Johann Baptist Vanhal

Mit unserer jüngst erschienenen Urtext-Ausgabe von Johann Baptist Vanhals Kontrabasskonzert (HN 979) ist die Reihe der großen klassischen Kontrabasskonzerte komplett: Denn Vanhals Konzert ist ebenso wie diejenigen von Dittersdorf (HN 759) und Hoffmeister (HN 721) für die historische „Wiener Kontrabass-Stimmung“ geschrieben, die diesem Instrument gegen Ende des 18. Jahrhunderts überhaupt erst zum „Solisten“-Status verhalf. Eine moderne, praktische Ausgabe dieser Werke ist immer eine besondere Herausforderung, wie wir bereits in einem früheren Blog thematisiert haben.

 

Für diese Aufgabe konnte wieder Tobias Glöckler gewonnen werden, ein in praktischen wie philologischen Fragen äußerst versierter Musiker und Herausgeber. Mit dem Vanhal-Konzert legt er nun erneut eine Ausgabe vor, die optimal auf die Bedürfnisse der Kontrabassisten abgestimmt ist.

AO: Lieber Herr Glöckler, warum brauchen wir eigentlich eine Neuausgabe des Kontrabass-„Klassikers“ von Vanhal?

Tobias Glöckler

TG: Bei Wettbewerben und Probespielen ist man immer wieder erstaunt, in welch unterschiedlichen Varianten das Vanhal-Konzert gespielt wird. Abgesehen von verschiedenen Tonarten gibt es insbesondere bei den Oktavlagen ganzer Solopassagen große Unterschiede. Und in der Tat ist die Frage der „richtigen“ Oktavlagen für den Kontrabassisten nicht nur aus quellenkritischer Sicht interessant, sondern sie hat auch ganz erhebliche Auswirkungen auf den technischen Schwierigkeitsgrad einer Passage! Wichtigstes Anliegen unserer Ausgabe ist es daher, dem Musiker an diesem sensiblen Punkt Sicherheit und Orientierung zu geben.

 

Was ist an den Oktavierungen in der Quelle denn so problematisch?

Genau genommen sind nur wenige Oktavierungsangaben in der Quelle zweifelhaft. Das Hauptproblem ist, dass in vielen Ausgaben originale Oktavierungen schlicht fehlen. Gelegentlich wurden auch neue – in der Quelle überhaupt nicht vorhandene – Oktavierungen hinzugefügt. Zur Verwirrung trägt zudem eine zeittypische Notationseigenart bei: In der Quelle sind ganze Passagen im hohen, transponierenden Violinschlüssel notiert, dessen realer Klang zwei Oktaven tiefer ist. Partiell wurde dieser heute nicht mehr gebräuchliche Schlüssel auch in falsche Oktavlagen „übersetzt“.

Das Konzert ist ja nur in einer einzigen Quelle, im Nachlass des Kontrabassvirtuosen Johannes Sperger, erhalten (Schwerin, Landesbibliothek Mecklenburg-Vorpommern). Hatte der hier auch seine Hände im Spiel?

Überliefert ist das Vanhal-Konzert als Stimmenabschrift eines unbekannten, vermutlich Wiener Kopisten, die wohl auf das verschollene Partitur-Autograph des Komponisten zurückgeht. Umfangreiche Handschriftenvergleiche in Vorbereitung der neuen Henle-Ausgabe ergaben, dass in den ersten beiden Sätzen wohl sämtliche (!) Oktavierungen von dem erwähnten Kopisten stammen und somit authentisch sind. Hier könnten sich die größten Konsequenzen für die musikalische Praxis ergeben. Abweichend von der Quelle wurde beispielsweise die folgende Passage bisher oft eine Oktave tiefer gespielt (ab Violinschlüssel T. 93):

Henle-Ausgabe, I. Satz, Takt 93 (2. Note) – 105 in der originalen Oktavlage

Auch das Thema des II. Satzes ist in der Quelle eine Oktave höher notiert als in vielen Ausgaben abgedruckt:

Henle-Ausgabe, II. Satz, T. 15–26 in der originalen Oktavlage

Lediglich im III. Satz finden sich in der Quelle nachträgliche Oktavierungsangaben von Spergers Hand, wie der Vergleich mit seinen eigenhändig notierten Kadenzen zeigt. Zusätzlich sind Eintragungen von mindestens einem weiteren, unbekannten Schreiber vorhanden. Bei der Herausgabe erforderten diese Ergänzungen differenzierte Lösungen:

Ausschnitt aus der Kontrabass-Stimme, III. Satz, T. 91 ff., mit 8va/loco-Ergänzung in T. 92 f. von Sperger: Musikalisch nicht zwingend nötig, formal aber logisch (vgl. T. 232 f.). Die nachträgliche Ergänzung wurde als Option in die Edition übernommen.

Ausschnitt aus der Kontrabass-Stimme, III. Satz, T. 37 ff., mit 8va/loco-Ergänzung in T. 39–44 von unbekannter Hand: Musikalisch fragwürdig, da Melodieführung nach Überbindung T. 43-44 zerstört würde (im Gegensatz zu Motivwiederholung T. 47 f.). Zudem ist die Parallelstelle (T. 171 ff.) ebenfalls ohne Oktavierung. Diese nachträgliche Ergänzung wurde nicht in die Edition übernommen.

In Ihrer Vanhal-Ausgabe haben Sie Parallelstellen häufig nicht angeglichen, auch wurde unterschiedliche Artikulation in parallel geführten Stimmen nicht vereinheitlicht. Kann man es mit der Quellentreue auch übertreiben?

Ich denke schon. Für mich wäre dies beispielsweise der Fall, wenn ohne Rücksicht auf den musikalischen Kontext Ungenauigkeiten und Irrtümer in der Quelle (bis hin zu erkennbaren Fehlern) ihren Weg ins Notenbild finden. Völlig anders verhält es sich nach meiner Überzeugung bei unterschiedlicher Artikulation an Parallelstellen. Hier spiegeln subtile Unterschiede die zeittypische Artikulationsvielfalt wider. Schon der 3. Takt des Themas im Kopfsatz zeigt einen erstaunlichen Reichtum an spielerischen Varianten!

Henle-Ausgabe, I. Satz, 1. Thema, Artikulationsvarianten in T. 23, 65, 91.

Welch ein Verlust an Lebendigkeit und Esprit wäre es, allein diese Details zu „harmonisieren“?  Und welche Variante sollte dann die „richtige“ sein? (Siehe hierzu auch unseren vorherigen Blog zum Thema Parallelstellen.)

Normalerweise haben wir in unseren Streicher-Ausgaben eine unbezeichnete Urtext-Stimme sowie eine mit Strichangaben und Fingersatz bezeichnete Stimme, so auch in Ihrer Erstausgabe von Dragonettis „The Famous Solo“ (HN 1198). Bei den Wiener Kontrabasskonzerten findet sich die Urtext-Stimme hingegen nur überlegt im Klavierauszug. Wie kommt das?

Ursache dafür ist die bereits erwähnte Notation großer Teile der Solostimme im hohen, transponierenden Violinschlüssel. Im Klavierauszug kann diese originale Notation problemlos beibehalten werden. Um die Kontrabass-Stimme für den heutigen Gebrauch überhaupt lesbar zu machen, musste der „alte“ Violinschlüssel in das heute übliche Verständnis der Notenschlüssel mit klar definierten Oktavlagen übertragen werden.

Bei der Ergänzung von Fingersatz und Strichangaben für die bezeichnete Stimme bin ich generell äußerst zurückhaltend (siehe Dragonetti-Blog). Deshalb sind die beiliegenden Solostimmen aller Wiener Konzerte im Grunde eine Synthese: praxistaugliche Urtext-Stimme mit minimaler Strich- und Fingersatzbezeichnung.

Bei den Ausgaben der Konzerte von Dittersdorf und Hoffmeister haben Sie mit verschiedenen Stimmen für alle möglichen Kontrabass-Stimmungen und Aufführungssituationen gewissermaßen ein „Rundum-Sorglos“-Paket geschnürt. Profitieren die Kontrabassisten auch beim Vanhal wieder von diesem Konzept?

Ja, definitiv! Neben Transparenz und Quellentreue stand bei der Herausgabe besonders ein Thema im Mittelpunkt: Die Ausgabe sollte flexibel mit den unterschiedlichen Kontrabass-Stimmungen spielbar sein. In bewährter Weise wurde deshalb der Klavierauszug zweimal abgedruckt, da z.B. die Solostimmung eine um einen Ton nach oben transponierte Begleitung erfordert.

Beim Vanhal-Konzert kam als weitere Herausforderung hinzu, dass das Werk traditionell in zwei Tonarten gespielt wird: gegriffen C- bzw. D-dur.

Um all dies zu berücksichtigen, liegen der Edition zwei separate Stimmenhefte für Kontrabass bei: In Heft 1 ist die am häufigsten gespielte Version in C-dur abgedruckt; Heft 2 widmet sich der Spielart in D-dur sowie der historischen „Wiener Stimmung“ (A-d-fis-a). Letztere wird durch die abgedruckte, leicht verständliche Griffnotation sofort und ohne langwieriges Umlernen spielbar. Für Spezialisten mit Erfahrung in „Wiener Stimmung“ ist überdies eine Urtext-Stimme ohne Griffnotation auf der Henle-Website herunterladbar.

Die folgende Übersicht zeigt die vielfältigen Spielmöglichkeiten der neuen Vanhal-Ausgabe.

Tabelle der Ausführungsmöglichkeiten aus HN 979

Ergänzend sollten wir zu Thema „Rundum-Sorglos“ noch erwähnen, dass zum Vanhal-Konzert (wie schon zu Dittersdorf und Hoffmeister) auch die Partitur und Orchesterstimmen in Kooperation mit dem renommierten Verlag Breitkopf & Härtel erschienen sind. So kann der Kontrabass-Solist auch bei Aufführungen mit Orchester auf ein zuverlässiges, bis hin zu den Probebuchstaben hin übereinstimmendes Gesamtpaket zurückgreifen.

Zusammen mit den abschriftlichen Stimmen sind im Spergerschen Nachlass für alle drei Sätze auch eigenhändige Kadenzen des Kontrabassisten überliefert. Diese nehmen wir als zeitgenössisches Dokument (wie schon bei Dittersdorf) mit in unsere Ausgabe auf – trotzdem bieten Sie auch eigene Kadenzen an. Worauf zielen Sie musikalisch ab?

Spergers autographe Kadenzen zum I. und II. Satz

Dem Thema Kadenzen habe ich mich eher unfreiwillig genähert. Da ich als Musiker weder mit den Sperger-Kadenzen noch mit den häufig gespielten Kadenzen von H. K. Gruber oder denen von H. Schneikart so richtig warm geworden bin, habe ich mich irgendwann entschlossen, eigene Kadenzen zu schreiben. Dabei war mir besonders wichtig, stilistisch, motivisch und harmonisch im vorgegebenen klassischen Rahmen zu bleiben. Gleichzeitig wollte ich alle Möglichkeiten der solistischen Kontrabassmusik der damaligen Zeit nutzen, wie virtuose Läufe, häufige Doppelgriffe, Arpeggien, Flageoletts und Bariolage. Die ursprüngliche Idee einer Kadenz – sprich: die Virtuosität des Solisten angemessen zur Geltung zu bringen – sollte auch im Hinblick auf heutige Probespiele keinesfalls zu kurz kommen…

Zum Schluss eine persönliche Frage: Dittersdorf, Hoffmeister oder Vanhal – welchen der drei „Wiener“ spielen Sie am liebsten?

Jedes Konzert hat definitiv seinen ganz eigenen Reiz – ich möchte mich da keinesfalls festlegen. Vielleicht lässt sich Ihre Frage am besten so beantworten: Nachdem die Zeitläufte es zunächst gar nicht gut mit den Kontrabassisten meinten – man denke nur an das verschollene Kontrabasskonzert von Joseph Haydn – bin ich als Musiker einfach glücklich, dass wir alle drei Konzerte haben! Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können…

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Eine Antwort auf »Aller guten Wiener sind drei: Dittersdorf, Hoffmeister und Vanhal«

  1. Albrecht Hilmes sagt:

    Ich freue mich sehr über die Ausgaben der drei klassischen Kontrabasskonzerte und auch über die Förderung der Wiener Stimmung. Derjenige, dem wir die Überlieferung dieser Werke verdanken – Johann Matthias Sperger – hat selbst 18 Kontrabasskonzerte für diese Stimmung komponiert. Wer meint, Masse ist nicht gleich Klasse der irrt hier gewaltig! Beim letzten ARD Wettbewerb (2016) spielte z.B. Dominik Wagner in der Halbfinalrunde das 15. Konzert. In die Reihe der drei oben genannten Komponisten gehört daher sicherlich auch Sperger: „Aller guten Dinge sind VIER“. Und ich würde mich freuen, wenn das eine oder andere seiner Konzerte von Henle in dieser guten und zuverlässigen Weise verlegt würde.

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