Clau­de De­bus­sy (1862–1918)

Es ver­steht sich, dass zu Be­ginn der De­bus­sy-Edi­tio­nen im Hen­le-Ver­lag die Kla­vier­wer­ke des fran­zö­si­schen Kom­po­nis­ten im Fokus stan­den. Zum einen aus dem Selbst­ver­ständ­nis des Ver­lags her­aus, bei dem Kla­vier­mu­sik von An­fang an das Kern­re­per­toire des Pro­gramms bil­de­te, zum an­de­ren aber auch wegen der gro­ßen Menge an weg­wei­sen­den und po­pu­lä­ren Kom­po­si­tio­nen De­bus­sys in die­sem Gat­tungs­be­reich – von den Ara­bes­ques bis zu den Études.

Ab­ge­se­hen vom Son­der­fall des frü­hen Kla­vier­tri­os, das 1986, nur we­ni­ge Jahre nach der Wie­der­ent­de­ckung der au­to­gra­phen Quel­len, als Erst­aus­ga­be er­schei­nen konn­te (HN 379), muss­te daher De­bus­sys Kam­mer­mu­sik – ins­ge­samt nur neun, aber teil­wei­se sehr ge­wich­ti­ge Opera – war­ten, bis die Haupt­wer­ke der Kla­vier­mu­sik im Ur­text vor­la­gen. Ab den 1990er-Jah­ren er­schie­nen dann nach­ein­an­der Sy­rinx für Flöte solo (HN 496), die bei­den spä­ten So­na­ten für Vio­li­ne (HN 410) und Cello (HN 633) und die bei­den Stü­cke für Kla­ri­net­te Première Rhap­so­die und Pe­ti­te Pièce (HN 789). Es folg­te das Scher­zo (auch als Noc­turne et Scher­zo be­kannt) für Cello und Kla­vier, das zu­sam­men mit einem In­ter­mez­zo (dem 4. Satz einer ver­lo­re­nen Suite für Vio­lon­cel­lo und Or­ches­ter, von De­bus­sy be­ar­bei­tet für Cello und Kla­vier) ediert wurde (HN 945). Die bei­den letz­ten Kam­mer­mu­sik­wer­ke, auf die ich nach­fol­gend näher ein­ge­hen möch­te, wur­den recht­zei­tig zum Ju­bi­lä­ums­jahr 2012 nach­ge­lie­fert: die So­na­te für Flöte, Viola und Harfe (HN 1026) und das Streich­quar­tett (Stim­men­aus­ga­be HN 999, Par­ti­tur HN 9999). Damit ist Henle bis heute der ein­zi­ge Ver­lag, der De­bus­sys ge­sam­te Kam­mer­mu­sik in Ur­text-Aus­ga­ben an­bie­ten kann.

In­nen­ti­tel der Erst­aus­ga­be der So­na­te für Flöte, Viola und Harfe (Du­rand 1916)

Im Som­mer 1915 nahm De­bus­sy ein Groß­pro­jekt in An­griff, das sechs So­na­ten für ver­schie­de­ne kam­mer­mu­si­ka­li­sche Be­set­zun­gen im Geis­te der klas­si­schen fran­zö­si­schen Tra­di­ti­on um­fas­sen soll­te. Davon konn­te er krank­heits­be­dingt nur noch drei Werke aus­füh­ren, wobei die zwei­te So­na­te (für Flöte, Viola und Harfe) al­lein schon durch ihre au­ßer­ge­wöhn­li­che Be­set­zung her­aus­sticht. Sie ist durch ihren apar­ten, leicht me­lan­cho­li­schen Klang wohl die schöns­te der drei spä­ten So­na­ten, aber zu­gleich auch die un­be­kann­tes­te, denn Werke mit Harfe fris­ten im Kam­mer­mu­sik­be­trieb nach wie vor nur ein Schat­ten­da­sein.

Ich möch­te nach­fol­gend auf eine be­son­de­re Stel­le im Fi­na­le ein­ge­hen (Erst­aus­ga­be, Takte 72–73):

Takte 72–73 der Erst­aus­ga­be

Wer De­bus­sys schon sehr früh aus­ge­präg­te Kom­po­si­ti­ons­wei­se in „Mo­du­len“ mit un­ver­än­der­ter Wie­der­ho­lung von einem oder meh­re­ren Tak­ten kennt, wird hier stut­zig. Alle Noten sind gleich, nur die Viola hat in Takt 73 zu Be­ginn eine Ach­tel­pau­se an­stel­le zwei­er Sech­zehn­tel­no­ten d1. Das Au­to­graph zeigt an die­ser Stel­le eine Kor­rek­tur: Ur­sprüng­lich no­tier­te De­bus­sy für die Viola auch in Takt 73 ein d1, noch deut­lich an der Bal­kung er­kenn­bar, tilg­te da­nach die Note durch Rasur und no­tier­te statt­des­sen eine Ach­tel­pau­se:

Takte 72–73 im Au­to­graph

Phi­lo­lo­gisch er­gibt sich damit ein kla­rer Sach­ver­halt: Au­to­graph (nach Kor­rek­tur) sowie zwei­fel­los auch die nicht er­hal­te­ne Stich­vor­la­ge (eine ver­schol­le­ne Ab­schrift des Au­to­graphs) und Erst­aus­ga­be wei­sen den glei­chen mu­si­ka­li­schen Text auf. Geht man nun einen Schritt zu­rück und sieht sich diese Stel­le in den er­hal­te­nen Skiz­zen (Win­ter­thu­rer Bi­blio­the­ken, Samm­lung Win­ter­thur, Dep RS 11/2c) an, lässt sich er­ken­nen, dass De­bus­sy die bei­den Takte zu­nächst so no­tier­te, wie sie spä­ter im Druck er­schie­nen, das heißt mit einer Note auf der Eins in Takt 72 (al­ler­dings auf an­de­rer Ton­hö­he, a statt d1), dann aber diese Note zu Guns­ten einer Pause strich:

Takte 72–73 in der Skiz­ze

Of­fen­bar hat De­bus­sy diese auf den ers­ten Blick un­kom­pli­zier­te Pas­sa­ge der Viola ge­hö­ri­ges Kopf­zer­bre­chen be­rei­tet. Sche­ma­tisch fol­gen diese drei Ver­sio­nen auf­ein­an­der (in Klam­mern je­weils der Be­fund in Takt 72 / Takt 73 auf Zähl­zeit Eins):
In einer Ur­text-Edi­ti­on muss hier selbst­ver­ständ­lich die letz­te Ver­si­on (die zu­gleich auch die erste war) ab­ge­druckt wer­den. Also kein Pro­blem – oder doch?

Wie aus an­de­ren Fäl­len be­kannt, hat De­bus­sy häu­fig ge­än­der­te Takte der Hand­schrif­ten vor oder wäh­rend der Druck­le­gung noch­mals ge­än­dert, manch­mal al­ler­dings auch noch da­nach. Für die Har­fen­so­na­te ist kein Do­ku­ment einer nach­träg­li­chen Än­de­rung die­ser Stel­le be­kannt, den­noch bleibt ein Rest von Un­si­cher­heit: Kön­nen wir si­cher sein, dass der da­mals be­reits schwer­kran­ke De­bus­sy, hätte sich die Ge­le­gen­heit zu einer in­ten­si­ve­ren Durch­sicht des Drucks er­ge­ben, sie nicht doch im Sinne einer An­glei­chung ge­än­dert hätte? Um die­ser Un­si­cher­heit Rech­nung zu tra­gen, ist in der Hen­le-Aus­ga­be ein Ver­weis auf die Be­mer­kun­gen hin­zu­ge­setzt, wo die Än­de­run­gen in den hand­schrift­li­chen Quel­len er­läu­tert wer­den, und zwar mit dem aus­drück­li­chen Hin­weis, dass sich nicht aus­schlie­ßen lasse, dass beide Takte in der Erst­aus­ga­be gleich sein sol­len. Viola­spie­ler, die beide Takte lie­ber gleich aus­füh­ren möch­ten, brau­chen dem­nach kein schlech­tes Ge­wis­sen zu haben.

Titel der Erst­aus­ga­be des Streich­quar­tetts (Du­rand 1894)

Apro­pos Än­de­run­gen nach der Druck­le­gung. Ein Pa­ra­de­bei­spiel dazu liegt mit dem 1894 er­schie­ne­nen Streich­quar­tett vor. Es haben sich zwei Kor­rek­tur­ex­em­pla­re die­ser ers­ten Aus­ga­be er­hal­ten. Das erste (K1) weist Ein­trä­ge un­ter­schied­li­cher Schrei­ber auf und hatte wohl die Funk­ti­on eines Re­dak­ti­on­s­ex­em­plars im Ver­lag. Das zwei­te (K2), eine Art Hand­ex­em­plar, weist da­ge­gen aus­schließ­lich Kor­rek­tu­ren von De­bus­sy selbst auf. Kurz­zei­tig muss De­bus­sy auch Zu­gang zu K1 ge­habt haben, denn ei­ni­ge we­ni­ge Ein­trä­ge sind dort ein­deu­tig von sei­ner Hand. Beide Kor­rek­tur­ex­em­pla­re dien­ten als Vor­la­ge für die kor­ri­gier­te Neu­auf­la­ge, die 1904 er­schien. Pro­ble­me be­rei­ten na­tur­ge­mäß die Stel­len, in denen sich diese Neu­auf­la­ge von K1 und/oder K2 un­ter­schei­det. Eine die­ser Stel­len fin­det sich im zwei­ten Satz in Takt 124. Im Au­to­graph sieht De­bus­sy p für alle In­stru­men­te vor:

Au­to­graph, 2. Satz, Takte 119–124

Ge­nau­so wurde die Stel­le in der Erst­aus­ga­be (Par­ti­tur und Stim­men) ge­druckt. In K1 fin­det sich von frem­der Hand die Än­de­rung zu pp für 2. Vio­li­ne, Viola und Cello:

Än­de­run­gen in K1

De­bus­sy no­tier­te in K2 die Än­de­rung zu pp je­doch nur für 2. Vio­li­ne und Viola:

De­bus­sys Ein­tra­gun­gen in K2

Un­klar bleibt der Zeit­punkt, zu dem De­bus­sy seine Ein­tra­gung vor­nahm: Be­nutz­te er K1 als Vor­la­ge oder no­tier­te er seine Kor­rek­tur be­reits zuvor, ohne die Ein­trä­ge in K1 zu ken­nen? Im ers­ten Fall wäre ein Ver­se­hen bei der Über­tra­gung nicht aus­zu­schlie­ßen (das pp hätte er dann für die Cel­lo­stim­me nur ver­ges­sen), im zwei­ten Fall müss­te man eher von einem be­wuss­ten Nich­tän­dern der Cel­lo-Dy­na­mik aus­ge­hen. In der Neu­auf­la­ge der Par­ti­tur wurde die Kor­rek­tur der Dy­na­mik nicht be­rück­sich­tigt (aus­ge­führt ist da­ge­gen De­bus­sys Bo­gen­kor­rek­tur für die Vio­la­stim­me), und in der ent­spre­chen­den Stim­men­aus­ga­be hat nur die 2. Vio­li­ne pp, sie hilft also für die Klä­rung auch nicht wei­ter.

Nun nahm der un­be­kann­te Kor­rek­tor in K1 sei­nen Ein­trag si­cher­lich nicht ohne Re­fe­renz vor. Of­fen­bar ging es ihm um die An­glei­chung an ana­lo­ge Stel­len (Takt 56 und er­neut Takt 70), wo eben­falls die 1. Vio­li­ne die Me­lo­die p und ex­pres­sif über pp-Be­gleit­fi­gu­ren der an­de­ren Strei­cher vor­trägt:

Ana­lo­ge Stel­le T. 56

Ul­rich Krä­mer, der Her­aus­ge­ber un­se­rer Streich­quar­tett-Edi­ti­on ent­schied sich für die Über­nah­me der Kor­rek­tur aus K1 als die wahr­schein­lichs­te Va­ri­an­te, aber die Ver­si­on in K2 (mit einer dy­na­mi­schen Zu­rück­stu­fung nur der mitt­le­ren Stim­men) ist eben­so wenig aus­zu­schlie­ßen wie die be­wuss­te Til­gung der Dy­na­mik-Kor­rek­tu­ren in K1/K2 in den nicht er­hal­te­nen Fah­nen zur Neu­auf­la­ge (dann wäre das pp für die 2. Vio­li­ne in den Stim­men nur aus Ver­se­hen ste­hen ge­blie­ben).

Sol­che un­ge­klär­ten Fra­gen er­ge­ben sich na­tür­lich auch bei an­de­ren Kom­po­nis­ten, aber bei De­bus­sy in­so­fern in ver­schärf­ter Form, als er die Ar­beit an ei­ni­gen sei­ner Werke nie wirk­lich ab­schlie­ßen konn­te. Über die Gül­tig­keit von zum Teil sich wi­der­spre­chen­den Kor­rek­tu­ren in sei­nem Or­ches­ter­werk Noc­turnes soll er ge­sagt haben, es hand­le sich „um ver­schie­de­ne Mög­lich­kei­ten“, die man nach ei­ge­nem Er­mes­sen aus­wäh­len könne …

Dieser Beitrag wurde unter Debussy, Claude, Lesart, Montagsbeitrag abgelegt und mit , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert