F. Cho­pin (1810–1849)

An­fang des Jah­res habe ich von mei­ner Ar­beit an den bei­den Scher­zi Nr. 2&3 von Frédéric Cho­pin be­rich­tet. Schon da­mals konn­te ich an­kün­di­gen, dass Folge 4 nicht mehr lange auf sich war­ten las­sen wird – und jetzt löse ich mein Ver­spre­chen ein! Das E-dur-Scher­zo op. 54 wird bald in Re­vi­si­on er­schei­nen, ge­folgt vom re­vi­dier­ten Ge­samt­band mit allen vier Scher­zi Frédéric Cho­pins.

Das vier­te Scher­zo steht hin­sicht­lich Kom­ple­xi­tät der Quel­len­la­ge sei­nen drei Schwes­ter­wer­ken in nichts nach. „Ein quel­len­tech­ni­scher Alb­traum!“, so ur­teil­te tref­fend ein Kol­le­ge, der meine Edi­ti­on durch­sah. Dabei sieht der Quel­len­be­stand auf den ers­ten Blick fast harm­los aus: Es sind drei Erst­aus­ga­ben über­lie­fert: die fran­zö­si­sche (EF in zwei Auf­la­gen), die deut­sche (ED) und die eng­li­sche (EE). Au­ßer­dem gibt es ein Au­to­graph, das ich AD ge­nannt habe, weil es Stich­vor­la­ge für die deut­sche Erst­aus­ga­be war. Im Stem­ma stellt sich das wie folgt dar:

Stem­ma der Quel­len zu op. 54

Kom­pli­ziert wird die An­ge­le­gen­heit vor allem durch die Quel­len, die nicht über­lie­fert sind, die also in [ ] ste­hen. Manch einer wird – zu­recht – fra­gen, wie ich denn dar­auf komme, dass es neben dem Au­to­graph AD noch zwei wei­te­re ver­schol­le­ne Au­to­gra­phe ge­ge­ben haben muss. Nun, da ist ei­ner­seits der Quel­len­be­fund: Die drei Erst­aus­ga­ben wei­chen so sehr von­ein­an­der ab, dass ver­nünf­ti­ger­wei­se von drei ver­schie­de­nen Vor­la­gen aus­ge­gan­gen wer­den muss. Diese An­nah­me wird durch Brie­fe er­här­tet, die Cho­pin im Herbst 1843 von Ge­or­ge Sands Land­sitz Nohant aus an Freun­de in Paris schick­te. Darin bit­tet er sie, zwei so­eben voll­ende­te Au­to­gra­phe ei­ner­seits an den eng­li­schen und an­de­rer­seits an den deut­schen Ver­le­ger wei­ter­zu­lei­ten (Quel­len AE und AD). Dass er ein wei­te­res Au­to­graph für den fran­zö­si­schen Erst­ver­le­ger nie­der­schrieb (Quel­le AF) und die­ses mög­li­cher­wei­se schon im Som­mer per­sön­lich über­ge­ben hatte, ist nicht do­ku­men­tiert, aber höchst wahr­schein­lich.

Drei Au­to­gra­phe, die Vor­la­gen für drei Erst­aus­ga­ben waren – das führt zu drei au­to­ri­sier­ten Fas­sun­gen des­sel­ben Werks, wenn der Kom­po­nist nicht dafür Sorge trägt, dass die drei Au­to­gra­phe de­ckungs­gleich sind (was Cho­pin nicht tat!).

Dass die drei Au­to­gra­phe quel­len­ge­schicht­lich trotz­dem von­ein­an­der ab­hän­gen, lässt sich an­hand von Kor­rek­tur­vor­gän­gen be­wei­sen, die man in AD be­ob­ach­ten kann. Be­son­ders an­schau­lich sieht man das in an T. 365–368. Die eng­li­sche Erst­aus­ga­be no­tiert hier die letz­ten bei­den Noten der Auf­wärts­be­we­gung je­weils eine Terz tie­fer, als wir es aus mo­der­nen Aus­ga­ben ge­wohnt sind, also:

T. 365–368: No­ta­ti­on wie in der eng­li­schen Erst­aus­ga­be

T. 365–368: No­ta­ti­on wie in mo­der­nen Aus­ga­ben

„Ein klas­si­scher Terz-Ver­schrei­ber wie er im No­ten­stich häu­fig vor­kommt“, habe ich zu­erst ge­dacht. Wenn man genau hin­schaut, sieht man al­ler­dings, dass Cho­pin diese „ent­schärf­te“ Va­ri­an­te ur­sprüng­lich auch in AD no­tie­ren woll­te. Zu­min­dest in T 365/366, rech­te Hand, lässt sich das sehen. Folgt man die­sem Link, sieht man die Stel­le im Au­to­graph und dar­auf fol­gend in den ver­schie­de­nen Erst­aus­ga­ben, die eng­li­sche steht ganz unten. Zu­erst ver­such­te Cho­pin im Au­to­graph die Kor­rek­tur an Ort und Stel­le vor­zu­neh­men, dann strich er den ge­sam­ten Takt im obe­ren Sys­tem mi­nu­ti­ös durch und schrieb ihn dar­über neu – nun mit der gül­ti­gen Les­art. Die­ser Kor­rek­tur­pro­zess zeigt, dass die eng­li­sche Erst­aus­ga­be an die­ser Stel­le eine Ver­si­on bringt, die im er­hal­te­nen Au­to­graph zu einer neuen Ver­si­on kor­ri­giert wurde. Die eng­li­sche Erst­aus­ga­be und das ihr zu­grun­de lie­gen­de Au­to­graph [AE] muss also frü­her ent­stan­den sein, als AD. Die fran­zö­si­sche Erst­aus­ga­be hin­ge­gen bringt die Les­art nach Kor­rek­tur. Es gibt zahl­rei­che wei­te­re Stel­len im vier­ten Scher­zo, an denen man ähn­li­che Be­ob­ach­tun­gen ma­chen kann – und auf die­ser Grund­la­ge kann man die Ab­hän­gig­kei­ten und die Chro­no­lo­gie re­kon­stru­ie­ren, wie sie oben im Stem­ma dar­ge­stellt ist.

Apro­pos Chro­no­lo­gie: Was ge­schah, nach­dem Cho­pin die Au­to­gra­phe sei­nen Ver­le­gern über­las­sen hatte? Um die Druck­le­gung in Deutsch­land und Eng­land küm­mer­te sich Cho­pin für ge­wöhn­lich nicht. Wohl aber um die fran­zö­si­schen Erst­aus­ga­ben. Er las zu­meist eine Fah­nen­kor­rek­tur, was ver­mut­lich auch für das vier­te Scher­zo zu­trifft. Je­den­falls fin­den sich et­li­che Dy­na­mik­an­ga­ben in EF, die in den an­de­ren Erst­aus­ga­ben feh­len. Sie kön­nen ei­gent­lich nur vom Kom­po­nis­ten stam­men, und ei­ni­ges spricht dafür, dass er sie nicht in [AF], son­dern in EF er­gänz­te. Die fran­zö­si­sche Erst­aus­ga­be wird damit zur Fas­sung letz­ter Hand.

Ti­tel­blatt von EF

Trotz­dem ist EF nicht Haupt­quel­le mei­ner Edi­ti­on. Warum? Ganz ein­fach: Sie steckt vol­ler Feh­ler. Er­staun­lich ist, dass Cho­pin diese Feh­ler nicht kor­ri­gie­ren ließ, und auch die zwei­te Auf­la­ge des fran­zö­si­schen Drucks ver­bes­sert nur eine Hand­voll of­fen­sicht­li­cher Stich­feh­ler – im De­tail bleibt EF sehr un­zu­ver­läs­sig, und das gilt auch für die Quel­le „OD“, ein Ex­em­plar von EF1, aus dem Cho­pin seine Schü­le­rin Ca­mil­le O’Me­a­ra-Du­bo­is un­ter­rich­te­te, dort aber so gut wie nichts kor­ri­gier­te.

Um eine für die Edi­ti­on ge­eig­ne­te Haupt­quel­le zu fin­den, muss­te ich im Stem­ma ziem­lich weit „nach oben“ gehen: EF1/EF2/OD schie­den aus, da zu feh­ler­haft, EE und ED wur­den nicht von Cho­pin kor­ri­giert – es blieb schließ­lich nur AD, die au­to­gra­phe Stich­vor­la­ge für die deut­sche Erst­aus­ga­be. Uns Ur­text-Edi­to­ren geht das gegen den Strich, denn wir su­chen immer nach der spä­tes­ten Quel­le, nach der Fas­sung letz­ter Hand. Al­ler­dings ist AD als Haupt­quel­le kei­nes­wegs eine schlech­te Wahl: Das Au­to­graph ist äu­ßerst sorg­fäl­tig no­tiert und über­lie­fert das vier­te Scher­zo in zwei­fels­frei au­to­ri­sier­ter Form. Die Her­aus­for­de­rung be­stand darin, die Les­ar­ten der bei­den an­de­ren Über­lie­fe­rungs­strän­ge EE und EF, die eben­falls au­to­ri­sier­te Les­ar­ten ent­hal­ten, an­ge­mes­sen zu do­ku­men­tie­ren. Wie in Folge 1 sowie 2&3 mei­ner Reihe über die Cho­pin-Scher­zi be­schrie­ben, die­nen dazu Fuß­no­ten und ein aus­führ­li­cher Kri­ti­scher Be­richt.

Ab­schlie­ßend noch etwas „Musik“: Zwei Ak­ko­la­den aus mei­ner Stich­vor­la­ge des 4. Scher­zos, in denen gleich zwei pro­ble­ma­ti­sche Text­stel­len ste­cken:

T. 257 bis 268 aus op. 54

In T. 263 hatte die alte Hen­le-Aus­ga­be dis2 statt fis2. Diese Les­art stammt aus der eng­li­schen Erst­aus­ga­be, die al­ler­dings an der Par­al­lel­stel­le T. 863 fis2 hat. Die üb­ri­gen Quel­len brin­gen an bei­den Stel­len ein­deu­tig fis2. Den­noch schreibt die Aus­ga­be Miku­li an bei­den Stel­len dis2, ver­mut­lich in An­glei­chung an T. 255/855. Aber ist es nicht viel reiz­vol­ler, in T. 255/855 dis2 und in T. 263/863 fis2 zu spie­len?

Drei Takte spä­ter eine er­neu­te Va­ri­an­te: das ais2 der rech­ten Hand stand nicht nur in der alten Hen­le-Aus­ga­be, son­dern auch in der fran­zö­si­schen und eng­li­schen Erst­aus­ga­be. Es stimmt mit dem ais1 in T. 250, 258 über­ein, steht aber nicht im Au­to­graph. Und gibt es nicht Grün­de für die au­to­gra­phe Les­art h1? Die Ober­stim­me h2 weicht von T. 250, 258 ab. Kann das nicht ein Ar­gu­ment für die Ab­wei­chung auch in der Un­ter­stim­me sein? Cho­pin-Ken­nern sei auch emp­foh­len, sich die Par­al­lel­stel­le T. 866 an­zu­schau­en (im Kon­text der Takte zuvor). Auch hier gibt es Ab­wei­chun­gen vom Sche­ma, die mich dazu be­wo­gen haben, der au­to­gra­phen Les­art h1 zu fol­gen – das bis­her be­kann­te ais1 wird na­tür­lich in einer Fuß­no­te zur Aus­ga­be mit­ge­führt. Haben Sie Ein­wän­de? Dann schrei­ben Sie mir!

Aber nun wirk­lich Musik: Nach so vie­len kom­pli­zier­ten Text­de­tails hier zur Ent­span­nung eine wun­der­ba­re Auf­nah­me des 4. Scher­zos mit Da­ni­il Trif­o­nov.

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