Antonín Dvořáks Cellokonzert op. 104 mag für Cellisten schon eine besondere Herausforderung sein, für Herausgeber einer Urtext-Ausgabe ist es dank seiner vielen Textvarianten ein wahrer Alptraum. Nicht genug, dass es – wie so oft bei Dvořák – zwischen autographer Partitur und Erstausgabe zahlreiche Differenzen gibt, die sich nur schwer klären lassen. Nein, auch innerhalb der einzelnen Quellen finden sich gerade im Solopart immer wieder Abweichungen und Unklarheiten, sei es durch vielfache Überschreibungen im Autograph oder kleine Dynamik- und Artikulationsvarianten zwischen der gedruckten Einzelstimme und ihrer Wiedergabe in Partitur oder Klavierauszug. Sehr hilfreich wäre da ja die von Dvořák selbst im Herbst 1895 ausgeschriebene Stichvorlage der Erstausgabe – die aber leider verschollen ist. Dafür tauchte vor einigen Jahren in New York eine Abschrift der Solostimme auf, die offenbar aus Dvořáks direktem Umfeld stammt und an einigen Stellen durch genau abgezählte „Blanko-Takte“ überrascht …
Aber beginnen wir mit dem Autograph: Dvořák schrieb das Cellokonzert in seinem letzten „amerikanischen Winter“ 1894/95 nieder und hielt am Ende der Partitur fest: „Beendet in New York am 9. Februar 1895 am Geburtstag unseres [Sohnes] Otáček am Samstag früh um 11 1/2 Uhr“. Bereits im Dezember 1894 hatte er seinem Verleger Fritz Simrock gegenüber eine für das Ende der Saison in Amerika geplante Aufführung erwähnt. Ende Februar berichtete er der Familie, dass er am Konzert zwar „hier und da“ noch „Kleinigkeiten“ ändere, dieses aber bereits verschiedenen Cellisten vorgetragen habe, die dem Werk alle eine „glänzende Zukunft“ voraussagten.
Zu diesen Cellisten gehörte auch der mit Dvořák gut bekannte Alwin Schroeder vom Kneisel-Quartett, aus dessen Besitz die erwähnte Abschrift mit den Blanko-Takten stammt. (Abbildung mit freundlicher Genehmigung von: Bob Williamson Collection, Dvořák American Heritage Association, and the New York Philharmonic Leon Levy Digital Archives.)
Sie entstand wohl für eine Aufführung oder ein gemeinsames Proben, denn der Notentext ist so aufgeteilt, dass der Solist in Pausentakten blättern kann. Vereinzelte Probeziffern sowie der an manchen Stellen mit Bleistift eingetragene Fingersatz sprechen ebenfalls für den praktischen Gebrauch dieser Stimme – aber wie passt das zu den leeren Takten in den Ecksätzen (Satz I T. 158–171 und 285–298, Satz III T. 177–188)? Ein Blick in die heute im Prager Nationalmuseum aufbewahrte autographe Partitur (Tschechisches Museum für Musik, Fonds Antonín Dvořák, S 76/1540) offenbart überraschenderweise den gegenteiligen Befund: Wo in der Stimme blanke Leere herrscht, findet sich hier ein Übermaß an Varianten in bis zu vier Schreibschichten!
Der genaue Textvergleich beider Quellen liefert die Erklärung: Die Abschrift enthält im Notentext nur einige wenige der im Autograph eingetragenen Änderungen. Sie bezeugt damit vermutlich genau jenen Textstand der ersten, von Dvořák brieflich erwähnten Revision des Autographs im Februar 1895, die aber noch lange nicht die letzte war.
Vielmehr überarbeitete Dvořák das Konzert nach seiner Rückkehr in die böhmische Heimat im Frühjahr 1895 unter anderem auch mit dem Cellisten Hanuš Wihan, dem das Konzert gewidmet ist. Neben grundlegenden Änderungen wie der Komposition eines neuen Schlusses belegt das Autograph an vielen Stellen auch das gemeinsame „Feilen“ von Komponist und Interpret am Solopart – wie im hier gezeigten Ausschnitt von T. 158–165. Die Abschrift wurde also offenbar zu einem Zeitpunkt erstellt, als hier noch keine Entscheidung getroffen war – womöglich sollten Blanko-Takte darin sogar als „Raum für Ihre Notizen“ dienen, so dass der ausführende Cellist sich hier eine eigene Version überlegen konnte?
Bemerkenswert ist übrigens, dass es sich hier (und genauso bei den anderen „Blanko“-Takten) gerade nicht um eine brillante Solopassage handelt, sondern eher um eine Begleitfigur. Musikalisch im Vordergrund steht in dieser Überleitungspassage das klagende Holzbläsermotiv, das der Solist nur mit einem zarten „Klangteppich“ unterlegt. Dvořák hatte dafür zunächst eine schlichtere Figuration in 4er-Gruppen vorgesehen, die offenbar in verschiedenen Alternativen diskutiert wurde, bevor Wihan dann schließlich im jeweils untersten System die originellen Akkordbrechungen in 16tel-Sextolen eintrug, deren klangschöne und zugleich dezente Ausführung bis heute eine Herausforderung für jeden Cellisten darstellen.
Uns erschien diese Stelle so typisch für die gemeinsame Arbeit von Komponist und Interpret, dass wir sie unserer neuen Urtext-Ausgabe des Cellokonzerts sogar als Frontispiz voranstellen – auch wenn sie letztlich nicht zu den „fraglichen Stellen“ gehört, die der Editorin Kopfzerbrechen bereiten. Aber zu diesen Problemen (und wie wir sie mit der wunderbaren Unterstützung von Steven Isserlis erfolgreich gelöst haben) demnächst einmal mehr – Dvořáks Cellokonzert ist schließlich mehr als einen Blogbeitrag wert!