Vor einigen Wochen berichtete meine Kollegin Annette Oppermann über die Anfänge der Beethoven-Gesamtausgaben oder besser gesagt: über die zahlreichen Versuche dazu, wobei die unmittelbar nach Beethovens Tod begonnenen Unternehmungen von Tobias Haslinger (ab 1828) und Franz Philipp Dunst (ab 1829) am weitesten gediehen. Daran anknüpfend möchte ich im Folgenden über Unternehmungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichten. Aus Umfangsgründen werde ich mich auf die beiden bedeutendsten dieser Editionen konzentrieren, die die Musikwelt unter den Bezeichnungen „Alte Gesamtausgabe“ (AGA, 1862–65) und „Neue Gesamtausgabe“ (NGA, seit 1961) kennt.
Nach 1850 nahm das Interesse an Beethovens Musik enorm zu, fast möchte man sagen: Mit jedem Jahr, mit dem man sich von seiner Lebenszeit entfernte, steigerte sich sein Ansehen bis zum allgemeinen Konsens, es handle sich um den größten Komponisten des Jahrhunderts – wobei die Heroisierung Hand in Hand mit der wachsenden Popularität ging. Das bedeutete für die Musikverleger, dass Beethoven-Ausgaben zum Selbstläufer wurden und wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden sprossen. Der als Mozart-Biograph bekannte Otto Jahn schätzte 1864 sogar, dass „die Gesammtheit der beethovenschen Compositionen, welche in einem Jahr durch den Musikhandel vertrieben werden, alle übrigen Musikalien, welche im selben Jahr verkauft werden“, aufwiegen könnten.
So mangelte es denn nicht an neuen Einzelausgaben, erst recht nicht an neuen Serien von Werkausgaben, insbesondere im Bereich der Klavier- und Kammermusik. Um das Kaufinteresse zu erregen, musste man sich freilich von der Konkurrenz absetzen. Dazu gab es mehrere Möglichkeiten: die angebliche Vollständigkeit der Kompositionen (absolut oder auf eine Werkgruppe bezogen), der günstige Preis, die Mitarbeit eines prominenten Musikers oder die Originalität der Besetzung, wenn es um Bearbeitungen ging. Ein Beispiel für solche heute weitgehend vergessenen Versuche bietet die Ausgabe des Wolfenbütteler Verlags Ludwig Holle mit L. van Beethoven’s sämmtlichen Compositionen, die ab 1857 „unter Revision von Dr. Franz Liszt“ erschien und – wen wundert’s – wie seinerzeit die Haslinger-Ausgabe unvollständig blieb.
Zeitgleich wuchs auch das Interesse an der Qualität des Notentexts. Dennoch war die Realisierung einer vollständigen Edition der Werke nach philologischen Kriterien, wie sie in der Alten Gesamtausgabe ab 1862 unternommen wurde, alles andere als selbstverständlich. Die ersten Gesamtausgaben in unserem heutigen Sinne mit den bei Breitkopf & Härtel erschienenen Werken von J. S. Bach (ab 1851) und Händel (ab 1858) waren noch dem alten Denkmäler-Gedanken aus dem 18. Jahrhundert verpflichtet. Es ging nicht zuletzt um eine möglichst vollständige Edition, da zu befürchten war, dass viele der nur handschriftlich überlieferten Kompositionen irgendwann für immer verloren wären. Im Falle Beethovens, dessen Tod um 1860 ja erst gut 30 Jahren zurücklag und dessen Werke, soweit sie zu Lebzeiten oder aus dem Nachlass veröffentlicht waren, fest im Musikleben verankert waren, spielte die Sicherung von gefährdeten Werken nur eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund standen vielmehr Vollständigkeit und Korrektheit, und die Zielgruppe war nicht ein relativ kleiner Kreis von Musikliebhabern und -forschern wie dies noch bei Bach und Händel der Fall war, sondern, wie es Jahn in seinem bereits zitierten Aufsatz Beethoven und die Ausgaben seiner Werke ausdrückte, das „gesammte musicalische Publikum“.
Nur vor diesem Hintergrund konnte Breitkopf & Härtel ein solches Mammutunternehmen aus eigener Initiative angehen. Allerdings hatte dieser Verlag auch die besten Voraussetzungen dazu: Er war Rechteinhaber eines nicht unbeträchtlichen Teils von Beethovens Werken, hatte genügend finanzielle Mittel, um die Lizenzen für die Kompositionen der anderen Originalverlage zu erwerben, und verfügte mit der Publikation des ersten Werkverzeichnisses (Thematisches Verzeichniss sämmtlicher im Druck erschienenen Werke von Ludwig van Beethoven, 1851) auch über eine – zumindest für die bereits veröffentlichten Werke – verlässliche Basis für die Planung einer solchen Unternehmung. Der besondere Wert, der auf die Berechtigung zum Abdruck sämtlicher Werke gelegt wurde, drückt sich auch im Titel der Ausgabe aus: Ludwig van Beethoven’s Werke. Vollständige, kritisch durchgesehene überall berechtigte Ausgabe. Mit Genehmigung aller Originalverleger.
Die AGA erschien innerhalb von nur vier Jahren, 1862 bis 1865, in 24 Serien mit zusammen 262 Einzelnummern. Eine verblüffende verlegerische Leistung, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass während der zum Teil langwierigen Verhandlungen um die Lizenzen die Vorbereitungen der Bände bereits angelaufen waren. Um die Ausgabe auch für die Praxis nutzbar zu machen, waren alle in den 30 Bänden zusammengefassten Nummern auch einzeln erhältlich und zu den mehrstimmigen Werken erschien entsprechendes Stimmenmaterial.
Im Subskriptionsaufruf wurde mit den Merkmalen „Vollständigkeit, Aechtheit und Preis“ geworben.
Bei der „Vollständigkeit“ ging es um inzwischen vergriffene oder noch gar nicht veröffentlichte Werke. Davon dürfte die Musik zum Fest-Vorspiel „Ungarns erster Wohltäter“ („König Stephan“) op. 117 – zuvor war nur die Ouvertüre bekannt – wohl die bedeutendste Komposition darstellen. Als wesentlich ergiebiger im Hinblick auf Erstausgaben sollte sich der erst 1888 erschienene Supplementband erweisen, der 46 überwiegend bis dahin ungedruckte Werke umfasst, darunter die beiden großen „Kaiser“-Kantaten WoO 87 und 88. Bei der „Aechtheit“ wurde auf die „kritische Revision“ verwiesen, die im Wesentlichen aus der „genauen Vergleichung mit den vorhandenen Autographen und den ersten Originaldrucken“ bestand, aber soweit zugänglich auch Abschriften und handschriftliche Stimmen berücksichtigte. In der Praxis benutzten die „Revisoren“ – darunter damals sehr bekannte Musiker wie Ferdinand David, Julius Rietz oder Carl Reineke, unterstützt von Forschern wie Otto Jahn und Gustav Nottebohm – ihre reichen Aufführungserfahrungen, um zum Teil lange bekannte Fehler zu verbessern. Was den „Preis“ angeht, lag er zwar über dem der einfachen Nachdrucke der Konkurrenz, blieb aber günstig, wenn man die hohe Druckqualität des revidierten Notentexts in Rechnung zieht.
Die AGA blieb trotz Verbesserungen im Detail in den auf ihr basierenden praktischen Ausgaben für nahezu hundert Jahre die Referenzedition für Beethoven schlechthin. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Schock zahlreicher vernichteter Handschriften und Originaldrucke nachwirkte, war die Zeit reif für eine neue Gesamtausgabe. Dass diese neue, ab 1961 erscheinende Beethoven-Ausgabe dem damals noch sehr jungen Henle-Verlag anvertraut wurde, verblüfft nur auf den ersten Blick. Der Verlagsgründer Günter Henle hatte selbst die Gründung des Joseph-Haydn-Instituts zur Herausgabe der Haydn-Gesamtausgabe angeregt und verfügte über beste Kontakte zum Beethoven-Archiv in Bonn, das als Herausgeber der NGA verantwortlich zeichnet.
Auf zunächst nicht vorgesehene Weise fielen die letzten Ausläufer der AGA mit dem Beginn der NGA zeitlich zusammen. Der überaus rührige Beethoven-Forscher Willy Hess legte 1957 ein 335 Nummern (!) umfassendes Verzeichnis der nicht in der Gesamtausgabe veröffentlichten Werke Ludwig van Beethovens vor, das als Grundlage für seine insgesamt 14 Supplementbände zur AGA diente, die er bei Breitkopf und Härtel zwischen 1959 und 1971 herausgab. Der nur zwei Jahre später (1961) einsetzenden NGA kam er damit vor allem im Hinblick auf noch ausstehende unveröffentlichte Werke oder Werkteile (wie des Klavierauszugs des Ritterballetts WoO 1 oder der Originalgestalt des Rondos WoO 6) zuvor.
Der Titel der neuen Gesamtausgabe mutet mit Beethoven Werke genauso schlicht und bescheiden an wie die Formulierung der Aufgabe zu Beginn des Vorworts im ersten Band:
„Die Gesamtausgabe der Werke Beethovens soll alle vollendeten Kompositionen des Meisters umfassen. Der in ihr vorgelegte Text, der sich aus dem kritischen Vergleich aller wichtigen Quellen ergibt, soll die einzelnen Werke in einer Form wiedergeben, die den Absichten Beethovens möglichst genau entspricht.“
Dieses Ziel ist sicherlich nicht weit entfernt von dem, was seinerzeit die Revisoren der alten Gesamtausgabe im Sinne hatten – und doch, welch ein Unterschied in den Aufgaben und Ansprüchen, wenn man den Stand der Philologie im Allgemeinen sowie der Beethoven-Forschung im Besonderen vergleicht. Seit 1860 waren nicht nur weitere Handschriften wiederentdeckt, sondern auch die bislang weitgehend außer Acht gelassenen Skizzen und Entwürfe als Quellen erschlossen und teilweise auch publiziert worden. Außerdem lag mit dem 1955 im Henle-Verlag veröffentlichten Band Das Werk Beethovens. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner sämtlichen vollendeten Kompositionen von Georg Kinsky und Hans Halm, ergänzt durch das erwähnte Hess-Verzeichnis, ein Überblick über das Gesamtschaffen auf dem neuesten Stand vor. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Aspekt: Die AGA enthielt noch keine Revisionsberichte, wie sie für neuere wissenschaftlich-kritische Editionen selbstverständlich sind, um die konkreten Entscheidungen transparent zu machen. Die Kritischen Berichte der ersten 17 Bände der NGA wurden allerdings – ähnlich wie bei den zeitgleich erarbeiteten ersten Bänden anderer Gesamtausgaben – vom Notenteil abgetrennt, um ein zügiges Erscheinen dieser Notentexte zu ermöglichen. Selbstverständlich war an ein rasches Nachliefern der arbeitsaufwändigen Berichte gedacht, aber wie so oft in solchen Fällen, vergehen darüber nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte. Daher fehlen bis heute noch einige dieser Kritischen Berichte zu den frühen Editionen, aber seit 1977 werden sie immer zusammen mit dem Notenteil veröffentlicht.
Beim Editionsplan verfolgt die NGA eine geänderte Konzeption, wobei das leitende Kriterium von der Besetzung zur Gattung wechselte. So ergeben sich anstelle der 24 (mit dem Supplementband 25) Serien jetzt 13 Abteilungen. Die ursprünglich vorgesehenen 40 Bände wurden in den 1980er-Jahren aufgrund der Berücksichtigung auch von „Frühfassungen und authentischen Bearbeitungen, ferner größeren Fragmenten und umfangreicheren Entwürfen“ zum Gesamtumfang von nunmehr 56 Bänden erweitert, von denen aktuell 43 erschienen sind. Geplant ist die Fertigstellung der Ausgabe bis zum nächsten Jubiläumsjahr 2027. Der lange Editionszeitraum von dann 66 Jahren mag gegenüber den vier Jahren der alten Gesamtausgabe riesengroß erscheinen, aber ein Blick auf die Kritischen Berichte zeigt eindrücklich, welche immense Arbeit in diesen Editionen steckt, die – bei zunehmender Konkurrenz durch Urtext-Ausgaben anderer Verlage – sehr zeitaufwändig sowohl grundsätzliche Fragen lösen als auch allen Detailproblemen nachspüren müssen. Dass sich auch langes Warten lohnt, bezeugt der zuletzt erschienene Band in der NGA mit der 9. Symphonie, dessen Kritischer Bericht nicht weniger als 140 Seiten umfasst. Aber nur durch diesen Aufwand ist gewährleistet, dass die neue Gesamtausgabe wie zuvor die alte für lange Zeit die maßgebliche Beethoven-Edition darstellt.
Ich liebe den Satz “Was den „Preis“ angeht, lag er zwar über dem der einfachen Nachdrucke der Konkurrenz, blieb aber günstig, wenn man die hohe Druckqualität des revidierten Notentexts in Rechnung zieht”.
Jetzt, mehr als 150 Jahr nach dem Ersterscheinen, können wir die hohe Druckqualität noch immer nachempfinden als bald als man Bändchen der Kalmus Study Scores [Edwin F.Kalmus – Publisher of Music, New York] einsieht. Diese geben die Bände der AGA wieder auf 13 * 18 cm Grösse, aber sind für Studienzwecke sehr lesbar (und noch immer nützlich neben der NGA im allgemeinen und besonderes den kritischen Berichten).
Bezüglich Druckqualität des Notentextes: Was da so mancher “Verlag” an Schrott produziert erleben Orchestemusiker immer wieder einmal aufs Neue. Breitkopf hat wirklich (v.a. in den Orchesterstimmen) sehr gute Qualität, daher begrüße ich die Entscheidung dieser Zusammenarbeit sehr. Manche anderen Verlage schreiben auf Teufel komm raus alle Abbreviaturen aus, worunter oft die Übersichtlichkeit der Orchesterstimmen stark leidet. Auch Blätterstellen sind in Breitkopf-Stimmen in den allermeisten Fällen so großzügig bemessen, dass sie keinen Stress verursachen.
Wissenschaftlich kritische Ausgabe und aufführungspraktisches Material ist meiner Ansicht nach absolut kein Widerspruch. Nur durch beides zusammen kann sich eine Ausgabe gegen Konkurrenz wirklich durchsetzen und für lange Zeit zum Maßstab werden.
Nicht so toll finde ich, dass es von “Christus am Ölberge” (op. 85) und von den Kantaten (op. 136, WoO 87 und 88) nur Leihmaterial gibt. Käufliches Orchestermaterial würde die Anzahl der Aufführungen vermutlich um Einiges erhöhen.