Als Vater und Sohn Mozart Ende Oktober 1772 zum dritten und letzten Mal auf der Durchreise mit Ziel Mailand durch die Südtiroler Stadt Bozen kamen, war der Wolferl hungrig und schlechter Laune. Anders lässt sich sein derber Reim auf diese wunderschöne Stadt nicht erklären: „botzen dieß Sauloch. || Ein gedichte von einen der über botzen fuchs=teüfel wild und harb war.[:] soll ich noch komen nach botzen | so schlag ich mich lieber in d’fozen.“

Aus: Mozart, Briefausgabe Online, Internationale Stiftung Mozarteum Salzburg. (Brief vom 28. Oktober 1772)

Angeblich komponierte Wolfgang Amadeus Mozart an diesem Tag in Bozen aus Langeweile ein Streichquartett: „Der Wolfg: befindet sich auch wohl; er schreibt eben für die lange Weile ein quatro“. So steht es in dem Brief vom 28. Oktober 1772, den Leopold Mozart aus Bozen an seine Ehefrau schrieb, und zu dem der „fuchs=teüfel wilde“ Sohn den grob-humorvollen Nachtrag verfasste.

Zwei hartnäckig sich haltende Behauptungen in diesem Zusammenhang seien im Folgenden widerlegt: Weder handelt es sich bei diesem „quatro“ gesichert um das Streichquartett in D-dur KV 155, noch gibt es überhaupt ein regelrechtes „Bozener Streichquartett“ von Mozart.

Zur Nr. 1 des Zyklus KV 155–160:

Wieder und wieder liest man, es handele sich beim von Leopold Mozart erwähnten aus „langer Weile“ heraus entstandenen „quatro“ um Mozarts D-dur-Quartett KV 155. „Schuld“ daran hat vermutlich der – bis heute falsche – Eintrag im Köchel-Verzeichnis (© 1964, S. 159), der das Quartett von den anderen Werken der Serie chronologisch abtrennt, unter KV 134a (155) listet und mit Alfred Einstein die Briefstelle von Leopold kommentiert: „Zweifellos [!] handelt es sich um 134a (155)“. Dabei hat schon Wolfgang Plath in seinem Vorwort zur einschlägigen Edition im Rahmen der „Neuen Mozart-Ausgabe“ (NMA, VIII/20, Abt. 1/1, Streichquartette © 1966) vor möglichen Kurzschlüssen gewarnt: „Jedes Quartett beginnt mit einer neuen Papierlage: es deutet also nichts zwingend darauf hin, daß die Entstehung der einzelnen Glieder in ihrer jetzigen Anordnung gedacht werden muß – im Gegenteil“ (NMA-Vorwort, S. X).

Der Irrtum für die voreilige Zuschreibung basiert auf der autographen Titelei von KV 155 (134a):

Autograph KV 155, 1. Seite, aus: OMI Facsimile editions.

Deutlich erkennt man die Überschrift „Quartetto I“ (die „I“ ist aus ursprünglich „p[ri]mo“ korrigiert). Also muss doch Mozart just dieses Quartett als erstes von den Sechsen (in Bozen) komponiert haben? Doch Vorsicht: Die Titelei „Quartetto“ hier und zu den fünf anderen Werken (bei KV 156 und KV 160 liest man „Quartett“, was Leopold später durch Hinzufügung des „o“ italianisierte), könnte Mozart erst nachträglich angebracht haben, denn er schreibt sie ungewöhnlicherweise stets an derselben Stelle links oben jeder ersten Quartett-Seite, wie schematisch, also möglicherweise erst in einem nachträglichen Durchgang. Und die römischen Ordnungsziffern hinter dem autographen „Quartetto“ stammen ohnehin höchstwahrscheinlich von seinem Vater, der sie ganz offenkundig (in typisch verdickter Schreibweise, römisch) später nachtrug: die Ziffern stehen unverbunden zur Titelei.

Von den Autographen der sechs „Mailänder Quartette“ KV 155–160, heute im Eigentum der Berliner Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz, wurde im Jahr 2006 ein schönes Faksimile veröffentlicht, das heute leider nur noch antiquarisch erhältlich ist. Dessen wissenschaftliche Kommentierung lässt allerdings erheblich zu wünschen übrig [1].

Jedes der sechs Quartette entstand also zunächst einmal für sich separat und zwar ohne Datierung, ohne Signierung, vermutlich ohne Titelei und ganz sicher ohne römische Ziffer. Eine Ziffer „I“ – zu welchem Quartettkopf auch immer – wäre ja in Bozen noch ganz unsinnig oder zumindest voreilig gewesen, denn es gab keinen Plan für einen Zyklus von sechs Werken, als sich Mozart in Bozen an die Arbeit zu einem „quatro“ machte. Darauf weist das arg beiläufige „aus lange Weile“ von Leopold Mozart hin. Wäre nämlich bereits auf dem Weg nach Mailand ein veritabler Zyklus von sechs Streichquartetten geplant gewesen, hätte Leopold Mozart darüber in anderem Tonfall und in anderer Wortwahl berichtet.

Nein, erst als die sechs Quartette weitgehend oder gar insgesamt fertiggestellt waren, bedurfte es einer Ordnung, einer nachträglich festzulegenden verbindlichen Reihenfolge – vielleicht für einen geplanten Druck? Die Kenner unter meinen Lesern mögen an dieser Stelle unter Hinweis auf die offenkundig systematische Tonartenfolge der Serie vielleicht widersprechen wollen: deutet denn nicht die planvolle Anlage im streng abfallenden Quintenzirkel auf eine – bereits in Bozen geborene – Kompositionsreihenfolge: D – G – C – F – B – Es. Ich meine nein. Denn wenn man sich vor Augen hält, welche Tonarten Mozart prinzipiell für Werke der Gattung Streichquartett nutzt (also für geeignet hielt), dann reduziert sich sein Tonartenvorrat – in Dur – auf ohnehin ausschließlich sieben (!) Möglichkeiten: C, D, Es, F, G, A, B. (Die beiden Moll-Quartette Mozarts KV 173 und 421 stehen in d-Moll.) Keine andere Tonart kommt in Mozarts gesamten Streichquartett-Oeuvre vor. In unserem Fall (es „fehlt“ ein A-dur-Quartett) hätte er, nur um einige von mehreren möglichen nachträglichen Beispielanordnungen zu geben, seine sechs in Mailand komponierten Streichquartette auch in aufsteigenden Quinten ab Es-dur, in aufsteigenden Sekunden ab B-dur oder in aufsteigenden Terzen ab C-dur anordnen können.

Nebenbei: Letztgenanntes Prinzip der aufsteigenden Terzenreihung erkennen wir übrigens in Mozarts wenige Monate später in Wien (Sommer 1773) komponiertem Streichquartettzyklus KV 168–173, zumindest tendenziell: F – A – C – Es – B – d. Wegen der Einbindung des d-Moll-Quartetts KV 173 (statt des „fehlenden“ G-dur-Quartetts, das tonartlich viel besser in die Reihe passen würde) hätte er das Terzen-Ordnungssystem mit dem B-dur-Quartett eröffnen müssen, um systematisch zu bleiben: B – d – F – A – C – Es. Aber das d-moll-Quartett als „krönender“ Abschluss der Serie war ihm interessanter Weise doch wichtiger, als die Konsequenz der systematischen Tonartenreihung.

In der obigen Abbildung erkennt man schließlich noch ein weiteres Indiz für sicherlich nachträgliches Festlegen der Nummer 1 der Serie: Mozart korrigiert hier nämlich den falschen Plural „Viole“ zu „Viola“, und er ergänzt zur ambivalenten Funktionsbezeichnung „Basso“ das konkret im solistischen Streichquartett gemeinte Instrument: „Violoncello“. Doch unkorrigiert falsch beließ Mozart seinen Instrumentenvorsatz bei KV 158 („Viole“ und „Bassi“) und bei KV 159 („Basso“). Die finale Korrektur allein auf der ersten Seite von KV 155 soll also für alle sechs Quartette einheitliche Gültigkeit haben. Oder anders herum: Weil KV 155 nachträglich als Nr. 1 festgelegt wurde, musste Mozart den Instrumentenvorsatz nur dieses Quartetts entsprechend korrigieren bzw. justieren. (Auf die gattungshistorisch interessante Besetzungsthematik der „Italienischen Streichquartette“ geht ausführlicher mein Vorwort der bald erscheinenden Urtextausgabe ein: Mozart, Streichquartette (Italienische Quartette und Salzburger Divertimenti, Band 1, HN 1120 [Stimmenausgabe] und HN 7120 [Taschenpartitur]).

Dass Mozart also in Bozen ausgerechnet das D-dur-Quartett KV 155 komponiert hat, trifft mit einer Wahrscheinlichkeit von exakt 1/6tel oder knapp 17% zu. Aber Mozart hat in Bozen gar kein veritables Quartett komponiert.

Zum sogenannten „Bozener Quartett“:

Alle sechs Quartette sind auf identischem Notenpapier niedergeschrieben. Es handelt sich um ein grobes, 10zeilig rastriertes Papier aus einer oberitalienischen Papiermühle, die in Alan Tysons Wasserzeichen-Katalog die Kennung „WZ 30“ erhielt (NMA X/33, Abteilung 2). Gemäß Tyson hat Mozart dieses Papier „erstmals Ende 1772 in Mailand gekauft und verwendet“ (Tyson, S. XXI). Wenn das zutrifft – und wer wollte an der Autorität Alan Tysons in diesen Fragen zweifeln? – dann kann keines der fraglichen Quartette in Bozen oder sonstwo bereits auf der Reise nach Mailand komponiert und niedergeschrieben worden sein. Mozart hat also vermutlich in Bozen, schlecht gelaunt, seine freie Zeit bestenfalls zur Skizzierung oder zur Niederschrift erster Ideen und Entwürfe für ein Streichquartett genutzt (Leopold sagt „schreibt … ein quatro“, jedoch sind keinerlei Manuskript-Spuren davon überkommen). Ob diese Vorstufen überhaupt dann später in eines der sechs Quartette eingeflossen ist, bleibt Spekulation.

Wenn sein Sohn in Bozen überhaupt etwas aufschrieb! Denn „Komponieren“ hieß ja nach Mozarts eigenem Verständnis nicht zwangsläufig „aufschreiben“:

Mozarts Brief vom 30.12.1780 aus München an seinen Vater.

„… Nun muß ich schliessen, den ich muß über hals und kopf schreiben – komponirt ist schon alles – aber geschrieben noch nicht“

Die sechs Quartette entstanden also erst in Mailand, und ich gehe davon aus, dass dies schlicht aus Zeitgründen erst nach der Uraufführung der umfangreichen Opera seria „Lucio Silla“ (Ende Dezember 1772) der Fall war, also erst nachdem der eigentliche Anlass der Reise erledigt war. Und genau in dieser Phase, nämlich Anfang 1773, hatte Mozart jede Menge Zeit zur Komposition solcher Gelegenheitswerke. Die nach der Jahreswende längst fällige Rückreise an den Salzburger Hof wurde vorsätzlich durch allerlei Ausreden (v.a. durch vorgeschobene Gesundheitsprobleme des Vaters) hinausgezögert. Leopold Mozart erhoffte sich nämlich sehnlichst Nachricht zu einer von ihm eingefädelten, angestrebten Anstellung seines Sohnes am Toskanischen Hof zu erhalten. Die Wartezeit wurde sinnvoll u.a. mit dem Komponieren der besagten Streichquartette genutzt. Und so vermeldet Leopold Mozart einen Monat vor Abreise erneut lapidar nach Salzburg: „der Wolfg: schreibt ein Quartetto“ (Leopold Mozart an seine Ehefrau Maria Anna Mozart, Mailand, 6. Februar 1773). Als schließlich die endgültige Absage aus Florenz eintraf, reiste man Anfang März zurück nach Salzburg, die sechs Streichquartett-Autographe im Gepäck.

 

 

[1] So meint Giacomo Fornari zu erkennen, dass das G-dur-Quartett KV 156 viersätzig sei (deutsche Fassung, S. 20); er übersieht dabei völlig die autographe Streichung und Ersetzung des langsamen Satzes und scheint die Werke, über die er schreibt, also gar nicht zu kennen. Oder er behauptet (S. 20, Fußnote 16), Wolfgang Plath habe die verdickten römischen Ziffern in den Titeleien einer fremden Hand zugewiesen, was weder zutrifft [die Ziffern stammen höchstwahrscheinlich von Leopold Mozart, siehe oben] noch zitatmäßig stimmt [Plath äußert sich in Fußnote 22 seines NMA-Vorwortes wie folgt: „Möglicherweise sind in den Überschriften die Ordnungsziffern I bis VI von Mozart nachträglich gesetzt“]. Auch schwadroniert Fornari von der „Vielfalt der Farbtöne der verwendeten Tinte“ (S. 20) und verkennt dabei, dass alle sechs Quartette inklusive aller Titeleien etc. von Mozarts Hand mit immer derselben mittelbraunen Tinte geschrieben wurden. Schließlich gibt uns Fornari ein falsches Datum des Briefs von Leopold Mozart an (22.10.72 statt korrekt 28.10.72, siehe oben) und er zitiert in Fußnote 17 überraschender Weise meine Magister-Arbeit von 1987 mit dem Datum meiner Dissertation (1992), die er freilich beide nicht kennt. Fornari hätte den 1989 erschienenen Kritischen Bericht des einschlägigen NMA-Bandes zur Kenntnis nehmen müssen; dort beschreibe ich die Handschriftenanteile der Autographe.

 

 

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