Welch befreiende, ja erlösende Wirkung die unerwartete Durterz zum Schluss eines Mollstücks haben kann, wissen vor allem Bach-Spieler und -Hörer. Um nur ein Beispiel zu nennen, das jeder kennen dürfte: Das streng und unerbittlich in Moll voranschreitende c-moll-Präludium aus dem ersten Band des „Wohltemperierten Klaviers“ endet im allerletzten Takt mit einem wunderbar aufblühenden C-dur-Dreiklang. (Auch mein Lieblingspräludium von Bach, dasjenige in fis-moll aus dem zweiten Band, endet erlösend in Fis-Dur.) „Picardisch“ nennt Rousseau solche Terzauswechslung zum Schluss eines Mollstückes.
In der nach-Bach‘schen Zeit wird dieser wirkungsvolle Komponisten-„Trick“ immer seltener. Moll bleibt unerbittlich Moll (siehe beispielsweise: Mozarts Klavier-Fantasie in c-moll). Oder das Picardische wird im großen Stil auf den ganzen Schluss-Satz einer Symphonie ausgedehnt, wie bekanntlich zum Beispiel in Beethovens „Schicksals“-Symphonie Nr. 5 in c-moll: durch Nacht zum Licht…
Im Falle der Klaviermusik Frédéric Chopins tritt die picardische Terz gelegentlich, durchaus nicht häufig auf. Als ich vor wenigen Tagen zusammen mit den Klavierprofessoren Michael Schäfer und Claudius Tanski das Klavierspiel von weit über 100 Kindern beurteilen durfte, die an unserem alljährlichen YouTube-Klavierwettbewerb teilnahmen, entspann sich plötzlich eine lebhafte Diskussion über den richtigen Schluss des weltberühmten Nocturne in cis-moll op. post. (KK IVa Nr. 16). Viele der jungen Künstler wählten ausgerechnet dieses Stück aus dem heuer vorgeschriebenen Band „Am Klavier | Chopin“. „Weltberühmt“ wurde dieses todtraurige Stück durch den erschütternden Film „Der Pianist“ von Roman Polanski.
Einige Kinder spielten die Durterz (eis) erst ganz zum Schluss (im vorletzten Takt 61), im gewissermaßen ersterbenden Licht des dreifachen Pianissimo. Große Wirkung. Andere spielten die Durterz bereits ab Takt 59 – ebenfalls mit gutem Effekt, aber doch weniger stark in der „Erlösungswirkung“. Da waren wir uns in der Jury zwar einig: Die picardische Terz erst ganz zum Schluss tut die größere Wirkung. Doch in der Henle-Ausgabe steht das eis bereits in Takt 59. Ein Fehler?
Dank des sofort konsultierten Henle-Lektorats und unserer umfassenden Quellensammlung wurde dann auch das bereits vermutete Noten/Quellen-Problem schnell gelöst. „Beide“ Fassungen sind legitimiert. In der Henle-Urtext-Ausgabe aller Nocturnes von Chopin werden daher auch beide Fassungen abgedruckt (Nr. 20a / 20b), in der Serie „Am Klavier | Chopin“ aber nur diejenige Fassung, wie sie uns von Chopins Schwester Ludwika Jędrzejewicz überliefert ist. Sie schreibt eis mit Vorzeichen ♯ bereits in Takt 59, dann nicht (!) in Takt 60, dann wieder in Takt 61:
Ludwikas Vorlage war nachweislich Chopins reinschriftliches Autograph der überarbeiteten, endgültigen Version. Doch ausgerechnet das ist leider verloren gegangen. Ludwika gilt als zuverlässige Kopistin (und hat sich um den unveröffentlichten Nachlass ihres Bruders unendlich verdient gemacht). Nun kommt hinzu, dass ein weiterer Kopist Chopins verlorenes Autograph abgeschrieben hat, nämlich Oskar Kolberg. Und darin steht das picardische eis erst zum Schluss. Schlussfolgerung: entweder irrt die Schwester oder Kolberg. Also 1:1. Chopin hatte aber sein cis-moll-Nocturne vorab schon vor seiner Reinschrift entworfen, dieses Autograph hat überlebt (und ist in einem schönen Faksimile des Chopin und George Sand-Museums auf Mallorca, 2003, publiziert) – und in diesem Autograph steht das #-Vorzeichen eindeutig erst, und mich und die Jury-Kollegen letztlich überzeugender, im Schlusstakt:
Der Henle-Herausgeber (Ewald Zimmermann) will das Problem nicht entscheiden („muss offen bleiben“) und druckt eben beide Fassungen. Jan Ekier in seiner Ausgabe bei Wiener Urtext (UT 50065) ediert das ♯ erst in Takt 61 und kommentiert das schwesterlich-frühere Dur mit „presumably a mistake since ♯ is missing in bar 60“.
Die Henle-YouTube-Jury war übrigens von der sehr reifen Interpretation der neunjährigen Elina Baron so berührt, dass wir ihr einstimmig den ersten Preis in der Altersgruppe II zusprachen. Es lohnt sich, die junge Künstlerin mit dem cis-moll-Nocturne zu erleben; wenn Sie, liebe Leser, die 4:30 Minuten bis zum Schluss hören, dann werden Sie auch wissen, an welcher Stelle Elina das ungeheuer berührende eis spielt: