Es versteht sich, dass zu Beginn der Debussy-Editionen im Henle-Verlag die Klavierwerke des französischen Komponisten im Fokus standen. Zum einen aus dem Selbstverständnis des Verlags heraus, bei dem Klaviermusik von Anfang an das Kernrepertoire des Programms bildete, zum anderen aber auch wegen der großen Menge an wegweisenden und populären Kompositionen Debussys in diesem Gattungsbereich – von den Arabesques bis zu den Études.
Abgesehen vom Sonderfall des frühen Klaviertrios, das 1986, nur wenige Jahre nach der Wiederentdeckung der autographen Quellen, als Erstausgabe erscheinen konnte (HN 379), musste daher Debussys Kammermusik – insgesamt nur neun, aber teilweise sehr gewichtige Opera – warten, bis die Hauptwerke der Klaviermusik im Urtext vorlagen. Ab den 1990er-Jahren erschienen dann nacheinander Syrinx für Flöte solo (HN 496), die beiden späten Sonaten für Violine (HN 410) und Cello (HN 633) und die beiden Stücke für Klarinette Première Rhapsodie und Petite Pièce (HN 789). Es folgte das Scherzo (auch als Nocturne et Scherzo bekannt) für Cello und Klavier, das zusammen mit einem Intermezzo (dem 4. Satz einer verlorenen Suite für Violoncello und Orchester, von Debussy bearbeitet für Cello und Klavier) ediert wurde (HN 945). Die beiden letzten Kammermusikwerke, auf die ich nachfolgend näher eingehen möchte, wurden rechtzeitig zum Jubiläumsjahr 2012 nachgeliefert: die Sonate für Flöte, Viola und Harfe (HN 1026) und das Streichquartett (Stimmenausgabe HN 999, Partitur HN 9999). Damit ist Henle bis heute der einzige Verlag, der Debussys gesamte Kammermusik in Urtext-Ausgaben anbieten kann.
Im Sommer 1915 nahm Debussy ein Großprojekt in Angriff, das sechs Sonaten für verschiedene kammermusikalische Besetzungen im Geiste der klassischen französischen Tradition umfassen sollte. Davon konnte er krankheitsbedingt nur noch drei Werke ausführen, wobei die zweite Sonate (für Flöte, Viola und Harfe) allein schon durch ihre außergewöhnliche Besetzung heraussticht. Sie ist durch ihren aparten, leicht melancholischen Klang wohl die schönste der drei späten Sonaten, aber zugleich auch die unbekannteste, denn Werke mit Harfe fristen im Kammermusikbetrieb nach wie vor nur ein Schattendasein.
Ich möchte nachfolgend auf eine besondere Stelle im Finale eingehen (Erstausgabe, Takte 72–73):
Wer Debussys schon sehr früh ausgeprägte Kompositionsweise in „Modulen“ mit unveränderter Wiederholung von einem oder mehreren Takten kennt, wird hier stutzig. Alle Noten sind gleich, nur die Viola hat in Takt 73 zu Beginn eine Achtelpause anstelle zweier Sechzehntelnoten d1. Das Autograph zeigt an dieser Stelle eine Korrektur: Ursprünglich notierte Debussy für die Viola auch in Takt 73 ein d1, noch deutlich an der Balkung erkennbar, tilgte danach die Note durch Rasur und notierte stattdessen eine Achtelpause:
Philologisch ergibt sich damit ein klarer Sachverhalt: Autograph (nach Korrektur) sowie zweifellos auch die nicht erhaltene Stichvorlage (eine verschollene Abschrift des Autographs) und Erstausgabe weisen den gleichen musikalischen Text auf. Geht man nun einen Schritt zurück und sieht sich diese Stelle in den erhaltenen Skizzen (Winterthurer Bibliotheken, Sammlung Winterthur, Dep RS 11/2c) an, lässt sich erkennen, dass Debussy die beiden Takte zunächst so notierte, wie sie später im Druck erschienen, das heißt mit einer Note auf der Eins in Takt 72 (allerdings auf anderer Tonhöhe, a statt d1), dann aber diese Note zu Gunsten einer Pause strich:
Offenbar hat Debussy diese auf den ersten Blick unkomplizierte Passage der Viola gehöriges Kopfzerbrechen bereitet. Schematisch folgen diese drei Versionen aufeinander (in Klammern jeweils der Befund in Takt 72 / Takt 73 auf Zählzeit Eins):
In einer Urtext-Edition muss hier selbstverständlich die letzte Version (die zugleich auch die erste war) abgedruckt werden. Also kein Problem – oder doch?
Wie aus anderen Fällen bekannt, hat Debussy häufig geänderte Takte der Handschriften vor oder während der Drucklegung nochmals geändert, manchmal allerdings auch noch danach. Für die Harfensonate ist kein Dokument einer nachträglichen Änderung dieser Stelle bekannt, dennoch bleibt ein Rest von Unsicherheit: Können wir sicher sein, dass der damals bereits schwerkranke Debussy, hätte sich die Gelegenheit zu einer intensiveren Durchsicht des Drucks ergeben, sie nicht doch im Sinne einer Angleichung geändert hätte? Um dieser Unsicherheit Rechnung zu tragen, ist in der Henle-Ausgabe ein Verweis auf die Bemerkungen hinzugesetzt, wo die Änderungen in den handschriftlichen Quellen erläutert werden, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass sich nicht ausschließen lasse, dass beide Takte in der Erstausgabe gleich sein sollen. Violaspieler, die beide Takte lieber gleich ausführen möchten, brauchen demnach kein schlechtes Gewissen zu haben.
Apropos Änderungen nach der Drucklegung. Ein Paradebeispiel dazu liegt mit dem 1894 erschienenen Streichquartett vor. Es haben sich zwei Korrekturexemplare dieser ersten Ausgabe erhalten. Das erste (K1) weist Einträge unterschiedlicher Schreiber auf und hatte wohl die Funktion eines Redaktionsexemplars im Verlag. Das zweite (K2), eine Art Handexemplar, weist dagegen ausschließlich Korrekturen von Debussy selbst auf. Kurzzeitig muss Debussy auch Zugang zu K1 gehabt haben, denn einige wenige Einträge sind dort eindeutig von seiner Hand. Beide Korrekturexemplare dienten als Vorlage für die korrigierte Neuauflage, die 1904 erschien. Probleme bereiten naturgemäß die Stellen, in denen sich diese Neuauflage von K1 und/oder K2 unterscheidet. Eine dieser Stellen findet sich im zweiten Satz in Takt 124. Im Autograph sieht Debussy p für alle Instrumente vor:
Genauso wurde die Stelle in der Erstausgabe (Partitur und Stimmen) gedruckt. In K1 findet sich von fremder Hand die Änderung zu pp für 2. Violine, Viola und Cello:
Debussy notierte in K2 die Änderung zu pp jedoch nur für 2. Violine und Viola:
Unklar bleibt der Zeitpunkt, zu dem Debussy seine Eintragung vornahm: Benutzte er K1 als Vorlage oder notierte er seine Korrektur bereits zuvor, ohne die Einträge in K1 zu kennen? Im ersten Fall wäre ein Versehen bei der Übertragung nicht auszuschließen (das pp hätte er dann für die Cellostimme nur vergessen), im zweiten Fall müsste man eher von einem bewussten Nichtändern der Cello-Dynamik ausgehen. In der Neuauflage der Partitur wurde die Korrektur der Dynamik nicht berücksichtigt (ausgeführt ist dagegen Debussys Bogenkorrektur für die Violastimme), und in der entsprechenden Stimmenausgabe hat nur die 2. Violine pp, sie hilft also für die Klärung auch nicht weiter.
Nun nahm der unbekannte Korrektor in K1 seinen Eintrag sicherlich nicht ohne Referenz vor. Offenbar ging es ihm um die Angleichung an analoge Stellen (Takt 56 und erneut Takt 70), wo ebenfalls die 1. Violine die Melodie p und expressif über pp-Begleitfiguren der anderen Streicher vorträgt:
Ulrich Krämer, der Herausgeber unserer Streichquartett-Edition entschied sich für die Übernahme der Korrektur aus K1 als die wahrscheinlichste Variante, aber die Version in K2 (mit einer dynamischen Zurückstufung nur der mittleren Stimmen) ist ebenso wenig auszuschließen wie die bewusste Tilgung der Dynamik-Korrekturen in K1/K2 in den nicht erhaltenen Fahnen zur Neuauflage (dann wäre das pp für die 2. Violine in den Stimmen nur aus Versehen stehen geblieben).
Solche ungeklärten Fragen ergeben sich natürlich auch bei anderen Komponisten, aber bei Debussy insofern in verschärfter Form, als er die Arbeit an einigen seiner Werke nie wirklich abschließen konnte. Über die Gültigkeit von zum Teil sich widersprechenden Korrekturen in seinem Orchesterwerk Nocturnes soll er gesagt haben, es handle sich „um verschiedene Möglichkeiten“, die man nach eigenem Ermessen auswählen könne …