Welche Kompositionen verbindet man mit Gabriel Fauré? Sicher das Requiem und vermutlich die Pavane sowie die Orchestersuiten Pelléas et Mélisande und Masques et Bergamasques, auch einige Kammermusikwerke wie die erste Violinsonate A-dur op. 13, die Berceuse op. 16, die Élégie op. 24 oder die Sicilienne op. 78 – aber darüber hinaus? Es ist nicht übertrieben, von Fauré im Hinblick auf sein Gesamtschaffen mit immerhin rund 200 Werken als einem weitgehend unbekannten Komponisten zu sprechen, auch wenn jedem Klassik-Fan sein Name geläufig sein dürfte. Er gehört zu jener Gruppe von Autoren, die postum immer stärker in den Schatten von Zeitgenossen gerieten. Die neue französische Musik der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist so fest mit den Namen Claude Debussy und Maurice Ravel verbunden, dass dadurch der Blick auf einen der Wegbereiter dieser neuen Musik – und das war Fauré zweifellos – bis heute verstellt wird.
Nun waren die Neuerungen eines Debussy oder Ravel für die moderne Musik in Frankreich und darüber hinaus fraglos bedeutender als die eines Fauré, aber dessen „Schattendasein“ hat auch mit der Persönlichkeit dieses Komponisten sowie mit der Eigenart seiner Musik selbst zu tun. Seine ersten Erfolge hatte Fauré im intimen Rahmen von Salons, nicht im Konzertsaal, was ihm das für die Rezeption hinderliche Etikett des „Salonkomponisten“ einbrachte, von dem er sich erst nach 1900 lösen konnte. Und Fauré tat lange wenig, um seine Musik über enge Musikerkreise in Paris bekannt zu machen, verließ sich vielmehr auf das Engagement von Freunden und Bekannten.
Dabei ist seine Musik nicht weniger charakteristisch als die seiner berühmteren Zeitgenossen. Aber sie wird viel leichter übersehen, denn sie vermeidet alles Spektakuläre, alles Grelle oder Zugespitzte, ist vielmehr auf Ausgleich von Kontrasten bedacht und lebt vor allem von feinen Abstufungen und Schattierungen. Ein Skandal wie ihn 1907 die Uraufführung von Ravels Histoires naturelles – Vertonungen von skurrilen Tierfabeln gegen alle Regeln der französischen Prosodie – auslöste, wäre für Faurés Musik völlig undenkbar … Dabei verlässt sie schon früh vorgezeichnete Bahnen. Die erste Violinsonate A-dur op. 13 wirkte bei ihrer erfolgreichen Uraufführung 1877 wie eine längst überfällige Erneuerung der in Frankreich davor so vernachlässigten Kammermusik – ein Werk, das Publikum und Kritik gerade durch die Mischung von Bekanntem (Themenbildung in Anlehnungen an Beethoven und Schumann) und Unbekanntem (Klarheit und Eleganz in französischer Tradition, unerwartete Nuancierungen in Harmonik und Rhythmik) bezaubern konnte.
Der G. Henle-Verlag interessierte sich bereits in den 1990er-Jahren für mögliche Urtext-Ausgaben der Musik Faurés, aber die schon an anderer Stelle erwähnte verlängerte Schutzfrist für französische Komponisten (siehe Warten kann sich lohnen – Zu Maurice Ravels Klavierkonzert in G-dur) verlangte Geduld. Lediglich Thème et Variations op. 73 (HN 745), eines der wenigen bedeutenden Variationswerke für Klavier im Frankreich des 19. Jahrhunderts, konnte durch günstige Quellenlage bereits 2003 herausgegeben werden. Ab 2012 erschienen dann in fast regelmäßiger Folge die wichtigsten und populärsten Werke für Klavier- und Kammermusik, also der Gattungen, die neben dem Liedschaffen für Fauré maßgeblich waren, siehe Übersicht.
Gerade bei der Kammermusik tritt der stilistische Wandel, der Fauré von der Spätromantik der Frühwerke (1. Violinsonate, Klavierquartette) bis zum ausgedünnten, manchmal fast spröden Spätstil (Cellosonaten, Klaviertrio) führt, sehr deutlich hervor. Und doch herrscht in all diesen Werken ein ganz spezifischer, oft bezaubernder Ton vor, den Claude Debussy in einer Rezension von 1903 zum Anlass nahm, um halb bewundernd, halb spöttisch Fauré als „Maître des Charmes“, also als „Meister der (sinnlichen) Reize“ zu bezeichnen.
Einer dieser Reize liegt in der charakteristischen Harmonik Faurés, die in vielen Werken von modalen Einschlägen geprägt ist. Oder genauer gesagt: Die Melodie wird modal eingefärbt, was zu unerwarteten Modulationen führt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Beginn der Fantaisie op. 79 für Flöte und Klavier (HN 580), deren Melodie in der Grundtonart e-moll einsetzt. In Takt 4 wird das eigentlich zu erwartende fis2 (tonales e-moll) überraschend zu f2 alteriert (phrygisches e-moll) und der Zielton a2 mit d-moll harmonisiert.
Ein weiterer Reiz besteht in der spezifischen Rhythmik Faurés, die zu Synkopen neigt. Ein charakteristisches Beispiel bildet die Melodie der berühmten Berceuse op. 16 für Violine und Klavier (HN 1101) – ein einfacher Gedanke, der durch die Synkopen zu Beginn der jeweils geraden Takte der Melodie eine Prägnanz erhält, die sie sehr rasch populär machte:
Ist es schwierig, Faurés Musik zu edieren? Im Allgemeinen nicht, jedenfalls sind die Schwierigkeiten nicht größer als bei anderen Editionen französischer Komponisten der Zeit. Wie so oft geht es meist um Abweichungen zwischen Autograph und Erstausgabe bzw. (bei Kammermusik) zwischen Erstausgabe der Partitur und Erstausgabe der Stimmen. Faurés Handschrift ist normalerweise gut lesbar und durch sorgfältige Notierung von Details gekennzeichnet. Anders sieht es bei den Notierungsstufen davor aus, denn Skizzen und Entwürfe sind oft nur flüchtig und mitunter schwer lesbar aufgezeichnet. Ein gutes Beispiel dafür bietet das Autograph zur Violinsonate Nr. 1 A-dur op. 13 (HN 980). Während die ersten drei Sätze in Reinschrift mit nachträglichen Korrekturen in Bleistift aufgezeichnet sind, ist der Finalsatz nur als flüchtiger, unvollständiger Entwurf notiert, in dem Dynamik, Artikulation und Bogensetzung weitgehend fehlen, was seinen Quellenwert bedeutend mindert.
Die zahlreichen Abweichungen zwischen gedruckter Partitur und gedruckten Stimmen in Kammermusikwerken gehen in der Regel auf Versehen des Stechers, gelegentlich aber auch auf inkonsequente Eintragungen des Komponisten in den Korrekturfahnen zurück. In der Cellosonate Nr. 1 d-moll op. 109 (HN 1357) findet sich beispielsweise im Mittelsatz, Takt 89 der separaten Cellostimme, in der Erstausgabe die Vortragsangabe largement, die jedoch in der Partitur fehlt. Da zu diesem Satz kein Autograph erhalten ist, stellt sich die Frage, ob es sich in der Cellostimme um ein Versehen oder um einen Eintrag von fremder Hand handelt oder ob die Anweisung in der Partitur einfach nur vergessen wurde. Nun hat sich ein komplettes Set der ersten Fahnenkorrektur (Partitur und Cellostimme) für dieses Werk erhalten, und es ist deutlich erkennbar, dass Fauré largement in die Fahne der Stimme eintrug, aber es unterließ, den vermutlich gegenüber dem Autograph neuen Zusatz in die Fahne der Partitur zu übertragen:
Das letzte Fauré-Jubiläum 1995 führte zu einer zwar begrenzten, aber doch spürbaren Renaissance seiner Werke im Musikleben – zu wünschen wäre, dass sich dies 2024 wiederholen möge, denn der „Maître des Charmes“ hätte es verdient! Wer jetzt Lust auf Faurés Musik bekommen hat, dem sei das späte Klaviertrio mit dem ATOS Trio empfohlen: