Antonín Dvořák (1841–1904)

Antonín Dvořáks Cel­lo­kon­zert op. 104 mag für Cel­lis­ten schon eine be­son­de­re Her­aus­for­de­rung sein, für Her­aus­ge­ber einer Ur­text-Aus­ga­be ist es dank sei­ner vie­len Text­va­ri­an­ten ein wah­rer Alp­traum. Nicht genug, dass es  – wie so oft bei Dvořák – zwi­schen au­to­gra­pher Par­ti­tur und Erst­aus­ga­be zahl­rei­che Dif­fe­ren­zen gibt, die sich nur schwer klä­ren las­sen. Nein, auch in­ner­halb der ein­zel­nen Quel­len fin­den sich ge­ra­de im So­lo­part immer wie­der Ab­wei­chun­gen und Un­klar­hei­ten, sei es durch viel­fa­che Über­schrei­bun­gen im Au­to­graph oder klei­ne Dy­na­mik- und Ar­ti­ku­la­ti­ons­va­ri­an­ten zwi­schen der ge­druck­ten Ein­zel­stim­me und ihrer Wie­der­ga­be in Par­ti­tur oder Kla­vier­aus­zug. Sehr hilf­reich wäre da ja die von Dvořák selbst im Herbst 1895 aus­ge­schrie­be­ne Stich­vor­la­ge der Erst­aus­ga­be – die aber lei­der ver­schol­len ist. Dafür tauch­te vor ei­ni­gen Jah­ren in New York eine Ab­schrift der So­lo­stim­me auf, die of­fen­bar aus Dvořáks di­rek­tem Um­feld stammt und an ei­ni­gen Stel­len durch genau ab­ge­zähl­te „Blan­ko-Tak­te“ über­rascht …

Aber be­gin­nen wir mit dem Au­to­graph: Dvořák schrieb das Cel­lo­kon­zert in sei­nem letz­ten „ame­ri­ka­ni­schen Win­ter“ 1894/95 nie­der und hielt am Ende der Par­ti­tur fest: „Be­en­det  in New York am 9. Fe­bru­ar 1895 am Ge­burts­tag un­se­res [Soh­nes] Otáček am Sams­tag früh um 11 1/2 Uhr“. Be­reits im De­zem­ber 1894 hatte er sei­nem Ver­le­ger Fritz Sim­rock ge­gen­über eine für das Ende der Sai­son in Ame­ri­ka ge­plan­te Auf­füh­rung er­wähnt. Ende Fe­bru­ar be­rich­te­te er der Fa­mi­lie, dass er am Kon­zert zwar „hier und da“ noch „Klei­nig­kei­ten“ än­de­re, die­ses aber be­reits ver­schie­de­nen Cel­lis­ten vor­ge­tra­gen habe, die dem Werk alle eine „glän­zen­de Zu­kunft“ vor­aus­sag­ten.

Zu die­sen Cel­lis­ten ge­hör­te auch der mit Dvořák gut be­kann­te Alwin Schro­eder vom Knei­sel-Quar­tett, aus des­sen Be­sitz die er­wähn­te Ab­schrift mit den Blan­ko-Tak­ten stammt. (Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung von: Bob Wil­li­am­son Collec­tion, Dvořák Ame­ri­can He­ri­ta­ge As­so­cia­ti­on, and the New York Phil­har­mo­nic Leon Levy Di­gi­tal Ar­chi­ves.)

Frühe Ab­schrift der So­lo­stim­me, Satz I, T. 145–185 (T. 158–171 leer).

Sie ent­stand wohl für eine Auf­füh­rung oder ein ge­mein­sa­mes Pro­ben, denn der No­ten­text ist so auf­ge­teilt, dass der So­list in Pau­sen­tak­ten blät­tern kann. Ver­ein­zel­te Pro­be­zif­fern sowie der an man­chen Stel­len mit Blei­stift ein­ge­tra­ge­ne Fin­gersatz spre­chen eben­falls für den prak­ti­schen Ge­brauch die­ser Stim­me – aber wie passt das zu den lee­ren Tak­ten in den Eck­sät­zen (Satz I T. 158–171 und 285–298, Satz III T. 177–188)? Ein Blick in die heute im Pra­ger Na­tio­nal­mu­se­um auf­be­wahr­te au­to­gra­phe Par­ti­tur (Tsche­chi­sches Mu­se­um für Musik, Fonds Antonín Dvořák, S 76/1540) of­fen­bart über­ra­schen­der­wei­se den ge­gen­tei­li­gen Be­fund: Wo in der Stim­me blan­ke Leere herrscht, fin­det sich hier ein Über­maß an Va­ri­an­ten in bis zu vier Schreib­schich­ten!

2 Aus­schnit­te aus dem Par­ti­tur­au­to­graph, Satz I, T. 158–160 und 161–165, So­lo­stim­me.

Der ge­naue Text­ver­gleich bei­der Quel­len lie­fert die Er­klä­rung: Die Ab­schrift ent­hält im No­ten­text nur ei­ni­ge we­ni­ge der im Au­to­graph ein­ge­tra­ge­nen Än­de­run­gen. Sie be­zeugt damit ver­mut­lich genau jenen Text­stand der ers­ten, von Dvořák brief­lich er­wähn­ten Re­vi­si­on des Au­to­graphs im Fe­bru­ar 1895, die aber noch lange nicht die letz­te war.

Viel­mehr über­ar­bei­te­te Dvořák das Kon­zert nach sei­ner Rück­kehr in die böh­mi­sche Hei­mat im Früh­jahr 1895 unter an­de­rem auch mit dem Cel­lis­ten Hanuš Wihan, dem das Kon­zert ge­wid­met ist. Neben grund­le­gen­den Än­de­run­gen wie der Kom­po­si­ti­on eines neuen Schlus­ses be­legt das Au­to­graph an vie­len Stel­len auch das ge­mein­sa­me „Fei­len“ von Kom­po­nist und In­ter­pret am So­lo­part – wie im hier ge­zeig­ten Aus­schnitt von T. 158–165. Die Ab­schrift wurde also of­fen­bar zu einem Zeit­punkt er­stellt, als hier noch keine Ent­schei­dung ge­trof­fen war – wo­mög­lich soll­ten Blan­ko-Tak­te darin sogar als „Raum für Ihre No­ti­zen“ die­nen, so dass der aus­füh­ren­de Cel­list sich hier eine ei­ge­ne Ver­si­on über­le­gen konn­te?

Be­mer­kens­wert ist üb­ri­gens, dass es sich hier (und ge­nau­so bei den an­de­ren „Blan­ko“-Tak­ten) ge­ra­de nicht um eine bril­lan­te So­lo­pas­sa­ge han­delt, son­dern eher um eine Be­gleit­fi­gur. Mu­si­ka­lisch im Vor­der­grund steht in die­ser Über­lei­tungs­pas­sa­ge das kla­gen­de Holz­blä­ser­mo­tiv, das der So­list nur mit einem zar­ten „Klang­tep­pich“ un­ter­legt. Dvořák hatte dafür zu­nächst eine schlich­te­re Fi­gu­ra­ti­on in 4er-Grup­pen vor­ge­se­hen, die of­fen­bar in ver­schie­de­nen Al­ter­na­ti­ven dis­ku­tiert wurde, bevor Wihan dann schließ­lich im je­weils un­ters­ten Sys­tem die ori­gi­nel­len Ak­kord­bre­chun­gen in 16­tel-Sex­to­len ein­trug, deren klang­schö­ne und zu­gleich de­zen­te Aus­füh­rung bis heute eine Her­aus­for­de­rung für jeden Cel­lis­ten dar­stel­len.

Uns er­schien diese Stel­le so ty­pisch für die ge­mein­sa­me Ar­beit von Kom­po­nist und In­ter­pret, dass wir sie un­se­rer neuen Ur­text-Aus­ga­be des Cel­lo­kon­zerts sogar als Fron­tispiz vor­an­stel­len – auch wenn sie letzt­lich nicht zu den „frag­li­chen Stel­len“ ge­hört, die der Edi­to­rin Kopf­zer­bre­chen be­rei­ten. Aber zu die­sen Pro­ble­men (und wie wir sie mit der wun­der­ba­ren Un­ter­stüt­zung von Ste­ven Is­ser­lis er­folg­reich ge­löst haben) dem­nächst ein­mal mehr – Dvořáks Cel­lo­kon­zert ist schließ­lich mehr als einen Blog­bei­trag wert!

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