Mau­rice Ravel (um 1906, Quel­le: PD)

Wäh­rend mei­ner As­sis­tenz­zeit als Hen­li­din durf­te ich im ver­gan­ge­nen Jahr im G. Henle Ver­lag die un­ter­schied­lichs­ten Auf­ga­ben über­neh­men, Neues ent­de­cken, krea­tiv sein, die schöns­ten Noten lesen, Feste fei­ern, viel ler­nen und eine ei­ge­ne blaue Ur­text-Edi­ti­on her­aus­ge­ben: HN 1260. Die Pa­va­ne pour une in­fan­te défunte ist eine klei­ne Kom­po­si­ti­on von Mau­rice Ravel, die er 1899 für Kla­vier ge­schrie­ben und spä­ter für Or­ches­ter um­ge­ar­bei­tet hat. Als schö­ne Er­gän­zung un­se­res Ra­vel-Re­per­toires und mit einer ver­meint­lich „ein­fa­chen“ Quel­len­la­ge soll­te die­ses Pro­jekt für mich auch ein guter Ein­stieg in die Ar­beit einer Her­aus­ge­be­rin sein, aber mit jedem Lesen der Quel­len tauch­ten neue Fra­gen auf. Eine davon be­schäf­tigt mich noch jetzt, nach Er­schei­nen der Aus­ga­be, denn auf sie habe ich keine end­gül­ti­ge Ant­wort ge­fun­den: Ab wel­chem Tempo „stirbt“ Ra­vels Pa­va­ne?

Schon zu Leb­zei­ten Ra­vels fand die Pa­va­ne gro­ßen An­klang beim Pu­bli­kum und sie wurde in zahl­rei­chen Ar­ran­ge­ments für un­ter­schied­li­che Be­set­zun­gen ver­kauft. Über den etwas merk­wür­dig an­mu­ten­den Titel der Kom­po­si­ti­on soll Ravel spä­ter ge­sagt haben, er habe ihn vor allem aus Freu­de an der Al­li­te­ra­ti­on der For­mu­lie­rung (in­fan­te défunte) ge­wählt. Zu­gleich räum­te er aber ein, die Musik be­schwö­re „eine Pa­va­ne, die eine klei­ne Prin­zes­sin einst am spa­ni­schen Hof hätte tan­zen kön­nen“.

"Une Pa­va­ne" von Ed­ward Aus­tin Abbey (Quel­le: PD)

Ti­tel­blatt der Erst­aus­ga­be von 1900

Aber, will man die Pa­va­ne nun so spie­len, dass eine klei­ne Prin­zes­sin dazu tan­zen kann, muss man sich mit dem Tempo be­fas­sen, denn die Werk- und Edi­ti­ons­ge­schich­te lie­fert zu die­sem As­pekt un­ter­schied­li­che, zum Teil ge­gen­sätz­li­che An­ga­ben. In den Aus­ga­ben der Kla­vier­fas­sung bis 1913 lau­tet die Me­tro­no­man­ga­be ♩ = 80. Ab der 5. Auf­la­ge (1913) ist diese An­ga­be je­doch zu ♩ = 54 ge­än­dert. Ver­mut­lich be­steht ein Zu­sam­men­hang mit der Or­ches­ter­fas­sung, deren 2. Auf­la­ge von 1912 das Tempo eben­falls mit ♩ = 54 an­gibt. Un­klar ist al­ler­dings, ob diese Än­de­rung auf Ravel zu­rück­geht, da er weder die Me­tro­no­man­ga­be in sei­nem Hand­ex­em­plar der Kla­vier-Erst­aus­ga­be von 1900 kor­ri­gier­te noch im Au­to­graph der Or­ches­ter­fas­sung ir­gend­ei­ne Tem­po­an­ga­be no­tier­te und es kei­nen Nach­weis einer Mit­wir­kung des Kom­po­nis­ten an den spä­te­ren Auf­la­gen der Kla­vier­fas­sung gibt.

Charles Oul­mont, der das Werk bei einer Soirée auf­führ­te, be­rich­tet in sei­nen Er­in­ne­run­gen, Ravel habe sein of­fen­bar zu lang­sa­mes Tempo mit den sar­kas­ti­schen Wor­ten kom­men­tiert: „Hören Sie mein Junge, den­ken Sie beim nächs­ten Mal daran, dass ich eine ,Pa­va­ne für eine ver­stor­be­ne In­fan­tin‘, keine ,ver­stor­be­ne Pa­va­ne für eine In­fan­tin‘ ge­schrie­ben habe“. Also: Ab wel­chem Tempo wird aus der „ver­stor­be­nen In­fan­tin“ eine „ver­stor­be­ne Pa­va­ne“? Die Tem­po­span­ne 54–80 bpm deckt einen gro­ßen Spiel­raum ab: Ist ♩ = 54 nicht schon jen­seits der Gren­ze des zu lang­sa­men Tem­pos und ♩ = 80 nicht doch zu schnell für einen fei­er­li­chen Schreit­tanz?

Ra­vels ei­ge­ne Piano Roll-Ein­spie­lung, die er 1922 in Lon­don vor­nahm, ist be­züg­lich der Tem­powahl in­so­fern kaum hilf­reich, als sein Grund­tem­po nicht kon­stant bleibt und die­ses Grund­tem­po zudem nicht mehr exakt re­kon­stru­ier­bar ist, so dass die Er­geb­nis­se mehr als 10 bpm aus­ein­an­der lie­gen (von ♩ = 58 bis 69 bei einer Spiel­dau­er von 5’42” bis 4’52”). Ra­vels Ein­spie­lung kann also auch nur eine grobe Ori­en­tie­rung bie­ten.

Es gibt zur­zeit keine end­gül­ti­ge Lö­sung zu der Frage, ab wel­chem Tempo die Pa­va­ne „stirbt“. Daher habe ich die Hen­le-Aus­ga­be so an­ge­legt, dass jeder selbst ent­schei­den kann, wie schnell oder lang­sam er/sie spielt. Wel­ches Tempo emp­fin­den Sie als das rich­ti­ge für diese Kom­po­si­ti­on?

So eine große Frage für meine erste No­ten­aus­ga­be! Die Be­schäf­ti­gung mit die­ser und so vie­len an­de­ren Fra­gen und Pro­jek­ten im letz­ten Jahr hat sich ge­lohnt, denn es ist ein schö­nes Ge­fühl, wenn man eine fer­ti­ge Aus­ga­be in Hän­den hält, deren No­ten­text man selbst her­aus­ge­ge­ben hat. Danke, liebe Hen­li­den, für die­ses schö­ne Ge­fühl und das schö­ne Jahr mit euch!

 

Die­ser Ar­ti­kel stammt von Alex­an­dra Marx.

P.S. Damit man die Bei­trä­ge un­se­res Blogs noch bes­ser fin­den kann, gibt es nun ein Re­gis­ter am lin­ken Bild­schirm­rand.

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2 Antworten auf »Ab welchem Tempo „stirbt“ Ravels „Pavane“?«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Wenn ich dieses Stück bei mir zu Hause am Klavier spiele, empfinde ich Viertel = 54 als das richtige Tempo, in dem nach meiner Vorstellung der Charakter des Stückes am ehesten zur Geltung kommt. Möglich, dass mit einem anderen Instrument, in einer anderen Räumlichkeit das Tempo etwas anders gewählt werden muss, um den gleichen Eindruck zu erzielen. Metronomzahlen sind ja nie absolut zu nehmen. Aber Viertel = 80 erscheint mir viel zu schnell, es klingt fast lustig – für meine Begriffe unpassend als “Pavane pour une infante défunte”. Natürlich weiß ich nicht, ob das, was ich bei dem Stück empfinde, das Gleiche ist, was der Komponist empfunden hat, oder ob da nicht in erheblichem Maße auch Hörgewohnheiten mitspielen. Es ist immer schwierig ein Stück, das man, ehe man es selbst spielt, jahrzehntelang gehört hat und wunderschön gefunden hat, noch einmal objektiv anzugehen…

  2. Dr. Michael Struck sagt:

    Liebe Frau Marx,
    herzlichen Glückwunsch zur Edition und zum anregenden Artikel!
    Offenbar gilt für Ravel (wie auch für Rachmaninow und andere Komponisten der Jahrhundertwende) noch, was die historische Aufführungsforschung auch fürs 19. Jahrhundert entdeckt hat:
    a. langsame Tempi waren offenbar nicht so langsam, wie sie im fortschreitenden 20. Jahrhundert “gemacht” wurden;
    b. Komponisten fassten ihre Werke bei längerer eigener Aufführungstradition langsamer auf als ursprünglich: Schumann (“Frühlingssymphonie” u. a.) ist ein ebenso schönes Beispiel dafür wie Brahms, der die in den Ecksätzen recht fließenden MM-Zahlen seines Deutschen Requiems mit dem nur partiell zutreffenden Hinweis, die Zahlen stammten eigentlich von einem Freund, tilgte. Und später habe ich erlebt, wie der Komponist Berthold Goldschmidt (1903-1996) seine Klaviersonate op. 10 von 1926, die ursprünglich in einem “Affentempo” metronomisiert war, als über Achtzigjähriger bei der ersten CD-Einspielung des Werkes mit Kolja Lessing nicht mehr gelten lassen wollte, sondern auf erheblich gedrosselte Tempi drang.
    Die Frage, welches denn nun das “richtige” Tempo ist, erscheint somit möglicherweise gar nicht angemessen. Anscheinend gibt es “frühere” und “spätere” Tempi oder jedenfalls wechselnde Tempoauffassungen auch der Komponisten selbst. Wichtiger als die Frage nach “richtig” und “falsch” finde ich, dass man neben der “Mainstream”-Interpretationshaltung (die bei Ravels Pavane heute sicherlich zur langsameren der beiden Tempoangaben tendiert) auch die fließendere immer wieder – oder eine Zeitlang ausschließlich – auszuprobiert und erprobr, was sich dann an dem Stück ändert, welche neuen Seiten und Charakterfacetten sich daran zeigen. Wie Sie schreiben ist aber eine agogisch flexiblere Spieleinstellung meist die Kehrseite der Medaille des fließenderen Tempos. Ich habe das vor Jahren bei Schumanns “Kinderszenen” in Gesprächskonzerten und einer NDR-Sendung mit verblüffenden Effekten ausprobiert – und Andreas Staier hat es bei seiner CD in vergleichbarer Weise getan. Bei den fließenderen Tempi kann man dann die erstaunlich vielen Ritardando-Angaben viel deutlicher modellieren.
    Danke für Ihre Anregungen!
    Herzlichst Ihr
    Michael Struck

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