Beethoven als der große Erneuerer der von seinen Vorgängern entwickelten Formen und Gattungen – das ist längst zum unbestrittenen Gemeingut geworden. Und die Beiträge unseres Beethoven-Blogs führen immer wieder vor Augen, dass sich zahlreiche Innovationen mit großem Zukunftspotenzial auch in weniger bekannten Details zeigen. Zuletzt kam dies im Beitrag über die Posaune zum Vorschein, gilt doch Beethoven als „Begründer der Posaunenbesetzung in der Symphonik“. Das heutige Thema geht allerdings noch einen Schritt weiter: Beethoven kommt nicht nur als Erneuerer zur Sprache, sondern sogar als Schöpfer eines neuen Gattungstyps. Das Fragezeichen im Titel deutet aber bereits an, dass der Sachverhalt doch nicht so einfach ist, wie er zunächst scheint.
Bei Beethovens Orchestermusik denkt man in erster Linie an seine Symphonien und seine Konzerte. Sie dominieren weltweit die Konzertprogramme derart, dass eine weitere bedeutende Werkgruppe daneben zu verblassen droht: die der Ouvertüren. Zwar sind zumindest drei seiner Ouvertüren, Leonore III (HN 9046) sowie die Ouvertüren zu Coriolan (HN 9042) und zu Egmont (HN 9043), fest im Konzertrepertoire verankert, aber ihre Popularität reicht lange nicht an die solcher Werke wie der Eroica, der 9. Symphonie oder des 5. Klavierkonzerts heran.
Wie der nachfolgende Überblick der vollendeten Werke zeigt, bilden Beethovens Ouvertüren eine Gruppe von elf Kompositionen, die über einen Zeitraum von rund 22 Jahren entstanden.
Die Ouvertüre als Eröffnungsstück für ein Bühnen- oder größeres Vokalwerk verfügte um 1800 bereits über eine jahrhundertelange Tradition, allerdings immer wieder auch unter anderen Bezeichnungen. So wurden Ouvertüren noch bis ins ausgehende 18. Jahrhundert vielfach als „Sinfonia“ oder „Sinfonie“ bezeichnet. Als Beethoven seine erste Ouvertüre komponierte, zeichnete sich die endgültige Abtrennung von der Symphonie bereits deutlich ab. So heißt es im Musikalischen Lexikon von Heinrich Christoph Koch von 1802:
„Die anjetzt gewöhnlichern Einleitungssätze zu großen Singstücken, denen man den Namen Ouvertüre giebt, haben eine unbestimmte und willkührliche Form; gemeiniglich giebt man ihnen eine dem ersten Allegro der Sinfonie gleiche oder ähnliche Form. Auch der Charakter derselben ist […] unbestimmt, und richtet sich gemeiniglich nach dem Charakter des Singstückes, dem die Ouvertüre zur Einleitung dient“.
Das „gemeiniglich“ deutet bestimmte Tendenzen für Form und Charakter an, weist aber eine Richtlinie oder gar Norm zurück. Diese besondere historische Situation der Gattung kam Beethoven insofern zugute, als er sich innerhalb gewisser Grenzen völlig frei entfalten konnte – Form und Charakter ließen sich individuell an das Sujet anpassen.
Wie die Übersicht zeigt, entstanden die Werke zu unterschiedlichen Anlässen und Gelegenheiten. Sie wurden bis auf Opus 115, das erst nachträglich den Beinamen Zur Namensfeier (gemeint: des Kaisers) erhielt, als „echte“ Ouvertüren komponiert, um eine Oper, ein Schauspiel oder ein Festspiel zu eröffnen. Beethoven schrieb allein vier Ouvertüren für verschiedene Aufführungen und Fassungen seiner Oper Leonore/Fidelio und drei für Festspiele zur Eröffnung von neuen Theatern – dabei König Stephan und Die Ruinen von Athen zum gleichen Ereignis, der feierlichen Einweihung des deutschsprachigen Theaters in Pest. Verbunden sind diese Festspiel-Ouvertüren mit derjenigen zu Goethes Egmont unter dem Aspekt, dass sie jeweils nur den ersten Teil umfangreicher Schauspielmusiken darstellen.
Einen besonderen Fall stellt die Ouvertüre zu Coriolan, einer heute vergessenen Tragödie von Heinrich Joseph von Collin dar. Beethoven schrieb Anfang 1807, vermutlich auf Bitten Collins, lediglich eine Ouvertüre zu diesem Drama. Dessen Handlung spielt im antiken Rom: Der Feldherr Coriolan ist wegen Missachtung des Volkswillens aus der Hauptstadt verbannt und verbündet sich aus Wut mit Roms Feinden. Als die belagerte Stadt zu fallen droht, halten ihn seine Mutter und seine Frau jedoch von der Eroberung der Heimatstadt ab. Im Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und Rachelust, zwischen kühler Vernunft und aufbrechenden Emotionen, begeht er schließlich Selbstmord.
Da die Tragödie in Wien bereits seit 1805 nicht mehr gespielt wurde, zielte der Dichter mit seiner Bitte vermutlich auf eine Wiederaufnahme seines Stücks. Es kam tatsächlich noch zu einer Präsentation des Dramas mit Beethovens neuer Ouvertüre am 24. April 1807 – allerdings blieb es dabei, danach verschwand Collins Coriolan endgültig vom Spielplan. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte die Ouvertüre die vorgezeichnete Bahn bereits verlassen, denn die Uraufführung der Komposition hatte gut einen Monat zuvor in einem Privatkonzert stattgefunden. Die Musik war also bereits bei ihrer Präsentation im Theater nicht mehr an die Aufführung des Dramas gebunden und hatte damit auch ihre ursprüngliche Funktion als Einleitung verloren. Ende 1807 erschien die Ouvertüre im Druck und wurde in der Saison 1807/08 mehrfach als selbständiges Konzertstück aufgeführt.
Durch den Titel ist man zwar geneigt, die Gestaltung der Musik im düsteren c-moll mit ihren beiden stark kontrastierenden Themen auf die Handlung des Dramas von Collin zu beziehen, namentlich in der Gegenüberstellung des aufbrausenden, unruhig-zerrissenen Helden (Hauptthema) mit den liebenden, um Gnade flehenden Frauen (Seitenthema).
Aber schon Beethoven musste damit rechnen, dass den Hörern in Wien diese Handlung nur noch vage oder gar nicht mehr im Gedächtnis war. Und zum Verständnis der Ouvertüre braucht man Collins Tragödie insofern nicht zu kennen, als die Musik so ausdrucksstark erklingt, dass der wesentliche Kern – die Wiedergabe eines tragischen Geschehens – unmittelbar erfasst wird. Das in Tönen gesetzte szenische Drama ist zu einem eigenständigen instrumental-musikalischen Drama geworden.
Schrieb Beethoven demnach mit diesem Werk die erste Konzertouvertüre der Musikgeschichte? Das erscheint als eine rein akademische Frage, aber die Brisanz liegt in der ungeheuren Wirkungsgeschichte. Die Coriolan-Ouvertüre steht nämlich am Beginn der so überreichen programmbezogenen Musik des 19. Jahrhunderts, die von kleinen Charakterstücken für Klavier bis zu umfangreichen Symphonischen Dichtungen reicht. Also, war Beethoven wirklich der Schöpfer dieses neuen Gattungstyps oder war es eher die Prominenz des Namens, die ihm diesen Rang erst postum zukommen ließ? Die Frage konnte bislang nicht schlüssig beantwortet werden.
Sicher ist, dass Beethoven auch für zwei weitere Ouvertüren, die ursprünglich zu konkreten Aufführungen eines Bühnenwerks geschrieben wurden, den Zusammenhang löste. So erschienen 1810 die sogenannte Ouvertüre Nr. 3 zu Leonore, verfasst zur umgearbeiteten zweiten Fassung der Oper (1806), sowie diejenige zu Egmont für die Vorstellungen der Tragödie im Wiener Burgtheater (1810), separat im Druck. Außer Frage steht auch, dass Beethoven, vielleicht ermutigt durch die erfolgreichen Aufführungen der Coriolan-Ouvertüre, bereits ein Jahr zuvor in den Skizzen zur späteren Ouvertüre Zur Namensfeier vermerkte: „overture zu jeder Gelegenheit oder zum Gebrauch im Konzert“.
Bevor Sie, lieber Leser, es sich jetzt bequem machen und sich mit den Henle-Studien-Editionen in der Hand die drei so wirkungsmächtigen Ouvertüren (wieder) anhören, möchte ich noch auf ein interessantes Detail in den Quellen zur Coriolan-Ouvertüre hinweisen. Beethoven gab sie mit dem Titel „Ouverture de Coriolan, Tragédie de Mr. de Collin“ heraus und widmete sie – vielleicht aus ganz eigennützigen Gründen, da er weitere Projekte mit Collin plante – dem Verfasser des Dramas. Im Autograph überschrieb er die Komposition mit „overtura Zum Trauerspiel Coriolan Composta da L. v. Beethoven | 1807“, wischte aber unmittelbar nach der Niederschrift „Zum Trauerspiel Coriolan“ wieder aus (siehe Abb.). Ob er da bereits an einen „Gebrauch im Konzert“ dachte?