Auch wenn in letz­ter Zeit Kom­po­nis­ten wie De­bus­sy, Beet­ho­ven oder ak­tu­ell Saint-Saëns auf­grund ihrer Ju­bi­lä­en im Mit­tel­punkt der Auf­merk­sam­keit stan­den und ste­hen – der ge­hei­me Star im Hen­le-Pro­gramm der letz­ten Jahre scheint mir Antonín Dvořák zu sein. Nicht we­ni­ger als elf neue Ur­text-Aus­ga­ben sei­ner Werke sind in un­se­rem Ver­lag seit 2015 er­schie­nen, dar­un­ter viele große und zen­tra­le Werke sei­nes Schaf­fens wie die spä­ten Streich­quar­tet­te op. 96, 105 und 106, das Kla­vier­quin­tett op. 81, das Kla­vier­trio op. 65 und die Hu­mo­res­ken op. 101 für Kla­vier. In die­sen Tagen wird un­se­re Neu­aus­ga­be der Blä­ser­s­e­re­na­de d-moll op. 44 (HN 1234/HN 7234) er­schei­nen und das Dut­zend voll ma­chen. Und es geht selbst­ver­ständ­lich wei­ter: be­reits in Vor­be­rei­tung für die­sen Herbst sind Dvořáks „sla­wi­sches“ Streich­quar­tett Es-dur op. 51 und – ein be­son­de­rer Hö­he­punkt – sein le­gen­dä­res Cel­lo­kon­zert.

Der Rang die­ser Kom­po­si­tio­nen und ihre Be­liebt­heit bei Mu­si­kern wie beim Pu­bli­kum ist un­be­strit­ten – im Falle der Blä­ser­s­e­re­na­de scheint aber viel­leicht etwas Wer­bung an­ge­bracht, denn sie ist si­cher we­ni­ger be­kannt als viele an­de­re Kom­po­si­tio­nen Dvořáks. Die etwas un­ge­wöhn­li­che Be­set­zung für 10 Blä­ser, Cello und Kon­tra­bass ist in der Regel zu klein für ein Or­ches­ter­kon­zert und zu groß für einen Kam­mer­mu­sik­abend, so dass die Se­re­na­de lei­der sel­ten im Kon­zert­saal zu hören ist. „Dank“ der Co­ro­na-Pan­de­mie sind seit dem letz­ten Jahr aber ge­ra­de sol­che mit­tel­gro­ßen Be­set­zun­gen in Mode ge­kom­men, was uns diese sehr ge­lun­ge­nen Neu­auf­nah­men mit den Mu­si­kern des hr-Sin­fo­nie­or­ches­ters Frank­furt (auf YouTube an­hö­ren) bzw. des Ton­hal­le-Or­ches­ters Zü­rich be­schert hat – un­be­ding­te Hör­emp­feh­lung!

Kein Ge­rin­ge­rer als Jo­han­nes Brahms ur­teil­te: „Die Se­re­na­de ist wohl das Beste, was ich von Dvořák kenne. Das müs­sen gute Ka­pel­len mit Wol­lust bla­sen.“ Zu­ge­ge­ben: die­ses Brief­zi­tat stammt aus dem Som­mer 1879, als Dvořáks Kar­rie­re erst be­gann und seine be­rühm­tes­ten Werke noch lange nicht ent­stan­den waren. Den­noch stell­te Brahms die Blä­ser­s­e­re­na­de damit im­mer­hin über nam­haf­te Kom­po­si­tio­nen Dvořáks wie die Klän­ge aus Mäh­ren, die Sla­wi­schen Tänze op. 46, das Kla­vier­kon­zert, die Strei­cher­s­e­re­na­de E-dur op. 22 oder das (Brahms ge­wid­me­te!) Streich­quar­tett d-moll op. 34.

Für un­se­re neue Ur­text­aus­ga­be der Blä­ser­s­e­re­na­de konn­ten wir Skiz­zen und Par­ti­tur­au­to­graph her­an­zie­hen, dazu Dvořáks per­sön­li­ches Hand­ex­em­plar der ge­druck­ten Par­ti­tur sowie wei­te­re Ex­em­pla­re der Erst­aus­ga­be in Par­ti­tur und Ein­zel­stim­men. (Wie immer ge­bührt dabei ein gro­ßer Dank dem Dvořák-Mu­se­um in Prag, das mit aus­ge­zeich­ne­ten Farb­scans der au­to­gra­phen Quel­len alle un­se­re Dvořák-Edi­tio­nen über­haupt erst er­mög­licht.)

Wenn­gleich das Au­to­graph na­tür­lich eine wich­ti­ge Ver­gleichs­quel­le dar­stellt, do­ku­men­tiert es wie so oft nur den an­fäng­li­chen Stand der Kom­po­si­ti­on. Von der Nie­der­schrift der Par­ti­tur im Ja­nu­ar 1878 bis zum Er­schei­nen der Erst­aus­ga­be ver­ging über ein Jahr, da­zwi­schen lag die Ur­auf­füh­rung am 17. No­vem­ber 1878 – genug Zeit und Ge­le­gen­hei­ten für den Kom­po­nis­ten, noch letz­te Hand an klei­ne De­tails zu legen. Lei­der ist das Ur­auf­füh­rungs­ma­te­ri­al nicht er­hal­ten, eben­so­we­nig die Stich­vor­la­ge der Erst­aus­ga­be, aber der ge­naue Ver­gleich der ge­druck­ten Par­ti­tur mit dem Au­to­graph brach­te et­li­che Ab­wei­chun­gen zu Tage, die nur auf be­wuss­te Ein­grif­fe Dvořáks zu­rück­ge­hen kön­nen. Stell­ver­tre­tend sei hier nur eine Stel­le im 1. Satz ge­zeigt – eine ab­sicht­li­che Än­de­rung in der Stimm­füh­rung von Kla­ri­net­te 2, Fa­gott 1/2 und Kon­tra­f­a­gott:


Se­re­na­de op. 44, 1. Satz, T. 4
Rechts: Erst­aus­ga­be der Par­ti­tur, Ber­lin: Sim­rock, 1879.
Links: Par­ti­tur­au­to­graph, České Mu­ze­um Hudby, Fonds Antonín Dvořák, Si­gna­tur S 76/1522. Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Na­tio­nal­mu­se­ums – Antonín Dvořák Mu­se­um, Prag

Aus die­sem Grund haben wir als Haupt­quel­le un­se­rer Edi­ti­on die vom Kom­po­nis­ten au­to­ri­sier­te und Kor­rek­tur ge­le­se­ne Erst­aus­ga­be ge­wählt, die si­cher­lich die Fas­sung letz­ter Hand dar­stellt, und nicht das Au­to­graph, des­sen Les­ar­ten nur mit Vor­sicht zu be­trach­ten sind.

Den­noch er­mög­licht der Blick in die au­to­gra­phen Quel­len wert­vol­le Ein­sich­ten, ins­be­son­de­re zu Be­set­zungs­fra­gen. Zum einen ist völ­lig evi­dent, dass Dvořák von Be­ginn an eine Be­set­zung auch mit Streich­bäs­sen, also Cello und Kon­tra­bass vor­sah, und diese nicht erst nach­träg­lich hin­zu­füg­te (diese Auf­fas­sung fin­det sich ge­le­gent­lich in der Li­te­ra­tur, etwa in der ak­tu­el­len Fas­sung des eng­li­schen Wi­ki­pe­dia-Ar­ti­kels).

Be­reits in den Skiz­zen, die zahl­rei­che In­stru­men­tie­rungs­hin­wei­se ent­hal­ten, fin­den sich An­ga­ben wie „Cello“ oder „Bassi“ – siehe das Di­gi­ta­li­sat in der Tsche­chi­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek. Auch das Par­ti­tur­au­to­graph zeigt kei­ner­lei An­zei­chen einer spä­te­ren Er­gän­zung der Strei­cher­sys­te­me – dies wäre an­ge­sichts der oft völ­lig ei­gen­stän­di­gen Stimm­füh­rung v.a. des Cel­los, etwa zu Be­ginn des Me­nu­et­tos, auch nur schwer vor­stell­bar. Dvořák wünsch­te sogar eine sehr star­ke Be­set­zung der Streich­bäs­se – „min­des­tens zwei­fa­che Be­set­zung“ no­tier­te er auf deutsch und tsche­chisch vor das Sys­tem am Be­ginn der Par­ti­tur:


Se­re­na­de op. 44, Par­ti­tur­au­to­graph, 1. No­ten­sei­te (De­tail). Die Ein­tra­gun­gen mit Blei­stift und Bunt­stift stam­men vom Ver­lag Sim­rock, der die Erst­aus­ga­be ver­öf­fent­lich­te.
České Mu­ze­um Hudby, Fonds Antonín Dvořák, Si­gna­tur S 76/1522. Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Na­tio­nal­mu­se­ums – Antonín Dvořák Mu­se­um, Prag

Aus einem Zei­tungs­be­richt zur Ur­auf­füh­rung wis­sen wir, dass dort auch tat­säch­lich zwei Vio­lon­cel­li und zwei Kon­tra­bä­sse zum Ein­satz kamen. Dass in der Erst­aus­ga­be dann letzt­lich nur je­weils ein Cello und Kon­tra­bass ge­nannt wer­den, könn­te auf rein kauf­män­ni­sche Wün­sche des Sim­rock-Ver­lags zu­rück­ge­hen, um die Aus­ga­be bes­ser ver­käuf­lich zu ma­chen. Hier­für gibt es zwar keine brief­li­chen Be­le­ge, al­ler­dings zu einem ana­lo­gen Fall, in dem der Ver­le­ger eine an­de­re Ver­ein­fa­chung der Be­set­zung wünsch­te: an­stel­le des Kon­tra­f­a­gotts – si­cher kein ganz gän­gi­ges In­stru­ment – schlug Fritz Sim­rock dem Kom­po­nis­ten ernst­haft die Ver­wen­dung einer Bas­stu­ba vor…! Dvořák ant­wor­te­te hier­auf: „Ich glau­be, es wäre doch bes­ser, wenn man in Er­man­ge­lung des Kon­tra­f­a­gotts schreibt: Con­tra­f­a­got ad li­bi­tum. Tuba würde das zarte Ko­lo­rit der Blä­ser doch sehr be­ein­träch­ti­gen. Wer also das Fa­gott hat, soll’s bla­sen, wer nicht, geht’s ohne dem auch.“ Die An­ga­be „ad li­bi­tum“ kam also nur auf Drän­gen des Ver­lags zu­stan­de, und En­sem­bles, die der ur­sprüng­li­chen Klang­vor­stel­lung des Kom­po­nis­ten mög­lichst nahe kom­men wol­len, soll­ten ein­mal damit ex­pe­ri­men­tie­ren, so­wohl Kon­tra­f­a­gott als auch dop­pel­te Strei­cher zu be­set­zen.

Ab­schlie­ßend sei noch auf ein Ku­rio­sum der oben ab­ge­bil­de­ten Be­set­zungs­an­ga­be hin­ge­wie­sen: die bei­den Flö­ten, die Dvořák zu­erst no­tier­te und gleich wie­der durch­strich, sind wohl aus blo­ßer Zer­streut­heit hin­ein­ge­ra­ten; auch in den oben er­wähn­ten Skiz­zen fin­det sich kein ein­zi­ger Hin­weis auf die­ses In­stru­ment. Un­denk­bar wären Flö­ten in die­sem Rah­men al­ler­dings nicht ge­we­sen: nur we­ni­ge Jahre vor Dvořáks Se­re­na­de waren mit Franz Lach­ners Ok­tett op. 156 und Joa­chim Raffs Sin­fo­ni­et­ta op. 188 zwei Werke für gro­̈ß­ere Bla­̈se­rb­ese­tzu­ngen er­schie­nen, in denen Flö­ten ver­wen­det wer­den. Dvořák hätte diese Werke ken­nen kön­nen; ver­mut­lich be­vor­zug­te er aber doch den klas­si­schen Se­re­na­den­klang Mo­zarts und Beet­ho­vens mit den füh­ren­den Oboen als Ober­stim­men. Wer üb­ri­gens in der gro­ßen Be­set­zung und dem Ton­fall des traum­haf­ten An­dan­tes Ähn­lich­kei­ten zu Mo­zarts Gran Par­ti­ta KV 361 sieht und darin eine In­spi­ra­ti­on für Dvořák ver­mu­tet, liegt si­cher rich­tig – doch davon soll ein an­de­rer Blog­bei­trag han­deln!

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