Während meiner Assistenzzeit als Henlidin durfte ich im vergangenen Jahr im G. Henle Verlag die unterschiedlichsten Aufgaben übernehmen, Neues entdecken, kreativ sein, die schönsten Noten lesen, Feste feiern, viel lernen und eine eigene blaue Urtext-Edition herausgeben: HN 1260. Die Pavane pour une infante défunte ist eine kleine Komposition von Maurice Ravel, die er 1899 für Klavier geschrieben und später für Orchester umgearbeitet hat. Als schöne Ergänzung unseres Ravel-Repertoires und mit einer vermeintlich „einfachen“ Quellenlage sollte dieses Projekt für mich auch ein guter Einstieg in die Arbeit einer Herausgeberin sein, aber mit jedem Lesen der Quellen tauchten neue Fragen auf. Eine davon beschäftigt mich noch jetzt, nach Erscheinen der Ausgabe, denn auf sie habe ich keine endgültige Antwort gefunden: Ab welchem Tempo „stirbt“ Ravels Pavane?
Schon zu Lebzeiten Ravels fand die Pavane großen Anklang beim Publikum und sie wurde in zahlreichen Arrangements für unterschiedliche Besetzungen verkauft. Über den etwas merkwürdig anmutenden Titel der Komposition soll Ravel später gesagt haben, er habe ihn vor allem aus Freude an der Alliteration der Formulierung (infante défunte) gewählt. Zugleich räumte er aber ein, die Musik beschwöre „eine Pavane, die eine kleine Prinzessin einst am spanischen Hof hätte tanzen können“.
Aber, will man die Pavane nun so spielen, dass eine kleine Prinzessin dazu tanzen kann, muss man sich mit dem Tempo befassen, denn die Werk- und Editionsgeschichte liefert zu diesem Aspekt unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Angaben. In den Ausgaben der Klavierfassung bis 1913 lautet die Metronomangabe ♩ = 80. Ab der 5. Auflage (1913) ist diese Angabe jedoch zu ♩ = 54 geändert. Vermutlich besteht ein Zusammenhang mit der Orchesterfassung, deren 2. Auflage von 1912 das Tempo ebenfalls mit ♩ = 54 angibt. Unklar ist allerdings, ob diese Änderung auf Ravel zurückgeht, da er weder die Metronomangabe in seinem Handexemplar der Klavier-Erstausgabe von 1900 korrigierte noch im Autograph der Orchesterfassung irgendeine Tempoangabe notierte und es keinen Nachweis einer Mitwirkung des Komponisten an den späteren Auflagen der Klavierfassung gibt.
Charles Oulmont, der das Werk bei einer Soirée aufführte, berichtet in seinen Erinnerungen, Ravel habe sein offenbar zu langsames Tempo mit den sarkastischen Worten kommentiert: „Hören Sie mein Junge, denken Sie beim nächsten Mal daran, dass ich eine ,Pavane für eine verstorbene Infantin‘, keine ,verstorbene Pavane für eine Infantin‘ geschrieben habe“. Also: Ab welchem Tempo wird aus der „verstorbenen Infantin“ eine „verstorbene Pavane“? Die Tempospanne 54–80 bpm deckt einen großen Spielraum ab: Ist ♩ = 54 nicht schon jenseits der Grenze des zu langsamen Tempos und ♩ = 80 nicht doch zu schnell für einen feierlichen Schreittanz?
Ravels eigene Piano Roll-Einspielung, die er 1922 in London vornahm, ist bezüglich der Tempowahl insofern kaum hilfreich, als sein Grundtempo nicht konstant bleibt und dieses Grundtempo zudem nicht mehr exakt rekonstruierbar ist, so dass die Ergebnisse mehr als 10 bpm auseinander liegen (von ♩ = 58 bis 69 bei einer Spieldauer von 5’42” bis 4’52”). Ravels Einspielung kann also auch nur eine grobe Orientierung bieten.
Es gibt zurzeit keine endgültige Lösung zu der Frage, ab welchem Tempo die Pavane „stirbt“. Daher habe ich die Henle-Ausgabe so angelegt, dass jeder selbst entscheiden kann, wie schnell oder langsam er/sie spielt. Welches Tempo empfinden Sie als das richtige für diese Komposition?
So eine große Frage für meine erste Notenausgabe! Die Beschäftigung mit dieser und so vielen anderen Fragen und Projekten im letzten Jahr hat sich gelohnt, denn es ist ein schönes Gefühl, wenn man eine fertige Ausgabe in Händen hält, deren Notentext man selbst herausgegeben hat. Danke, liebe Henliden, für dieses schöne Gefühl und das schöne Jahr mit euch!
Dieser Artikel stammt von Alexandra Marx.
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Wenn ich dieses Stück bei mir zu Hause am Klavier spiele, empfinde ich Viertel = 54 als das richtige Tempo, in dem nach meiner Vorstellung der Charakter des Stückes am ehesten zur Geltung kommt. Möglich, dass mit einem anderen Instrument, in einer anderen Räumlichkeit das Tempo etwas anders gewählt werden muss, um den gleichen Eindruck zu erzielen. Metronomzahlen sind ja nie absolut zu nehmen. Aber Viertel = 80 erscheint mir viel zu schnell, es klingt fast lustig – für meine Begriffe unpassend als “Pavane pour une infante défunte”. Natürlich weiß ich nicht, ob das, was ich bei dem Stück empfinde, das Gleiche ist, was der Komponist empfunden hat, oder ob da nicht in erheblichem Maße auch Hörgewohnheiten mitspielen. Es ist immer schwierig ein Stück, das man, ehe man es selbst spielt, jahrzehntelang gehört hat und wunderschön gefunden hat, noch einmal objektiv anzugehen…
Liebe Frau Marx,
herzlichen Glückwunsch zur Edition und zum anregenden Artikel!
Offenbar gilt für Ravel (wie auch für Rachmaninow und andere Komponisten der Jahrhundertwende) noch, was die historische Aufführungsforschung auch fürs 19. Jahrhundert entdeckt hat:
a. langsame Tempi waren offenbar nicht so langsam, wie sie im fortschreitenden 20. Jahrhundert “gemacht” wurden;
b. Komponisten fassten ihre Werke bei längerer eigener Aufführungstradition langsamer auf als ursprünglich: Schumann (“Frühlingssymphonie” u. a.) ist ein ebenso schönes Beispiel dafür wie Brahms, der die in den Ecksätzen recht fließenden MM-Zahlen seines Deutschen Requiems mit dem nur partiell zutreffenden Hinweis, die Zahlen stammten eigentlich von einem Freund, tilgte. Und später habe ich erlebt, wie der Komponist Berthold Goldschmidt (1903-1996) seine Klaviersonate op. 10 von 1926, die ursprünglich in einem “Affentempo” metronomisiert war, als über Achtzigjähriger bei der ersten CD-Einspielung des Werkes mit Kolja Lessing nicht mehr gelten lassen wollte, sondern auf erheblich gedrosselte Tempi drang.
Die Frage, welches denn nun das “richtige” Tempo ist, erscheint somit möglicherweise gar nicht angemessen. Anscheinend gibt es “frühere” und “spätere” Tempi oder jedenfalls wechselnde Tempoauffassungen auch der Komponisten selbst. Wichtiger als die Frage nach “richtig” und “falsch” finde ich, dass man neben der “Mainstream”-Interpretationshaltung (die bei Ravels Pavane heute sicherlich zur langsameren der beiden Tempoangaben tendiert) auch die fließendere immer wieder – oder eine Zeitlang ausschließlich – auszuprobiert und erprobr, was sich dann an dem Stück ändert, welche neuen Seiten und Charakterfacetten sich daran zeigen. Wie Sie schreiben ist aber eine agogisch flexiblere Spieleinstellung meist die Kehrseite der Medaille des fließenderen Tempos. Ich habe das vor Jahren bei Schumanns “Kinderszenen” in Gesprächskonzerten und einer NDR-Sendung mit verblüffenden Effekten ausprobiert – und Andreas Staier hat es bei seiner CD in vergleichbarer Weise getan. Bei den fließenderen Tempi kann man dann die erstaunlich vielen Ritardando-Angaben viel deutlicher modellieren.
Danke für Ihre Anregungen!
Herzlichst Ihr
Michael Struck