Beet­ho­ven Werk­ver­zeich­nis

Im Vor­feld zum Ju­bi­lä­ums­jahr er­hielt ich immer wie­der An­fra­gen von Mu­si­kern, die für Kon­zer­te oder Ein­spie­lun­gen auf der Suche nach un­be­kann­ten Kom­po­si­tio­nen, ver­wor­fe­nen Werk­t­ei­len oder auch nur frag­men­ta­risch über­lie­fer­ten Stü­cken Beet­ho­vens waren. Ver­ständ­lich, denn 2020 woll­te man neben dem Kern­re­per­toire gerne auch den Reiz des „un­be­kann­ten Beet­ho­ven“ aus­lo­ten. Bei der Be­ant­wor­tung sol­cher Fra­gen – wobei es oft auch um Be­set­zung und Au­then­ti­zi­tät ging – war mir das neue Beet­ho­ven-Werk­ver­zeich­nis ein un­ver­zicht­ba­res Hilfs­mit­tel. Wäh­rend der erste Band den Wer­ken mit Opus­zah­len ge­wid­met ist, ent­hält der zwei­te In­for­ma­tio­nen zu allen Kom­po­si­tio­nen, denen weder zu Leb­zei­ten Beet­ho­vens noch pos­tum eine Opus­num­mer zu­ge­ord­net wurde. Ge­glie­dert ist die­ser zwei­te Band in Werke ohne Opus­zah­len (WoO), un­voll­ende­te Werke (Unv) sowie in einen An­hang mit un­ech­ten oder zwei­fel­haf­ten Wer­ken (Anh). Au­ßer­dem sind je ei­ge­ne Ab­schnit­te den zahl­rei­chen Plä­nen für Opern und Ora­to­ri­en ge­wid­met.

Zwar sind kei­nes­wegs alle Kom­po­si­tio­nen, die Beet­ho­ven nicht zur Ver­öf­fent­li­chung vor­sah oder denen er bei der Pu­bli­ka­ti­on keine Werk­num­mer zu­teil­te, im Schat­ten der Opus­mu­sik ge­blie­ben. Man denke etwa an die be­rühm­te Ba­ga­tel­le a-moll WoO 59, die erst 40 Jahre nach Beet­ho­vens Tod unter dem Titel „Für Elise“ ver­öf­fent­licht wurde und heute zu sei­nen po­pu­lärs­ten Wer­ken über­haupt zählt. Aber ins­ge­samt ver­zeich­net die­ser zwei­te Band des Ver­zeich­nis­ses doch eine Fülle von weit­ge­hend un­be­kann­ten voll­ende­ten oder un­voll­ende­ten Wer­ken, und zwar in bei­den Haupt­tei­len, so­wohl im Be­reich der „WoO“ als auch der „Unv“. Beet­ho­ven ge­hör­te zu den Kom­po­nis­ten, die zwar recht sorg­los mit ihren Ma­nu­skrip­ten um­gin­gen – ins­be­son­de­re mit voll­stän­di­gen Par­ti­tur­au­to­gra­phen, so­bald das Werk im Druck er­schie­nen war –, im Ge­gen­zug aber Skiz­zen oder Ent­wür­fe in der Regel auch dann nicht ver­nich­te­ten, wenn sie ihren un­mit­tel­ba­ren Zweck er­füllt hat­ten. Be­denkt man den gro­ßen zeit­li­chen Ab­stand zu Beet­ho­vens Le­bens­zeit, ist die Menge der er­hal­te­nen Skiz­zen und Ma­nu­skrip­te er­staun­lich hoch.

Im Fol­gen­den möch­te ich einen klei­nen Streif­zug durch die ganz ei­ge­ne Welt der „un­voll­ende­ten Werke“ un­ter­neh­men. Der Grad der Voll­endung oder bes­ser der ge­sagt: der Nicht­voll­endung ist denk­bar un­ter­schied­lich. Ver­zeich­net sind Kom­po­si­tio­nen, die über we­ni­ge Skiz­zen nicht hin­aus­ka­men, bis hin zu sol­chen, von denen na­he­zu voll­stän­di­ge So­na­ten­sät­ze vor­lie­gen. Aber immer wie­der er­ge­ben sich bei der Durch­sicht Über­ra­schun­gen.

So dürf­te ge­läu­fig sein, dass Beet­ho­ven über die neun voll­ende­ten Sym­pho­ni­en hin­aus zwei wei­te­re Ver­su­che star­te­te, üb­li­cher­wei­se be­zeich­net als Nr. 0 in C-dur (Unv 2, skiz­ziert ab 1794) und als Nr. 10 in c-moll oder Es-dur (Unv 3, skiz­ziert zu­nächst 1822 zu­sam­men mit der spä­te­ren 9. Sym­pho­nie). Weit we­ni­ger be­kannt, ob­wohl be­reits 1911 be­schrie­ben, ist ein wei­te­rer Ver­such in die­sem Gat­tungs­feld, no­tiert in Bonn um 1788/90 im so­ge­nann­ten „Kafka“-Skiz­zen­buch auf Blatt 70 mit im­mer­hin 111 Tak­ten eines mit „Sin­fo­nia“ über­schrie­be­nen Sat­zes in c-moll (Unv 1).

Noch in­ter­es­san­ter muten die Frag­men­te im Be­reich der kon­zer­tan­ten Musik an. Zu nen­nen sind hier bei­spiels­wei­se ein ab­ge­bro­che­ner Ver­such eines Vio­lin­kon­zerts in C-dur (WoO 5, Par­ti­tur mit 259 Tak­ten, ca. 1790/92) sowie ein un­voll­ende­tes Kla­vier­kon­zert in D-dur (Unv 6, Skiz­zen sowie Par­ti­tur mit 256 Tak­ten). Ob es auch Ver­su­che für Kon­zer­te mit an­de­ren So­lo-In­stru­men­ten ge­ge­ben hat? Man darf es ver­mu­ten, aber bis­lang gibt es kei­ner­lei Nach­wei­se etwa für ein Cel­lo- oder Fa­gott­kon­zert. Eine Aus­nah­me be­trifft das Kon­zert für Oboe F-dur aus der spä­ten Bon­ner Zeit (WoO 206, um 1792). Er­hal­ten hat sich davon nur eine Skiz­ze zum 2. Satz sowie ein von Anton Dia­bel­li be­schrie­be­nes Blatt mit den In­ci­pits aller drei Sätze, aber meh­re­re Do­ku­men­te deu­ten dar­auf hin, dass es sei­ner­zeit zum Ab­schluss ge­lang­te und sogar auf­ge­führt wurde – streng ge­nom­men ge­hört es dem­nach gar nicht in un­se­re Liste, denn das Frag­men­ta­ri­sche be­zieht sich hier nicht auf die Aus­füh­rung, son­dern auf die Über­lie­fe­rung. Nicht nur Obo­is­ten wer­den be­dau­ern, dass Beet­ho­ven das Kon­zert spä­ter nicht noch­mals durch­ge­se­hen und zum Druck ge­bracht hat.

In­ci­pits des ver­schol­le­nen Obo­en­kon­zerts WoO 206, Beet­ho­ven-Haus Bonn, Si­gna­tur BH 135. Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung.

Un­mit­tel­bar be­nach­bart mit dem Obo­en­kon­zert tritt im Werk­ver­zeich­nis ein auf den ers­ten Blick ku­rio­ses Werk auf, eine „Ro­mance can­ta­bi­le“ für Flöte, Fa­gott, Kla­vier und Or­ches­ter in e-moll (WoO 207), die al­ler­dings nach 57 Tak­ten ab­bricht. Nicht zu Un­recht wurde die Ver­mu­tung ge­äu­ßert, es hand­le sich um das Frag­ment eines lang­sa­men Sat­zes, der zu einer „Sin­fo­nia con­cer­t­an­te“ ge­hö­re. Die Tra­di­ti­on sol­cher kon­zer­tan­ten Sin­fo­ni­en war Ende des 18. Jahr­hun­dert noch sehr le­ben­dig und der Über­gang zu Kon­zer­ten mit meh­re­ren So­lo­in­stru­men­ten flie­ßend. Hätte WoO 207, wenn voll­endet, zu einem Pen­dant des be­rühm­ten Tri­pel­kon­zerts op. 56 wer­den kön­nen?

Be­reits diese we­ni­gen Bei­spie­le wer­fen zwei grund­le­gen­de Fra­gen auf:

  • Warum brach Beet­ho­ven diese Werke ab?
  • Wie sieht es mit der Er­gän­zung von un­voll­ende­ten Par­ti­tu­ren aus?

Für den Ab­bruch von be­gon­ne­nen Wer­ken las­sen sich so­wohl au­ßer- wie inn­er­mu­si­ka­li­sche Grün­de an­füh­ren. Die au­ßer­mu­si­ka­li­schen be­tref­fen viel­fach von Beet­ho­ven nicht vor­her­seh­ba­re Än­de­run­gen von Um­stän­den oder Be­din­gun­gen für die ge­plan­te Kom­po­si­ti­on. So woll­te er im März 1814 in einer Aka­de­mie mit ei­ge­nen Wer­ken eine Kan­ta­te auf den Text Eu­ro­pens Be­frei­ungs­stun­de nach einem Text von Jo­seph Karl Ber­nard (Unv 17) auf­füh­ren las­sen. An­ge­sichts der un­ver­hoh­le­nen Fran­zo­sen­feind­lich­keit des Texts un­ter­sag­te die Zen­sur am Vor­abend des Wie­ner Kon­gres­ses eine sol­che Auf­füh­rung, so dass die Ver­to­nung un­voll­endet blieb.

Be­kannt­lich hatte Beet­ho­ven des Öf­te­ren Pech mit den Li­bret­ti für seine Opern­pro­jek­te. So gab er schon in der ers­ten Szene der Oper Ves­tas Feuer nach einem Buch von Ema­nu­el Schi­ka­neder (Unv 15, 1803) die wei­te­re Ar­beit auf, da er das Li­bret­to als zu schlecht und un­ge­eig­net ver­warf. Wie er­hal­te­ne Skiz­zen be­le­gen, nahm er 1808 die Ver­to­nung eines Li­bret­tos nach Hein­rich Jo­seph von Col­lin in An­griff, zu des­sen Drama Co­rio­lan er zuvor be­reits seine be­rühm­te Ou­ver­tü­re op. 62 ge­schrie­ben hatte. Col­lin soll­te ihm den Mac­beth-Stoff nach Shake­speares Tra­gö­die ein­rich­ten. Das Pro­jekt wurde je­doch bald da­nach auf­ge­scho­ben und erst 1811 wie­der­auf­ge­nom­men. Al­ler­dings stell­te sich spä­ter her­aus, dass Col­lin bei sei­nem plötz­li­chen Tod im Som­mer 1811 das Li­bret­to un­voll­endet hin­ter­las­sen hatte. Da der Stoff ihm, wie sein Bru­der Mat­thä­us spä­ter be­rich­te­te, „zu düs­ter zu wer­den droh­te“, hatte Col­lin es schon lange vor sei­nem Ab­le­ben ab­ge­bro­chen.

Ver­merk im „Pet­ter“-Skiz­zen­buch (1811) zur An­la­ge von Ou­ver­tü­re und 1. Szene: „over­tu­re Mac­beths fällt | gleich in den Chor der Hexen ein“, Beet­ho­ven-Haus Bonn, Si­gna­tur Samm­lung Bo­d­mer, HCB Mh 59. Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung.

Dass für so man­chen Ab­bruch von Skiz­zen, Ent­wür­fen oder Par­ti­tu­ren selbst­kri­ti­sche Über­le­gun­gen – so­wohl im Blick auf die Qua­li­tät des No­tier­ten als auch die Wei­ter­füh­rung – ver­ant­wort­lich sind, liegt auf der Hand. Beet­ho­vens Ei­gen­art, Ein­fäl­le oft noch ohne ge­stal­ten­de Ein­grif­fe zu no­tie­ren, gleich­sam als Stein­bruch für künf­ti­ge Mo­tiv­bau­stei­ne, för­der­te na­tür­lich die Ge­fahr eines Ste­cken­blei­bens bis hin zur gänz­li­chen Auf­ga­be. So zeigt das Skiz­zen­ma­te­ri­al zur spä­te­ren 8. Sym­pho­nie F-dur op. 93 zu­nächst Ge­dan­ken zu einem Kla­vier­kon­zert sowie Ideen zu einer ge­plan­ten wei­te­ren Sym­pho­nie in d-moll, die aber rasch auf­ge­ge­ben wur­den. In vie­len Fäl­len dürf­ten aber auch äu­ße­re wie in­ne­re Grün­de glei­cher­ma­ßen dafür ge­sorgt haben, dass Beet­ho­ven die Mo­ti­va­ti­on für die Voll­endung des Fi­xier­ten ver­lor.

Von Josef Hell­mes­ber­ger er­gänz­ter und ein­ge­rich­te­ter Satz des frag­men­ta­ri­schen Vio­lin­kon­zerts WoO 5 (Kla­vier­aus­zug, Wien 1879, 1. Seite), Beet­ho­ven-Haus Bonn, Si­gna­tur C WoO 5/1. Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung.

Die zwei­te Frage lässt sich kaum ein­deu­tig be­ant­wor­ten. So ver­ständ­lich das In­ter­es­se von For­schern und Mu­si­kern an einer Ver­voll­stän­di­gung sol­cher Frag­men­te für den Mu­sik­be­trieb auch sein mag, so schwie­rig ist es, sol­che Ver­su­che zu be­ur­tei­len. Ist es le­gi­tim, ab­ge­bro­che­ne Teile fort­zu­füh­ren? Diese Frage muss sich letzt­lich jeder selbst be­ant­wor­ten. Im zwei­ten Band des Werk­ver­zeich­nis­ses sind alle bis 2014 be­kannt ge­wor­de­nen Ver­su­che bei den je­wei­li­gen Num­mern an­ge­führt. Der Bogen reicht von Re­kon­struk­tio­nen nur auf der Basis von Skiz­zen (Sym­pho­nie Nr. 10, Unv) bis zur Wei­ter­füh­rung von ver­gleichs­wei­se weit aus­ge­führ­ten Tei­len (Kopf­satz des Vio­lin­kon­zerts C-dur (WoO 5). In ei­ni­gen Fäl­len bleibt wegen Man­gel an Ma­te­ri­al nur die Pu­bli­ka­ti­on des Frag­ments ohne jede Ver­voll­stän­di­gung (wie für den Streich­quin­tett­satz Unv 7), in an­de­ren ist zu­min­dest ein Form­teil voll­stän­dig aus­ge­führt, so dass die nach­fol­gen­den mit des­sen Ma­te­ri­al er­gänzt wer­den kön­nen (wie für das Duo für Vio­li­ne und Vio­lon­cel­lo Unv 8, er­gänzt von Ro­bert Levin).

Am bes­ten, Sie, liebe Leser, ma­chen sich Ihr ei­ge­nes Bild von die­sen „Un­voll­ende­ten“ an­hand des Werk­ver­zeich­nis­ses – ich bin si­cher, es lohnt sich!

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Eine Antwort auf »Leider abgebrochen – zu Beethovens unvollendeten Werken«

  1. Dr. Albert Schnelle sagt:

    Zu Recht erwähnen Sie das Opernfragment „Vestas Feuer“ nach einem Libretto von Schikaneder, dem Textdichter der Zauberflöte. Beethoven hat die erste – textlich in sich abgeschlossene – Szene nahezu vollständig komponiert. Bemerkenswerterweise ist diese recht umfangreiche Nummer „durchkomponiert“ , d.h. es gibt keinerlei gesprochene Zwischentexte.
    In musikalischer Hinsicht bildet sie tatsächlich eine Brücke zwischen Mozart (Zauberflöte) und der Leonore von 1805, deren Themen sie im abschließenden Terzett sogar vorwegnimmt.
    Der Schweizer Beethovenforscher Willy Hess hat dieses Opernfragment 1953 ediert und zur erfolgreichen Uraufführung beim WDR gebracht. Leider geriet „Vestas Feuer“, obwohl aus meiner Sicht eine der schönsten Vokalkompositionen Beethovens, danach wieder in Vergessenheit.

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