Es kommt äu­ßerst sel­ten bei uns vor, dass wir eine ve­ri­ta­ble Erst­aus­ga­be ver­öf­fent­li­chen kön­nen. Mit mei­ner Ur­text­aus­ga­be der drei Kla­vier­trio-Frag­men­te KV 442 von Mo­zart (HN 1379) war es vor we­ni­gen Wo­chen ein­mal wie­der so­weit. Im An­hang die­ser Edi­ti­on bie­ten wir völ­lig un­be­kann­te Musik für die Be­set­zung Kla­vier­trio: einen gut 350 Takte lan­gen, gut ge­mach­ten, recht leicht zu spie­len­den Satz in D-dur. Der Autor? Tja, das ist die Frage. Nein, Mo­zart ist es nicht, so wie auch die un­glück­se­li­ge Kö­chel­num­mer KV 442 ein drei­sät­zi­ges Kla­vier­trio von Mo­zart vor­gau­kelt, das es so nie ge­ge­ben hat.

Aber der Reihe nach: Mo­zart hat meh­re­re Frag­ment ge­blie­be­ne Kla­vier­trio-Sät­ze hin­ter­las­sen. Dar­un­ter fin­det sich ein Al­le­gro in D-dur („KV 442“, Nr. 3), das „eines der groß­ar­tigs­ten Frag­men­te Mo­zart­scher Kam­mer­mu­sik [ist …], groß­ar­tig selbst noch in der Er­gän­zung Stad­lers“ (Wolf­gang Rehm im Vor­wort sei­ner Aus­ga­be für die Neue Mo­zart-Aus­ga­be). Abbé Ma­xi­mi­li­an Stad­ler hat be­kannt­lich et­li­che Kom­po­si­tio­nen sei­nes Freun­des Mo­zart auf Wunsch der Witwe Con­stan­ze ver­voll­stän­digt und dann dru­cken las­sen. Im Falle der Kla­vier­trio-Frag­men­te waren das:

  • be­sag­ter wun­der­vol­ler Satz in D-dur (169 ori­gi­na­le Takte, bis zum Be­ginn der Re­pri­se na­he­zu voll­stän­dig aus­ge­führt; frü­hes­tens 1787 kom­po­niert und un­voll­endet lie­gen ge­las­sen („KV 442/3“)
  • ein wei­te­rer Al­le­gro-Satz, in d-moll (nur 50 Takte, etwa 1785); wie der erst­ge­nann­te ein ty­pi­scher Kopf­satz („KV 442/1“)
  • und ein „Tempo di Me­nu­et­to“ in G-dur (150 Takte, 1786); hier­bei han­delt es sich um den bei­sei­te­ge­leg­ten ers­ten Ver­such zum Fi­na­le des be­kann­ten Kla­vier­tri­os KV 496 in G-dur („KV 442/2“)

Es war die un­se­li­ge Idee Georg Ni­ko­laus Nis­sens, dem zwei­ten Ehe­mann von Con­stan­ze Mo­zart, diese drei, in­zwi­schen von Stad­ler ver­voll­stän­dig­ten Ein­zel­sät­ze zu einem voll­wer­ti­gen, drei­sät­zi­gen Kla­vier­trio zu­sam­men­zu­fas­sen und in die­ser Form beim Ver­le­ger André in Of­fen­bach zu ver­öf­fent­li­chen. Na­tür­lich weder mit einem Hin­weis dar­auf, dass der Groß­teil die­ser Musik nicht von Mo­zart (son­dern von Stad­ler!) stammt, noch, dass Mo­zart diese 3 Sätze nie als Ein­heit be­trach­te­te. Alle De­tails zu den Quel­len und auch nö­ti­ge Rich­tig­stel­lun­gen zur in allen bis­he­ri­gen Ver­öf­fent­li­chun­gen völ­lig falsch dar­ge­stell­ten Erst­aus­ga­be fin­den sich im Vor­wort und im Kri­ti­schen Be­richt mei­ner Aus­ga­be. Zu allem Über­fluss er­hielt diese Aus­ga­be Andrés dann eine ei­ge­ne Kö­chel­num­mer, eben die 442 – heute wür­den wir dabei von „fake news“ spre­chen.

Ro­bert Levin

Mo­zarts frag­men­ta­ri­sche Tri­o­sät­ze sind in der Er­gän­zung Stad­lers zwei­fel­los eine Be­rei­che­rung des Re­per­toires, wes­halb ich immer schon vor­hat­te, sie bei Henle her­aus­zu­brin­gen. Da mein Freund Ro­bert Levin, mit dem zu­sam­men ich u.a. schon einen an­de­ren Frag­men­te-Band Mo­zarts her­aus­ge­bracht hatte (näm­lich die Vio­lin­so­na­ten-Frag­men­te, HN 1039), genau diese 3 Tri­o­sät­ze eben­falls ver­voll­stän­digt vor­lie­gen hatte, be­schlos­sen wir, zu­sätz­lich zu Stad­lers (be­kann­ten) Er­gän­zun­gen auch Le­vins zu ver­öf­fent­li­chen. Be­son­ders schön ist, dass Ro­bert Levin „sein KV 442“ ge­ra­de zu­sam­men mit der Gei­ge­rin Hil­ary Hahn und dem Cel­lis­ten Alain Meu­nier bei Le Pa­lais des Dégusta­teurs auf­ge­nom­men hat (dazu KV 496). Diese CD wird in we­ni­gen Wo­chen er­hält­lich sein. Auf Youtube kann man schon einen Vor­ge­schmack er­hal­ten: hier der wun­der­vol­le D-dur-Satz KV „442/3“ –  Le­vins Er­gän­zung ab 5:24, ei­ni­ge in Mo­zarts Au­to­graph feh­len­de Strei­cher­tak­te be­reits davor in Le­vins Er­gän­zung). Es ver­steht sich, dass in mei­ner Aus­ga­be sämt­li­che er­gänz­ten Teile klar und deut­lich als sol­che ge­kenn­zeich­net sind, also Mo­zarts „ori­gi­na­ler“ An­teil je­weils klar er­sicht­lich ist.

Abbé Ma­xi­mi­li­an Stad­ler (17481833)

Ich hatte meine Edi­ti­on schon weit­ge­hend ab­ge­schlos­sen, als die Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz eine bis­lang völ­lig un­be­kann­te Ab­schrift zu „KV 442“ in her­vor­ra­gen­der Re­pro­duk­ti­on und bi­blio­the­ka­ri­scher Er­schlie­ßung ver­öf­fent­lich­te. „Schein­bar KV 442“ – denn ich staun­te nicht schlecht, als klar wurde, dass es sich ers­tens um Stad­lers ei­ge­ne Hand­schrift han­delt, dass er zwei­tens Mo­zarts ori­gi­na­le Takte sowie seine ei­ge­nen Er­gän­zun­gen ab­schrieb (für die­sen Teil han­delt es sich also um ein Au­to­graph, denn Schrei­ber und Autor fal­len in­eins) und dass er vor allem den d-moll-Satz Mo­zarts, den ers­ten Satz in Andrés Erst­aus­ga­be, schlicht weg­lässt. Stad­ler stellt sein ganz ei­ge­nes „Kla­vier­trio“ zu­sam­men: „KV 442/3“ – „KV 442/2“ – und eine un­be­kann­te Kom­po­si­ti­on (Al­le­gro in D-dur), von der wir drin­gend davon aus­ge­hen müs­sen, dass es sich um eine ei­ge­ne Schöp­fung Stad­lers han­delt. Wer sonst soll­te in die­sem Kon­text der Ge­schich­te zu „KV 442“ den so pas­sen­den Satz bei­ge­steu­ert haben? Diese span­nen­de, neue Quel­le wird im Kri­ti­schen Be­richt mei­ner Ur­text­aus­ga­be unter dem Sie­gel „AB1“ genau be­schrie­ben und be­ur­teilt.

Bis­lang un­be­kann­tes Al­le­gro D-dur in der Ber­li­ner Hand­schrift

Und just die­ses Al­le­gro Stad­lers haben wir also jetzt als ge­druck­te Erst­aus­ga­be her­aus­ge­bracht. Seit weit mehr als einem Jahr­hun­dert kann diese Musik nicht mehr er­klun­gen sein, denn die Noten schlum­mern seit etwa 1830 im Ar­chiv der Ber­li­ner Bi­blio­thek. Die­ser ist der Fund und der öf­fent­li­che Zu­gang zur Quel­le zu dan­ken.

Mu­si­ker in aller Welt soll­ten den Satz durch­aus spie­len. Es han­delt sich um gute Musik, kom­po­si­to­risch-hand­werk­lich ein­wand­frei ge­macht, die Strei­cher in den do­mi­nan­ten Kla­vier­satz gut ein­ge­bun­den – sonst hät­ten wir sie nicht ge­druckt. Na­tür­lich nicht auf dem Ni­veau eines Mo­zart, aber wer bitte nähme das für sich in An­spruch? Und es macht vor allem gro­ßen Spaß sie zu spie­len. Wir sehen einen aus­führ­li­chen So­na­ten­satz mit zwei äu­ßerst ein­gän­gi­gen, fast kind­lich-nai­ven The­men, ge­schickt ver­ar­bei­tet unter Ein­be­zie­hung der bei­den Strei­cher, in mehr als 100 Tak­ten Durch­füh­rung aus­führ­lich ver­ar­bei­tet.

Zu sei­ner Zeit galt Abbé Ma­xi­mi­li­an Stad­ler „als einer der größ­ten Cla­vier und Or­gel­spie­ler … und her­vor­ra­gen­der ös­ter­rei­chi­scher Ton­set­zer“ (All­ge­mei­ne Deut­sche Bio­gra­phie, Bd. 54, 1908, S. 429 ff.). Dank un­se­rer Aus­ga­be kann sich nun jeder Mu­si­ker ein Bild davon ma­chen, wie stil­si­cher er ei­ner­seits Mo­zarts frag­men­ta­ri­sche Vor­la­gen ver­voll­stän­dig­te, aber auch wie gut er selbst „im Stile Mo­zarts“ zu kom­po­nie­ren ver­stand. Gerne höre ich erste Mei­nun­gen aus dem Kreis un­se­rer Blog-Le­ser zu die­sem Fund.

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