist nur mit einer Klapptafel beizukommen, wobei hier durchaus Pausen vorkommen – diese aber an dynamisch so delikaten Stellen auftreten, dass ein Blättern ebenfalls nicht wirklich passt. Und bei den Solosuiten oder -sonaten eines Johann Sebastian Bach, Max Reger oder Eugen Ysaÿe sind Klapptafeln geradezu unerlässlich, damit man diese hochkomplexe Musik auch im Konzert nach unseren Ausgaben spielen kann.
In solchen Fällen ist dann neben dem Notensetzer allerdings auch die Herstellung gefordert, denn die Einrichtung einer Ausgabe mit mehreren Klapptafeln auf einem 16 Seiten umfassenden Druckbogen gleicht schon fast einem Puzzlespiel. Bindung und Beschnitt bedeuten ebenfalls eine Herausforderung, denn die angehängte Seite muss ja schnell, leicht und lautlos aus- und einzuklappen sein – wofür es nicht nur das richtige Papier, sondern auch eine millimetergenaue Falzung braucht.
Diese durchaus aufwändige Herstellung ist auch einer der Gründe, weswegen die Klapptafel immer nur Ausnahme und nicht Regel sein kann. Ein anderer ist der schlichte Umstand, dass die Klapptafel das Blättern insgesamt erschwert: Zum einen muss der Arm einen weiten Weg zurücklegen, zum anderen müssen die Noten nachträglich justiert werden, damit sie nach dem Wenden wieder mittig auf dem Pult stehen. Die Klapptafel ist daher vorrangig zu Beginn oder am Ende eines Satzes zu finden.
Mitunter bieten sich auch andere Lösungen zur optimalen Präsentation des Notentextes an, z. B. in einem „Leporello“. Diese gefalteten Drei- oder Vierseiter sind besonders für Duoformationen geeignet, bei denen beide Stimmen musikalisch eng verzahnt sind. So bieten wir in Beethovens Flötenduo WoO 26 beiden Musikern eine Partitur und können zugleich unpraktische Wendestellen im Satz vermeiden.
Und jetzt fragen Sie sich vielleicht langsam: Wo bleiben denn die Pianisten? Schließlich ist Henle doch in erster Linie ein Klavierverlag! Die Antwort sitzt auf dem Podium: Pianisten sind es gewohnt, im Konzert jemanden zum Umblättern an ihrer Seite zu haben. Gleichwohl bemühen wir uns auch hier um möglichst gute Wendestellen – und ändern dafür mitunter auch ein jahrelang eingeführtes Layout wie letzthin bei unserer Revision der Brahms’schen Cellosonate in e-moll.
Das Allegretto quasi Menuetto nahm hier ursprünglich zweieinhalb Seiten ein und hatte in T. 15 und 76 auch durchaus passable Wendestellen. Aber: nach Beendigung des Trio-Teils musste man erst zwei Seiten zurückblättern zum Beginn des Dacapo und dann nach nur 15 Takten erneut wenden – was gerade im Konzert, wenn der Umblätterer dafür aufsteht, für Unruhe sorgt. Um dies zu vermeiden, haben wir diesen Satz in unsere gerade frisch nach dem Notentext der Johannes Brahms-Gesamtausgabe revidierten Ausgabe nun auf zwei Doppelseiten verteilt und hoffen, dass sich Pianisten, Umblätterer und Zuhörer daran erfreuen!
Auf diese Schwachstelle wurden wir übrigens durch einen Musiker aufmerksam gemacht. Haben Sie auch Verbesserungswünsche an unsere Ausgaben? Dann melden Sie sich – wir tun alles, damit auch in Zukunft mit unseren Noten alles klappt!