Aus Anlass seines 70. Geburtstags, den der französische Pianist Pascal Rogé am 6. April 2021 beging, haben wir ihn zu einem Interview gebeten. Er ist weltweit einer der bekanntesten Repräsentanten seiner Generation für die Darbietung französischer Musik des 19. und 20. Jahrhunderts. Für die Interpretation dieser Musik hat er in seinen Konzerten, Meisterklassen und CD-Einspielungen Maßstäbe gesetzt. Seit zehn Jahren arbeitet er mit dem G. Henle Verlag zusammen und hat bis heute für 18 Urtext-Editionen den Fingersatz für den Klavierpart übernommen – selbstverständlich für Werke französischer Komponisten, wobei sich der Bogen von Saint-Saëns über Chabrier und Fauré bis zu Satie und Ravel spannt.
Peter Jost (PJ): Herr Rogé, am Pariser Conservatoire haben Sie unter anderem bei Lucette Descaves studiert, einer ehemaligen Schülerin von Marguerite Long. Welche Rolle spielten dabei Fingersätze von Frau Long, die ja noch in engem Kontakt zu Komponisten wie Fauré, Debussy und Ravel stand? Und hatten damals solche Fingersätze den Rang des Authentischen?
Pascal Rogé (PR): Was Fingersätze angeht, erinnere ich mich an einen Satz meiner Lehrerin Lucette Descaves: „Fingersätze sind wie Schuhe, sie passen nicht jedem“. Etwas, das ich meinen eigenen Schülern oft sage, ABER, auch wenn meine Lehrerin nicht auf der Befolgung ihrer Fingersätze bestand, hatte sie doch einige „Grundsätze“, die sehr hilfreich waren: „Folgen Sie immer der Form Ihrer Hände … Vermeiden Sie Wechsel … Wenn Sie die Wahl haben, bestimmte Finger sind ausdrucksvoller … oder kräftiger … Wählen Sie mit Bedacht …“, und obwohl sie eine Schülerin von Marguerite Long war, widersprach sie Longs Devise: „Kein Daumen auf schwarze Tasten “, einer Regel, die ich persönlich nie verstanden habe!
Bei meinen Kenntnissen über Fingersätze profitierte ich vom Erbe zweier großer Meister für dieses Thema: Yves Nat und Lazare Lévy.
Yves Nat war der Lehrer meiner Mutter und Lazare Lévy der Lehrer von Louise Clavius-Marius, einer heute ziemlich unbekannten Lehrerin, die die Assistentin von Lucette Descaves, aber ein echtes Genie für Fingersatz und Übungspraxis war. Ich verdanke ihr fast alles für meine Klaviertechnik und meine Fingerfertigkeit.
Zur Frage, ob es „authentische“ Fingersätze gab: Weder Fauré, Debussy noch Ravel waren gute Pianisten, daher sahen sie kaum Fingersätze vor, und wenn sie dies taten, betrachte ich diese als „Vorschläge“, aber niemals als verbindlich.
Ich bin sicher, Sie kennen Debussys Formulierung in der ersten Ausgabe seiner Études: „Ich verzichte absichtlich auf Fingersätze“, daher gilt: „Cherchons nos doigtés!“
PJ: In unserem Debussy-Interview haben Sie bemerkt, dass Sie originale Fingersätze und Handverteilungen dann ändern, wenn Sie den Eindruck haben, dass diese der adäquaten Interpretation im Wege stehen. Ich erinnere mich etwa ans Finale von Saint-Saëns’ 5. Klavierkonzert (HN 1144), Takte 6 ff., wo Sie die Verteilung der Hände gegenüber der Notation umgekehrt haben:
PR: Ich glaube fest an Fingersatz-„Einrichtungen“, solange sie helfen und unbemerkt bleiben. Einige dieser Einrichtungen erweisen sich sogar als schwieriger oder umständlicher als das Original! Beim Beispiel hier, im 5. Konzert von Saint-Saëns, soll meine „Einrichtung“ vor allem Saint-Saëns’ Absicht ermöglichen, einen Akzent auf die obere Note des Akkords zu setzen, was sehr schwer zu erreichen ist, wenn man ihn mit einer Hand spielt, denn dann läge der Akzent zweifellos auf dem ganzen Akkord.
PJ: In Faurés 1. Violinsonate (HN 980) gehen Sie im Kopfsatz noch einen Schritt weiter und heben die vom Komponisten mittels m. g. explizit angegebene Verteilung der Hände (Takt 140) auf:
Könnten Sie diese Stelle aus Ihrer Sicht erläutern?
PR: Dies ist typisch für den Fingersatz eines Komponisten, der glaubt, dass die gesamte musikalische Phrase mit derselben Hand gespielt werden sollte, und auch für einen „nicht so guten“ Pianisten (Fauré war ein exzellenter Organist, aber das ist etwas anderes!). Mein Fingersatz ist viel einfacher zu spielen und macht im Ergebnis keinen Unterschied. Er ist eigentlich keine „Einrichtung“, sondern nur logisch (sorry Gabriel!).
PJ: Sie haben die Fingersätze für drei Satie-Titel (Sonatine bureaucratique HN 1075, Avant-dernières Pensées HN 1181 und Nocturnes HN 1205) übernommen. Das mag zunächst überraschen, da ausgehend von seinen Gymnopédies oder Gnossiennes seine Klavierwerke als relativ einfach gelten. Aber neben dem technischen gibt es noch einen weiteren Aspekt?
PR: Fingersätze beeinflussen die Interpretation, und die Wahl eines bestimmten Fingers führt zu einem anderen Klang. Auf diese Weise näherte ich mich dem Fingersatz für Satie, der, wie Sie bereits erwähnt haben, technisch nicht anspruchsvoll ist, aber eine besondere Atmosphäre, Transparenz, Einfachheit und einen besonderen Klang verlangt. Ich wünschte, mein Fingersatz könnte den Interpreten inspirieren und ihm helfen, Satie im richtigen Stil zu spielen.
PJ: Könnten Sie dies an einem Beispiel demonstrieren?
PR: Nehmen Sie etwa Nocturne Nr. 2, Takt 14, rechte Hand:
Das Beispiel zeigt, dass ich nicht das „physische“ Legato mit den Fingern bevorzuge, sondern einen „transparenten“ und klaren Klang, der mit einem „Halbpedal“-Legato erzielt wird, das sozusagen über den Tasten „schwebt“, anstatt an ihnen festzukleben … Das ist schwer mit Worten ausdrücken und noch schwerer mit Ziffern! Aber durch die Angabe von „springenden“ Fingersätzen hoffe ich, dass der Interpret das Legato auf „andere Weise“ erreichen will … Ist es ein wenig anmaßend von mir, einen spezifischen Klang durch einen Fingersatz vorzuschlagen? Andererseits ist dies die Bedeutung, die ich dem Fingersatz von „einfachen“ Partituren wie Satie gebe: Ich empfehle einen bestimmten klanglichen und stilistischen Ansatz durch den Fingersatz.
PJ: Welche Rolle spielen Fingersätze, wenn Sie selbst unterrichten, also bei Ihren Meisterklassen? Ist dies ein wichtiges Thema oder ein Aspekt, der nur gelegentlich angesprochen wird?
PR: Es kommt darauf an … Ich beobachte immer die Fingersätze des Schülers, aber wenn es musikalisch überzeugend ist und er keine Probleme zu haben scheint, werde ich nichts ändern (siehe die „Schuh“ -Formulierung meiner Lehrerin!). Aber wenn der Klang nicht angemessen oder das Legato unsicher ist oder wenn ich sehe, dass der Schüler mit Schwierigkeiten zu „kämpfen“ hat, schlage ich einen anderen Fingersatz vor, aber nur im Sinne einer Empfehlung, ich sage immer: „Probieren Sie es aus, und wenn Sie sich damit wohler fühlen, machen Sie es – wenn nicht, vergessen Sie’s!“
Ich versuche, ihnen einen logischen Ansatz für den Fingersatz zu geben, ein Konzept, das sie auf andere Stücke anwenden können. Ich mache dasselbe mit der Interpretation, ich bin da, um ihnen zu helfen, so zu spielen wie sie wollen … nicht um meine eigene Sicht des Stücks durchzusetzen. Aber Dinge wie Klang, Farben, Artikulation, Balance, Pedalisierung, Aufbau einer Phrase … lassen sich auf jedes Repertoire und jede Interpretation übertragen.
PJ: Ich danke sehr für dieses Interview und freue mich auf die Zusammenarbeit für weitere Editionen im G. Henle Verlag.
Vielen Dank für diesen interessanten Blog Beitrag.
Dass Herr Rogé die Aufforderung einer Lehrerin nie verstanden hat, dass man den Daumen auf den schwarzen Tasten nicht verwenden soll, kann ich beim Spiel des wohltemperierten Klaviers nur unterstreichen. Ohne den Daumen auf den schwarzen Tasten ist das meiner Meinung nach gar nicht oder nur sehr schwer spielbar.