Franz Schuberts Klaviermusik ist ein schier unendlich-magisches Wunderreich. Auf kleinstem Raum kann er bekanntlich auf verblüffende Weise in harmonisch entlegenste Bereiche modulieren – und wieder zurück. So auch im vielgespielten Impromptu in As-dur D 935, Nr. 2. Dessen Mittelteil in Des-dur gehört seit jeher zu meinen absoluten Schubert-Lieblingsstellen. Immer läuft mir ein wohliger Schauer über den Rücken, wenn der sanfte Triolen-Abschnitt mit der darin versteckten Melodie beginnt:
Paul Lewis spielt Schubert As-dur-Impromptu D 935, Nr. 2, Trio bei 1:30–3:37.
Fast unbemerkt führt uns Schubert hier aus der zuvor vielfach gefestigten Grundtonart Des-dur in eine erregte, vorzeichenlose Fläche, in der dann über sieben Takte nichts weiter als ein A-dur-(!) Dreiklang auf- und abwogt. A-dur in Des-dur? – nicht gerade freundlich benachbarte Tonarten ???? Wie aber wieder zurück nach Des-dur gelangen?
Für Schubert überhaupt kein Problem. Er legt dazu für einen kleinen Moment seinen Zauberstab an: Das Auf und Ab der Triolen scheinbar harmlos fortsetzend gelangt er in nur drei Takten über die Mollparallele fis-moll, die sich anschließende enharmonische Verwechslung und damit harmonische Umdeutung (A-dur = I | fis-moll = VI ≙ ges-moll = IV von Des-moll/Dur | AsDes = 5I | As7 = V7 | Des = I) zurück in die wohlige Des-dur-Heimat.
Besonders raffiniert scheint mir dabei der Triller im Bass auf dem sehr tiefen Fis (Bassgang: A1 – Fis1 – As1 – Des). Dieser Triller über dem aus A-dur ableitenden Fis „moderiert“ gewissermaßen den wunderbaren Harmonik-Wechsel; durch sein tiefes Murmeln wird außerdem für einen Moment unsere Aufmerksamkeit auf das eigentliche „atemraubende“ Geschehen ein wenig abgelenkt.
Zu diesem Triller habe ich nun ein Frage an Sie, liebe Leserinnen und Leser: Soll denn mit der oberen Ganzton-Note (Gis) getrillert werden oder mit dem leicht „gefährlicheren“ Halbton G? Die Frage hat natürlich einen philologischen Hintergrund, denn in Schuberts Handschrift steht eindeutig ein G – kein # zum Triller:
Natürlich kann man argumentieren, dass Schubert vermutlich das „selbstverständliche“ # über dem tr-Zeichen schlicht zu schreiben vergaß. So hat es offenbar auch Diabelli als Herausgeber der postumen Erstausgabe „op. 142“ (erschienen 1839, Franz Liszt gewidmet) gesehen und die Angelegenheit ganz pragmatisch durch Ergänzung eines klein gestochenen Gis, dem Triller vorausgehend, geklärt:
Alle mir zugänglichen Ausgaben, ob Urtext oder nicht, ergänzen seither das # zur Triller-Obernote (= Gis). Allein: sämtliche bisherigen Auflagen der Henle-Urtextausgabe nicht, denn wir folgten jahrzehntelang der autographen Lesart (G). Doch nun, nach Anregung eines Pianisten und sich anschließender ausführlicher Diskussion innerhalb unseres Lektorats haben wir beschlossen, in der aktuell ausgelieferten Auflage das „natürlicher“ klingende # der Erstausgabe zu ergänzen.
Ich gebe zu: man hört den Unterschied zwischen G und Gis so gut wie nicht, bestenfalls im direkten Vergleich am Klavier. Selbst in diversen Aufnahmen der großen Pianisten (z.B. Radu Lupu in seiner wunderbar langsamen Aufnahme, in der man den Bass kaum wahrnimmt) kann ich oft nicht sicher entscheiden, ob in der Klaviertiefe mit G oder Gis getrillert wird. (Paul Lewis, in der oben verlinkten Aufnahme, spielt Gis.)
Was ist Ihre Meinung und warum? Ich würde mich sehr freuen, die Henle-interne Diskussion ein wenig zusammen mit Ihnen fortzusetzen. Vielen Dank.
PS: Zu einem anderen, noch viel berühmteren Basstriller in Schuberts Klaviermusik hat sich kein Geringerer als András Schiff einmal sehr lesenswert geäußert.
Herzlichen Dank für diesen spannenden Beitrag. Für mich ganz klar Gis, vor allem weil sowohl bei A-Dur wie fis-Moll und Des-Dur dieser Ton in der zugehörigen Skala gespielt wird, bei Des-Dur enharmonisch umgedeutet in As. Ich habe ehrlich gesagt bisher gar nicht bemerkt (ich benutze die Henle/Gieseking-Ausgabe von 1974, wo das # oberhalb des Trillers fehlt).
Mit freundlichen Grüssen, Simon Bischof
Ich möchte von einer anderen Seite herangehen. Der Terminus “Enharmonische Verwechslung” ist wissenschaftlich “gedeckt”, klar. Ich empfinde ihn dennoch seit langem als ungenügend, als unglückliche Formulierung. Er nimmt der Enharmonik ihr eigentliches Mysterium.
Wir sind uns sicher einig in der Verehrung des “Harmonischen Magiers” Schubert. Dennoch gibt es: a) Schreib-Enharmonik, b) Wesens-Enharmonik. Bei aller Liebe zu D 935/2: Hier liegt einfache Schreib-Enharmonik vor. In Takt 62 notiert Schubert das in des-moll völlig korrekte heses. Ab Takt 67 wird ihm das alles zu umständlich, und er schreibt die in einfachen harmonischen Verhältnissen fortschreitende Passage um: Statt ges-moll, Fes-Dur, Heses-Dur schreibt er fis-moll, E-Dur, A-Dur. (Er tut es, um die immergleiche Note mit Doppel-be zu vermeiden: heses.) Wäre er in Takt 75 tatsächlich in Heses-Dur (nebenbei: gleich die erste Quint-Tonart unter Fes-Dur), käme er in Takt 76 in die Paralleltonart ges-moll und dann über den Quartsextakkord ganz selbstverständlich zurück nach Des-Dur. Fazit: Das Trio ist wunderbar. aber nicht: harmonisch kompliziert.
So wie A-Dur von Cis-Dur gerade mal vier Quinten entfernt ist, und durch einen gemeinsamen Ton verwandt bleibt, genauso verhält es sich mit Des-Dur und Heses-Dur. (Das klingt nur in der Benennung kompliziert.) Die enharmonische Umschrift hat hier nichts mit “harmonischer Magie”, sondern mit einer Lese-Erleichterung zu tun.
Und wo liegt “Wesens-Enharmonik” vor? Da bleiben wir selbstverständlich bei Schubert. Nehmen uns das Lied >Die Gebüsche< D 646 (schon 1819) vor. Wo gleich ZWEIMAL zu verfolgen UND zu erleben ist, wie es im Quintenzirkel weiter und weiter nach unten geht, bis eben enharmonisch umgeschrieben werden MUSS, weil mit der Durchschreitung des Quintenzirkels tatsächlich das Ausgangsplateau wieder erreicht ist. DAS meine ich mit "Mysterium". Eigentlich kommt in diesem unglaublichen Lied sogar – im Zeitraffer – zu einer dritten wesens-enharmonischen Passage. Aber das führt nun zu weit von unserem Ausgangswerk weg…
Fazit: In ges-moll, in DIESEM harmonischen Kontext ist gar kein anderer Triller-Nebenton als "As" (enharmonisch: "Gis") vorstellbar. Ein "G" hätte Schubert extra vorzeichnen müssen!
Tut mir leid für die Ausführlichkeit. Aber ich wollte die Begründung doch in einer etwas tieferen Schicht verankern.
Kollegiale Grüße,
Rudi Spring
Der Henle Blog regt immer dazu an, die eigenen Notenbestände zu durchforsten, um eine eventuelle Antwort auf das angesprochene Problem zu finden. Man stößt dabei auf vergessene Schätze wie z. B. eine Ausgabe des As-Dur Impromptus aus der Feder Alfred Cortots, die bei uns unbekannt geblieben ist. Welch schöne Worte findet er für den Charakter dieses Stückes und wie wertvoll sind seine praktischen Hinweise! Selbstverständlich trillert er mit Gis.
Leider stellt sich beim Anhören der Aufnahme von Paul Lewis nicht der von Herrn Seiffert verspürte „wohlige Schauer“ ein, weil der Pianist genau das macht, wovor Cortot warnt. Das Achtel ist bereits im ersten Takt verkürzt, ganz schlimm im zweiten Teil, in dem auch die Akkorde viel zu laut sind, wovor Cortot ausdrücklich warnt. Auch das in den Triolen versteckte diskrete melodische Geschehen im Trio ist zu aufdringlich hervorgehoben.
Zur Trillerfrage ist zu sagen, dass es eigentlich keine Unklarheiten gibt. Schubert hat nicht etwa das Kreuz vor dem G vergessen. Die Stelle ist harmonisch eindeutig. Interessant ist, dass auch Walter Gieseking, der Herausgeber der Henle-Ausgabe aus der Pionierzeit der Urtextausgaben, in seiner wunderbar schlichten Einspielung des Stückes mit Gis trillert (auf youtube zu hören).
Danke für den anregenden Beitrag.