Vor inzwischen fast genau 20 Jahren – ich hatte gerade meine Arbeit an der Edition der Missa solemnis für die Gesamtausgabe abgeschlossen – trat das Beethoven-Haus an mich heran, ob ich vielleicht Interesse hätte, zusammen mit einem Co-Editor den letzten Band der Klaviersonaten zu edieren. Man bot mir neben den drei späten Sonaten auch die Hammerklaviersonate an. Wer würde da nicht zugreifen!

Leider zeigte sich, dass meine damalige erste Begeisterung unbegründet war. Ich erledigte meine Arbeit, aber mein Co-Editor – ich nenne keine Namen – lieferte nicht. Der Band ist bis heute in der Gesamtausgabe nicht erschienen, ich habe meine Herausgeberschaft schon vor vielen Jahren daraufhin zurückgezogen. Immerhin konnte ich meine damals gewonnenen Erkenntnisse zur Entstehung und zu den Quellen der Hammerklaviersonate in einem umfangreichen Aufsatz in den Bonner Beethoven-Studien (Band 2) veröffentlichen.

Heute dagegen arbeite ich mit dem wunderbarsten Partner zusammen, den man sich nur wünschen kann. Mit Murray Perahia sind nun schon 22 Sonaten in neuen Urtext-Ausgaben erschienen, und seit einer ganzen Weile beschäftigen wir uns mit dem wohl anspruchsvollsten Projekt – der Hammerklaviersonate. Zeit also, meinen 20 Jahre alten Aufsatz wieder hervorzuholen und hier einmal die vertrackte Situation um die Quellen dieser Sonate und die daraus folgenden Konsequenzen für eine Edition auszubreiten.

Handschriftliches

Erzherzog Rudolph von Österreich, in dessen Musikaliensammlung ein Teil des Autographs zu Op. 106 zumindest für kurze Zeit eine Heimat fand.

Es gehört zu den Tragödien der Musikgeschichte, dass ausgerechnet das Autograph der Hammerklaviersonate nicht mehr auffindbar ist. Existiert es noch? Wir wissen es nicht. Schon zu Beethovens Lebzeiten verlieren sich die Spuren. Der Komponist überreichte es in Teilen seinem Gönner und Klavierschüler (der die Sonate sicher nicht spielen konnte) Erzherzog Rudolph im März 1819, doch findet sich im Katalog seiner Musikaliensammlung kein Eintrag dazu – vielleicht hat es Beethoven für Korrekturarbeiten an den Abschriften oder Drucken zurückverlangt. Auch im Nachlassverzeichnis des Komponisten von 1827 keine Spur – es ist denkbar, dass sein Wiener Verleger Artaria und Comp. es als Eigentumsnachweis erhielt, zusätzlich zu einer Abschrift, die als Stichvorlage dienen sollte.

 

Anton Gräffer, Nachlassverzeichnis Ludwig van Beethovens mit Eintragungen Jacob Hotschevars, Beethoven-Haus Bonn, NE 79, hier der Beginn des Abschnitts „Eigenhändige Manuskripte schon gestochener Werke“ (Abbildung mit freundlicher Genehmigung)

Es müssen mindestens zwei Kopistenabschriften existiert haben. Denn Beethoven verkaufte die Sonate an einen Verlag in Wien, Artaria und Comp., und an einen in London, die Regent’s Harmonic Institution. Im Briefwechsel mit seinem ehemaligen Schüler und Komponistenkollegen Ferdinand Ries, von dem später noch ausführlicher die Rede sein wird, beschreibt er die missliche Lage bei der Herstellung dieser Kopien:

„unbegreiflich ist es mir, wie sich in die Abschrift der Sonate so viele Fehler einfinden konnten, die Eile mag mit schuld haben, u. daß der Copist sie nicht selbst sondern von einem andern Copiren ließe, erst beym durchspielen des hiesigen abgeschriebenen Exenplars [Ries lebte in London] fanden sich die Fehler, manche sind auch vieleicht schon früher corrigirt worden, […] die Unrichtige Copiatur rührt wohl mit daher, weil ich keinen eigenen Copisten, wie sonst, mehr halten kann“ (Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe, Brief Nr. 1294)

Schon lange nahmen die Verlage von Beethoven keine Originalmanuskripte mehr zum Druck an – seine Handschrift war für den Notenstecher eine Zumutung und letztlich in vielen Details nicht mehr entzifferbar. Daher wurden Abschriften verlangt, die Beethoven selbst überprüfte, bevor sie abgeschickt wurden. Doch wissen wir, dass er meist ein miserabler Korrekturleser war. Und wenn das Ganze auch noch unter Zeitdruck geschah, ging es offensichtlich doppelt schief, wie im Fall der Hammerklaviersonate.

Uns fehlen also das Autograph und beide Stichvorlagen. Da ist es kaum ein Trost, dass das Fragment eines Korrekturverzeichnisses erhalten blieb, das Beethoven zusammen mit dem oben zitierten Brief nach London an Ries schickte.

Ludwig van Beethoven, Teil eines Briefes mit Fehlerverzeichnis an Ferdinand Ries in London, Wien, 19. März 1819, Autograph, Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Br 198. (Abbildung mit freundlicher Genehmigung)

Dieses Verzeichnis nennt 144 Takte, in denen Ergänzungen und Korrekturen vorzunehmen sind. Der überwiegende Teil bezieht sich auf Vorzeichen (50 Takte mit Fehlern, in 28 Takten ergänzt Beethoven Warnvorzeichen). Es finden sich aber auch Noten- und Pausenergänzungen bzw. -streichungen, Korrekturen von Tonhöhen, Notenwerten, Pedalangaben etc. Auffällig ist, dass Beethoven keinerlei Änderungen oder Korrekturen bei Dynamik- und Artikulationsangaben vornahm.

Ein weiteres Exemplar dieses Korrekturverzeichnisses muss auch für den Wiener Verleger vorgelegen haben, denn in beiden Originalausgaben, Wien und London, sind die Korrekturen aus dieser Liste – mit ein paar minimalen Versehen – ausgeführt.

Eine kleine Überraschung kann vielleicht ein ungewöhnliches Dokument liefern. Im Fitzwilliam Museum in Cambridge findet sich ein kurzes Notat Beethovens, das aus dem 1. und 2. Takt des langsamen Satzes besteht, mit dem Hinweis: „Nb: hier muss der 1te Takt eingeschaltet werden der 2te bleibt wie vorhin“. Das Blatt mit dieser Aufzeichnung stammt aus dem Verlag Artaria. Es weist zweifelsfrei nach, dass der 1. Takt des langsamen Satzes als ein später Nachgedanke in die Sonate eingefügt wurde. Auch Ries erhielt für die Londoner Ausgabe zu diesem eingefügten Takt in einem Brief Nachricht (Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe, Brief Nr. 1309).

Hammerklaviersonate, 3. Satz, Takt 1 und 2, Manuskript aus dem Fitzwilliam Museum, Cambrigde, Music Ms 288

Skizzen zur Hammerklaviersonate gibt es zuhauf, nur ist der größte Teil dieser Dokumente bisher nicht in lesbare Notenschrift transkribiert worden. Schauen Sie in das Werkverzeichnis von 2014, es finden sich allein 34 Einträge zu Skizzendokumenten, die in aller Welt verstreut sind.

Was also die Handschriften zur Sonate op. 106 angeht, ist die Quellenlage denkbar schlecht. Auch muss man aufgrund des oben von Beethoven selbst beschriebenen miserablen Zustands der Stichvorlagen befürchten, dass die Originalausgaben, die nach ihnen hergestellt wurden, uns bei der Edition keine Freude bereiten.

Die Originalausgaben

So ist es! Beginnen wir mit einer Einschätzung des „einfacheren“ Falls, der Wiener Originalausgabe:

Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Beethoven-Hauses Bonn.

Sie präsentiert die Sonate in der heute allgemein akzeptierten, sicher von Beethoven so gemeinten Reihenfolge der Sätze – keine Selbstverständlichkeit (siehe unten) –, enthält den erst sehr spät hinzugefügten 1. Takt des langsamen Satzes und außerdem die wohl ebenfalls erst spät nachgereichten, auch heute noch heiß diskutierten Metronomzahlen (an London gingen sie etwa vier/fünf Monate nach Übersendung der Stichvorlage). Auch wurden alle Änderungen aus dem Korrekturverzeichnis eingearbeitet. Aus einem Brief Beethovens an Artaria vom Juli 1819, zwei Monate vor der Veröffentlichung, ergibt sich außerdem, dass der Komponist mindestens ein Mal einen Vorabzug des Druckes Korrektur las („Beyliegend übersende ich die Correcturen und glaube fehlerfrey.“, Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe, Brief Nr. 1317). Über die Qualitäten des Korrekturlesers Beethoven siehe oben! Als Folge liegt eine Wiener Originalausgabe vor, die zahlreiche Fehler und Unklarheiten im Notentext aufweist. Es fehlen allein etwa 50 Vorzeichen, außerdem enthält der Druck zwei offensichtliche Notenfehler. Nachdem diese Auflage des Drucks ausgeliefert war, griff Beethoven an drei Stellen nochmals korrigierend ein. Doch auch dies half wenig, den allgemein schlechten Textzustand dieses Druckes aufzuwerten.

Kein Autograph, keine überprüften Abschriften, eine problematische Wiener Originalausgabe. Doch es kommt noch schlimmer!

Im Mai 1818 also mehr als ein Jahr vor dem Erscheinen der Ausgaben, hatte sich Beethoven an Ferdinand Ries in London gewandt, um ihn beim Verkauf zweier Kompositionen im englischen Rechtsraum zu unterstützen:

„ich wünschte, daß sie sähen folgende 2 Werke, eine große Solo Sonate für Klawier [op. 106] und eine von mir selbst umgeschaffene Klawier Sonate in ein Quintett für 2 Violin 2 Bratschen 1 Violonschell [op. 104] an einen Verleger in London anzubringen“ (Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe, Brief Nr. 1258)

Beethoven muss wohl gespürt haben, dass er Ries mit dem Vermitteln dieser revolutionären Sonate eine schwierige Aufgabe anvertraut hatte. Er war zu erstaunlichen Kompromissen bereit:

„sollte die sonate nicht recht seyn für london, so könn[te ich] eine andere schicken, oder sie können auch das Largo auslaßen u. gleich bey der Fuge [hier folgt ein Incipit des Fugenthemas] das lezte Stück anfangen, oder das erste Stück alsdenn das Adagio u. zum 3-ten das Scherzo u. No 4 sammt largo u. Allo risoluto ganz weglaßen, oder sie n[ehme]n nur das erste Stück u. Scherzo als [ganze Sonate.] ich überlaße ihnen dieses, wie sie e[s] am besten finden, für den Augenblick würde es mich sehr geniren eine Neue zu schreiben“ (Beethoven Briefwechsel Gesamtausgabe, Brief Nr. 1295)

Noch einmal zusammengefasst die Möglichkeiten, die er anbietet:

  1. Sätze 1-2-3-4 ohne Einleitung zum 4. Satz
  2. Sätze 1-3-2, ohne 4. Satz
  3. Sätze 1-2, ohne 3. und 4. Satz

Tatsächlich fand sich daraufhin in London ein Verleger, die Regent’s Harmonic Institution. Die zweite Option wurde wahrgenommen, den 4. Satz veröffentlichte man separat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gibt es heute noch Musiker, die diese Satz- und Werkkonstellation für aufführbar halten?

Eine weitere Besonderheit im Londoner Druck: Die nachträgliche Einschränkung des Notentextes in der Tonhöhe bis c4, da man auf die Instrumente der Zeit Rücksicht nehmen wollte. Stellen, die über diesen Ambitus hinausgingen, wurden in Ossia-Systeme verbannt, im Hauptnotentext wurden andere Lösungen gefunden – sicher nicht von Beethoven selbst.

Schwerer für eine Edition wiegen aber die zahlreichen direkten „redaktionellen“ Eingriffe, die in London in den Notentext vorgenommen wurden:

  1. Er wurde systematisch auf „überflüssige“ Vorzeichen durchgesehen, die man tilgte – war ein Vorzeichen in einer Oktavlage einmal gesetzt, wurden Vorzeichen in anderen Oktavlagen eliminiert. Ein nicht ganz unproblematisches Unterfangen.
  2. Generalvorzeichen-Wechsel wurden eliminiert oder umgestellt, ebenfalls zur Vereinfachung des Notenbildes (und mit fataler Verschleierung des von Beethoven bewusst dargestellten modulatorischen Verlaufs).
  3. Im letzten Satz wurden zahlreiche ff zu sf geändert.

Schließlich der wohl problematischste Eingriff aus heutiger Sicht: Der Londoner Druck enthält wesentlich mehr Artikulation als der Wiener. Zeichen wurden nicht nur vereinzelt, sondern häufig systematisch ergänzt.
Ein besonders auffälliges Beispiel, der bereits erwähnte ergänzte 1. Takt des 3. Satzes:

Wiener Originalausgabe

Londoner Originalausgabe, korrigierte Auflage

Wir müssen heute davon ausgehen, dass alle diese „redaktionellen“ Eingriffe in den Notentext ohne Beethovens Autorisation erfolgten. Vielmehr habe ich im anfangs erwähnten Aufsatz zahlreiche Indizien dafür zusammengetragen, dass Ferdinand Ries, dem Beethoven schrieb: „ich überlaße ihnen alles“ (Brief Nr. 1258), das Vertrauen des Komponisten zu genießen vermutete, hier aus der Perspektive des Pianisten und Komponistenkollegen, Korrektors und Freundes „hilfreich“ zupacken zu dürfen – und dennoch leider wie schon bei der Wiener Originalausgabe auch hier zahlreiche Fehler zu übersehen. Er produzierte durch sein Handeln eine „kontaminierte“ Quelle, die uns dazu zwingt, sie für die Edition entsprechend abzuwerten.

Ziehen wir ein kurzes Fazit: Die Wiener Originalausgabe ist die einzige Quelle, die man in einer modernen Edition als Hauptquelle für die Erstellung des Notentextes der Hammerklaviersonate heranziehen kann. Aufgrund der mittelbaren Abhängigkeit des Londoner Ausgabe vom Autograph – über die verschollene, an Ries gesandte Stichvorlage –, muss man sie als Nebenquelle berücksichtigen. Manche Textstelle, die in der Wiener Quelle Fragen aufwirft, mag durch die Londoner Quelle bestätigt oder korrigiert werden können. (Wenn dereinst einmal die Skizzen vollständig in Transkriptionen vorliegen, könnten wir weitere Indizien zur Klärung nicht gelöster Textprobleme erhalten.)

Lust auf mehr? Ich musste mich hier natürlich kurzfassen und viele Aspekte, die ich in meinem Aufsatz vertiefe, außer Acht lassen. Sie finden die Bonner Beethoven-Studien, Band 2, von 2001 in Ihrer gut sortierten Bibliothek oder hier.

Und natürlich folgt bald auch die Neuedition aus der Werkstatt Gertsch/Perahia!

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