Anfang des Jahres habe ich von meiner Arbeit an den beiden Scherzi Nr. 2&3 von Frédéric Chopin berichtet. Schon damals konnte ich ankündigen, dass Folge 4 nicht mehr lange auf sich warten lassen wird – und jetzt löse ich mein Versprechen ein! Das E-dur-Scherzo op. 54 wird bald in Revision erscheinen, gefolgt vom revidierten Gesamtband mit allen vier Scherzi Frédéric Chopins.
Das vierte Scherzo steht hinsichtlich Komplexität der Quellenlage seinen drei Schwesterwerken in nichts nach. „Ein quellentechnischer Albtraum!“, so urteilte treffend ein Kollege, der meine Edition durchsah. Dabei sieht der Quellenbestand auf den ersten Blick fast harmlos aus: Es sind drei Erstausgaben überliefert: die französische (EF in zwei Auflagen), die deutsche (ED) und die englische (EE). Außerdem gibt es ein Autograph, das ich AD genannt habe, weil es Stichvorlage für die deutsche Erstausgabe war. Im Stemma stellt sich das wie folgt dar:
Kompliziert wird die Angelegenheit vor allem durch die Quellen, die nicht überliefert sind, die also in [ ] stehen. Manch einer wird – zurecht – fragen, wie ich denn darauf komme, dass es neben dem Autograph AD noch zwei weitere verschollene Autographe gegeben haben muss. Nun, da ist einerseits der Quellenbefund: Die drei Erstausgaben weichen so sehr voneinander ab, dass vernünftigerweise von drei verschiedenen Vorlagen ausgegangen werden muss. Diese Annahme wird durch Briefe erhärtet, die Chopin im Herbst 1843 von George Sands Landsitz Nohant aus an Freunde in Paris schickte. Darin bittet er sie, zwei soeben vollendete Autographe einerseits an den englischen und andererseits an den deutschen Verleger weiterzuleiten (Quellen AE und AD). Dass er ein weiteres Autograph für den französischen Erstverleger niederschrieb (Quelle AF) und dieses möglicherweise schon im Sommer persönlich übergeben hatte, ist nicht dokumentiert, aber höchst wahrscheinlich.
Drei Autographe, die Vorlagen für drei Erstausgaben waren – das führt zu drei autorisierten Fassungen desselben Werks, wenn der Komponist nicht dafür Sorge trägt, dass die drei Autographe deckungsgleich sind (was Chopin nicht tat!).
Dass die drei Autographe quellengeschichtlich trotzdem voneinander abhängen, lässt sich anhand von Korrekturvorgängen beweisen, die man in AD beobachten kann. Besonders anschaulich sieht man das in an T. 365–368. Die englische Erstausgabe notiert hier die letzten beiden Noten der Aufwärtsbewegung jeweils eine Terz tiefer, als wir es aus modernen Ausgaben gewohnt sind, also:
„Ein klassischer Terz-Verschreiber wie er im Notenstich häufig vorkommt“, habe ich zuerst gedacht. Wenn man genau hinschaut, sieht man allerdings, dass Chopin diese „entschärfte“ Variante ursprünglich auch in AD notieren wollte. Zumindest in T 365/366, rechte Hand, lässt sich das sehen. Folgt man diesem Link, sieht man die Stelle im Autograph und darauf folgend in den verschiedenen Erstausgaben, die englische steht ganz unten. Zuerst versuchte Chopin im Autograph die Korrektur an Ort und Stelle vorzunehmen, dann strich er den gesamten Takt im oberen System minutiös durch und schrieb ihn darüber neu – nun mit der gültigen Lesart. Dieser Korrekturprozess zeigt, dass die englische Erstausgabe an dieser Stelle eine Version bringt, die im erhaltenen Autograph zu einer neuen Version korrigiert wurde. Die englische Erstausgabe und das ihr zugrunde liegende Autograph [AE] muss also früher entstanden sein, als AD. Die französische Erstausgabe hingegen bringt die Lesart nach Korrektur. Es gibt zahlreiche weitere Stellen im vierten Scherzo, an denen man ähnliche Beobachtungen machen kann – und auf dieser Grundlage kann man die Abhängigkeiten und die Chronologie rekonstruieren, wie sie oben im Stemma dargestellt ist.
Apropos Chronologie: Was geschah, nachdem Chopin die Autographe seinen Verlegern überlassen hatte? Um die Drucklegung in Deutschland und England kümmerte sich Chopin für gewöhnlich nicht. Wohl aber um die französischen Erstausgaben. Er las zumeist eine Fahnenkorrektur, was vermutlich auch für das vierte Scherzo zutrifft. Jedenfalls finden sich etliche Dynamikangaben in EF, die in den anderen Erstausgaben fehlen. Sie können eigentlich nur vom Komponisten stammen, und einiges spricht dafür, dass er sie nicht in [AF], sondern in EF ergänzte. Die französische Erstausgabe wird damit zur Fassung letzter Hand.
Trotzdem ist EF nicht Hauptquelle meiner Edition. Warum? Ganz einfach: Sie steckt voller Fehler. Erstaunlich ist, dass Chopin diese Fehler nicht korrigieren ließ, und auch die zweite Auflage des französischen Drucks verbessert nur eine Handvoll offensichtlicher Stichfehler – im Detail bleibt EF sehr unzuverlässig, und das gilt auch für die Quelle „OD“, ein Exemplar von EF1, aus dem Chopin seine Schülerin Camille O’Meara-Dubois unterrichtete, dort aber so gut wie nichts korrigierte.
Um eine für die Edition geeignete Hauptquelle zu finden, musste ich im Stemma ziemlich weit „nach oben“ gehen: EF1/EF2/OD schieden aus, da zu fehlerhaft, EE und ED wurden nicht von Chopin korrigiert – es blieb schließlich nur AD, die autographe Stichvorlage für die deutsche Erstausgabe. Uns Urtext-Editoren geht das gegen den Strich, denn wir suchen immer nach der spätesten Quelle, nach der Fassung letzter Hand. Allerdings ist AD als Hauptquelle keineswegs eine schlechte Wahl: Das Autograph ist äußerst sorgfältig notiert und überliefert das vierte Scherzo in zweifelsfrei autorisierter Form. Die Herausforderung bestand darin, die Lesarten der beiden anderen Überlieferungsstränge EE und EF, die ebenfalls autorisierte Lesarten enthalten, angemessen zu dokumentieren. Wie in Folge 1 sowie 2&3 meiner Reihe über die Chopin-Scherzi beschrieben, dienen dazu Fußnoten und ein ausführlicher Kritischer Bericht.
Abschließend noch etwas „Musik“: Zwei Akkoladen aus meiner Stichvorlage des 4. Scherzos, in denen gleich zwei problematische Textstellen stecken:
In T. 263 hatte die alte Henle-Ausgabe dis2 statt fis2. Diese Lesart stammt aus der englischen Erstausgabe, die allerdings an der Parallelstelle T. 863 fis2 hat. Die übrigen Quellen bringen an beiden Stellen eindeutig fis2. Dennoch schreibt die Ausgabe Mikuli an beiden Stellen dis2, vermutlich in Angleichung an T. 255/855. Aber ist es nicht viel reizvoller, in T. 255/855 dis2 und in T. 263/863 fis2 zu spielen?
Drei Takte später eine erneute Variante: das ais2 der rechten Hand stand nicht nur in der alten Henle-Ausgabe, sondern auch in der französischen und englischen Erstausgabe. Es stimmt mit dem ais1 in T. 250, 258 überein, steht aber nicht im Autograph. Und gibt es nicht Gründe für die autographe Lesart h1? Die Oberstimme h2 weicht von T. 250, 258 ab. Kann das nicht ein Argument für die Abweichung auch in der Unterstimme sein? Chopin-Kennern sei auch empfohlen, sich die Parallelstelle T. 866 anzuschauen (im Kontext der Takte zuvor). Auch hier gibt es Abweichungen vom Schema, die mich dazu bewogen haben, der autographen Lesart h1 zu folgen – das bisher bekannte ais1 wird natürlich in einer Fußnote zur Ausgabe mitgeführt. Haben Sie Einwände? Dann schreiben Sie mir!
Aber nun wirklich Musik: Nach so vielen komplizierten Textdetails hier zur Entspannung eine wunderbare Aufnahme des 4. Scherzos mit Daniil Trifonov.