An­ge­sichts der Tat­sa­che, dass ge­ra­de bei Wer­ken des 19. Jahr­hun­derts die Erst­aus­ga­be oft die wich­tigs­te Quel­le für die Edi­ti­on ist, könn­te man die Frage auf­wer­fen, warum wir un­se­re Ur­text­aus­ga­ben über­haupt neu set­zen – wo man doch so schön den Ori­gi­nal­druck ab­bil­den und die paar Feh­ler, die darin sind, ein­fach durch eine Re­tu­sche kor­ri­gie­ren könn­te. Aber mal ganz ab­ge­se­hen davon, dass die nö­ti­gen Kor­rek­tu­ren in vie­len Fäl­len eben doch gar nicht im ori­gi­na­len Lay­out rea­li­sier­bar wären, kommt hier das Wört­chen „mo­dern“ ins Spiel, mit dem sich (auch) un­se­re Ur­text­aus­ga­ben schmü­cken.

Denn eine mo­der­ne Ur­text­aus­ga­be bie­tet eben nicht nur einen nach ak­tu­el­lem For­schungs­stand ge­si­cher­ten No­ten­text, son­dern sie prä­sen­tiert die­sen auch in einer zeit­ge­mä­ßen, nor­mier­ten Dar­stel­lung. Schu­manns Lie­deral­ben bie­ten dafür ein be­son­ders gutes Bei­spiel, denn hier kommt zum rei­nen No­ten­satz auch Ge­sangs­text hinzu. Der Ver­gleich der 1840 bei Kist­ner in Leip­zig er­schie­ne­nen Erst­aus­ga­be mit un­se­rer brand­neu­en Ur­text­aus­ga­be von Schu­manns Myr­t­hen op. 25 macht die Un­ter­schie­de un­mit­tel­bar deut­lich:

Myr­t­hen, Aus­schnitt aus Nr. 13, links Erst­aus­ga­be, rechts Ur­text­aus­ga­be
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Neben der Kor­rek­tur von zwei ve­ri­ta­blen Text­feh­lern der Erst­aus­ga­be in T. 8 („Nord“ statt „Ort“) und 10 („in“ statt „im“) nimmt un­se­re Aus­ga­be Kor­rek­tu­ren der Recht­schrei­bung („wand’re“ statt „Wand’re“) und ge­stal­te­ri­sche Ver­bes­se­run­gen vor (wie die kon­se­quen­te Un­ter­schei­dung zwi­schen mit­tig ge­setz­tem Trenn­strich zwi­schen zwei Sil­ben und auf der Grund­li­nie ste­hen­dem Fort­set­zungs­strich am Ende eines Wor­tes). Wei­te­re Ab­wei­chun­gen be­tref­fen die heute in prak­ti­schen Ur­text­aus­ga­ben üb­li­che Mo­der­ni­sie­rung der Recht­schrei­bung, wo­durch z. B. in T. 11 „Mu­thes“ zu „Mutes“ wird.

Hin­ter die­ser im Ka­pi­tel „Zur Edi­ti­on“ nur in einem Satz er­wähn­ten Mo­der­ni­sie­rung ver­birgt sich al­ler­dings immer auch ei­ni­ges Kopf­zer­bre­chen, denn selbst­ver­ständ­lich dür­fen diese – der leich­te­ren Les­bar­keit die­nen­den – Ein­grif­fe nicht in Wi­der­spruch zu Schu­manns kom­po­si­to­ri­schen In­ten­tio­nen ge­ra­ten. So hält un­se­re Schu­mann-Her­aus­ge­be­rin Ka­zu­ko Ozawa ein­schrän­kend fest, dass die von Schu­mann ge­gen­über den Text­vor­la­gen häu­fig ver­än­der­te Set­zung von Apo­stro­phen und Kom­mas bei­be­hal­ten wird. Auch ein durch eine al­ter­tüm­li­che Schreib­wei­se an­ders klin­gen­des Wort – wie z. B. „hie­her“ statt „hier­her“ im „Wan­der­lied“ aus den Ker­ner-Lie­dern op. 35 – würde selbst­ver­ständ­lich nicht mo­der­ni­siert wer­den, da dies ja Schu­manns Klang­vor­stel­lung ent­ge­gen­stün­de.

Mit die­ser Leit­li­nie sind wir bei Henle in un­se­ren Schu­mann-Al­ben immer gut ge­fah­ren: Von der Dich­ter­lie­be über Frau­en­lie­be und Leben (wie Schu­mann von Cha­mis­sos Vor­la­ge ab­wei­chend schreibt!) und die bei­den Lie­der­krei­se op. 24 und 39 bis zu den Ker­ner-Lie­dern. Aber in den jüngst er­schie­ne­nen Myr­t­hen stan­den wir auf ein­mal vor einem Pro­blem: bei Schu­manns Ver­to­nung des „Räth­sels“ über den Buch­sta­ben „h“. Das frü­her fälsch­lich Lord Byron zu­ge­schrie­be­ne „Ridd­le about the let­ter h“ stammt von Ca­the­ri­ne Maria Fan­s­haw und wurde von Fried­rich Lud­wig Kan­ne­gie­ßer kon­ge­ni­al ins Deut­sche über­tra­gen.

Die ers­ten Zei­len von Kan­ne­gie­ßers Ge­dicht lau­ten: „Es flüs­tert’s der Him­mel, es murrt es die Hölle, / Nur schwach klingt’s nach in des Echo’s Welle, / Und kommt es zur Fluth, so wird es stumm, / Auf den Höhen, da hörst du sein zwie­fach Ge­summ.“ Auch wenn man es nicht hört, muss das ori­gi­na­le „th“ in „Fluth“ na­tür­lich er­hal­ten blei­ben, damit man den Text ver­steht – und nicht nur die­sen: Auch die raf­fi­nier­ten mu­si­ka­li­schen Be­zü­ge des – na­tür­lich in H-dur ge­setz­ten – Lie­des auf den (Ton-)Buch­sta­ben „h“ er­schlie­ßen sich nur so.

Am Ende geht Schu­mann sogar ganz ei­ge­ne Wege, wenn er den ori­gi­na­len Ge­dicht­schluss („Im Schat­ten birgt sich’s, im Blüm­chen auch; / Du hauchst es täg­lich, es ist nur ein Hauch.“) zu einer Frage um­wan­delt, die rein mu­si­ka­lisch be­ant­wor­tet wird:

Aus­schnitt aus Myr­t­hen, Nr. 16, Ur­text­aus­ga­be
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Wir haben uns daher ent­schlos­sen, bei die­sem Lied aus­nahms­wei­se die ori­gi­na­le Recht­schrei­bung zu über­neh­men. In der Hoff­nung, dass auch und ge­ra­de eine mo­der­ne Ur­text­aus­ga­be die­sen klei­nen Ana­chro­nis­mus ver­trägt.

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