Ge­neig­te Be­su­che­rin­nen und Be­su­cher un­se­rer di­ver­sen di­gi­ta­len Platt­for­men wis­sen es schon: 2022 steht bei Henle unter dem Motto „Hen­le4Strings“ das Streich­quar­tett im Mit­tel­punkt. Höchs­te Zeit also, dass auch unser Blog sich die­sem Thema nä­hert, zumal die Gat­tung – wenn man mal von der re­gel­mä­ßi­gen Be­richt­er­stat­tung über den Fort­schritt am Groß-Pro­jekt Mo­zart-Streich­quar­tet­te ab­sieht – in die­sem Blog re­gel­recht un­ter­be­lich­tet ist.

Nur ein Kom­men­tar zu Beet­ho­vens Streich­quar­tet­ten, kein ein­zi­ges Pos­ting zu Haydns im­mer­hin 68 Bei­trä­gen zur Gat­tung – wie kann das sein? Nun, das liegt schlicht daran, dass sich die­ser Blog in der Regel der ak­tu­el­len Ar­beit im Lek­to­rat wid­met. Die Aus­ga­ben Beet­ho­vens und Haydns Quar­tet­ten je­doch ge­hö­ren über­wie­gend wenn nicht zum Ur­ge­stein des Ver­lags (das der Kla­vier- und Kla­vier­kam­mer­mu­sik vor­be­hal­ten ist) so doch zu einer ziem­lich tie­fen Erd­schicht in un­se­rem Ka­ta­log. Sie ent­stan­den teils schon in den 1970er-Jah­ren – als noch nie­mand ahnte, dass ein­mal ein Lek­to­ren-Blog die re­gel­mä­ßi­ge Be­richt­er­stat­tung aus der Edi­ti­ons­werk­statt er­lau­ben würde…

Dabei hät­ten die Her­aus­ge­ber der Quar­tet­te Jo­seph Haydns, von Georg Feder über Sonja Ger­lach und Horst Wal­ter bis hin zu James Webs­ter, als Haydn-Ex­per­ten und lang­jäh­ri­ge Mit­wir­ken­de an der Jo­seph Haydn-Ge­samt­aus­ga­be si­cher­lich ei­ni­ges zu er­zäh­len ge­habt zur pro­ble­ma­ti­schen Über­lie­fe­rung der Quar­tet­te. Zum einen sind nicht alle im Au­to­graph er­hal­ten, zum an­de­ren kur­sier­ten viele schon zu Haydns Leb­zei­ten in un­au­to­ri­sier­ten Ab­schrif­ten oder Dru­cken, die einem wis­sen­schaft­li­chen Her­aus­ge­ber das Leben ganz schön schwer ma­chen kön­nen. Aber wer weiß: Viel­leicht bringt das Jahr 2022 noch einen Nach­trag in die­sem Sinne? Es dau­ert ja noch ein paar Wo­chen!

Zum Ein­stieg in das Quar­tett-The­ma möch­te ich aber nicht auf eine kon­kre­te Les­ar­ten-Fra­ge ein­ge­hen, son­dern die Auf­merk­sam­keit auf die ty­pi­sche Über­lie­fe­rung und die damit zu­sam­men­hän­gen­den Edi­ti­ons­pro­ble­me len­ken, mit denen wir uns bei die­ser Gat­tung kon­fron­tiert sehen. Denn im Ge­gen­satz zur Kla­vier­mu­sik, bei der der Kom­po­nist in der Regel auch zu­gleich der erste In­ter­pret und beste Ken­ner sei­nes Wer­kes ist und die Über­lie­fe­rungs­ket­te Au­to­graph – Stich­vor­la­ge – Erst­aus­ga­be meist in sei­ner Hand liegt, wird die Ent­ste­hung und Ver­brei­tung von Kam­mer­mu­sik ohne Kla­vier mal mehr, mal we­ni­ger auch durch frem­de Hände be­ein­flusst.

Das fängt schon damit an, dass für die erste Auf­füh­rung eines Quar­tetts gleich vier ver­schie­de­ne Ein­zel­stim­men aus­zu­schrei­ben sind, bei denen auch der sorg­fäl­tigs­te Ko­pist ein­mal etwas ver­gisst oder sich ver­schreibt. Da diese Stim­men dann gerne auch als Vor­la­ge für die Erst­aus­ga­be in Stim­men die­nen – und sol­che Stim­men­dru­cke bis ins 19. Jahr­hun­dert meist auch die ein­zi­ge zu Leb­zei­ten des Kom­po­nis­ten er­schie­ne­ne Aus­ga­be dar­stel­len –, blei­ben sol­che Män­gel wo­mög­lich lange un­be­merkt, wenn kei­ner mehr ins Au­to­graph schaut.

So geis­ter­te der Kopf­satz von Haydns Streich­quar­tett op. 71 Nr. 1 lange Zeit in einer merk­wür­di­gen Misch­form durch die Mu­sik­welt, bei der eine vom Kom­po­nis­ten im Au­to­graph ein­ge­tra­ge­ne Än­de­rung in der Erst­aus­ga­be nur für Vio­li­ne 1 über­nom­men wurde, wäh­rend die Un­ter­stim­men un­ver­än­dert blie­ben. Erst 1978 wurde mit Er­schei­nen des Werks in der Jo­seph Haydn-Ge­samt­aus­ga­be die­ser Irr­tum von Georg Feder und Isi­dor Sas­lav auf­ge­deckt – und die end­gül­ti­ge Werk­ge­stalt dann in der dar­auf ba­sie­ren­den Hen­le-Ur­text-Aus­ga­be end­lich auch für die Pra­xis zu­gäng­lich ge­macht.

Haydn, op. 71 Nr. 1, Satz I, Fas­sung der Erst­aus­ga­be.

Haydn, op. 71 Nr. 1, Satz I, Henle Ur­text-Aus­ga­be.

Um­ge­kehrt kön­nen aus dem Au­to­graph ko­pier­te Stim­men na­tür­lich auch wich­ti­ge In­for­ma­tio­nen ent­hal­ten – wie es Wolf-Die­ter Seif­fert bei sei­ner Edi­ti­on von Mo­zarts Streich­quar­tett KV 421 fest­stell­te: Hier zeigt ein Ver­gleich der zu Mo­zarts Leb­zei­ten er­schie­ne­nen Erst­aus­ga­be mit dem Au­to­graph zahl­rei­che Ab­wei­chun­gen, die nur auf den Kom­po­nis­ten zu­rück­ge­hen kön­nen. Ver­mut­lich hat Mo­zart sie bei den ers­ten Auf­füh­run­gen in einen heute ver­schol­le­nen hand­schrift­li­chen Stim­men­satz ein­ge­tra­gen, der dann als Stich­vor­la­ge für die Erst­aus­ga­be dien­te. In sein Au­to­graph hat er diese aber nicht rück­über­tra­gen, wes­we­gen die­ses bei der Edi­ti­on nur noch be­dingt her­an­ge­zo­gen wer­den kann. Dass dies den Her­aus­ge­ber beim Um­gang mit ge­wis­sen rhyth­mi­schen Fi­nes­sen wie dem „lom­bar­di­schen Rhyth­mus“ dann vor schwie­ri­ge Ent­schei­dun­gen stel­len kann, steht auf einem an­dern Blatt bzw. Blog.

Fra­gen ganz an­de­rer Art stell­ten sich Her­aus­ge­ber Egon Voss bei der Edi­ti­on von zwei spä­ten Schu­bert-Streich­quar­tet­ten, zu denen je­weils nur eine ein­zi­ge Quel­le vor­lag: Wäh­rend für das Ro­sa­mun­de-Quar­tett D 804 nur eine Erst­aus­ga­be in Stim­men exis­tiert, die zahl­rei­che Un­stim­mig­kei­ten unter den vier Stim­men auf­weist, ist das G-dur-Quar­tett D 887 le­dig­lich in einer ers­ten Nie­der­schrift des Kom­po­nis­ten von 1826 über­lie­fert, der of­fen­sicht­lich eine letz­te re­dak­tio­nel­le Durch­sicht des Kom­po­nis­ten fehl­te. Bei der Ro­sa­mun­de be­stand die edi­to­ri­sche Grat­wan­de­rung darin, bei of­fen­sicht­lich un­stim­mi­gen An­ga­ben zur Dy­na­mik oder Ar­ti­ku­la­ti­on a) eine stim­mi­ge Ver­si­on zu edie­ren und b) die Mu­si­ker im No­ten­text dar­auf hin­zu­wei­sen, wenn auch eine an­de­re Ent­schei­dung denk­bar wäre – was schon Thema eines frü­he­ren Bei­trags war. Beim G-dur-Quar­tett hin­ge­gen zwang die feh­len­de End­re­dak­ti­on des Kom­po­nis­ten den Her­aus­ge­ber zu zahl­rei­chen Er­gän­zun­gen, bspw. in der Dy­na­mik, die häu­fig nur über der Vio­li­ne 1 oder unter dem Vio­lon­cel­lo no­tiert ist. Ob diese dann immer auf alle In­stru­men­te zu über­tra­gen ist, dar­über kann man treff­lich strei­ten – und am bes­ten auf Grund­la­ge un­se­rer Ur­text-Aus­ga­be, in der sol­che in frü­he­ren Aus­ga­ben gerne still­schwei­gend ge­trof­fe­nen Ent­schei­dun­gen auch er­kenn­bar sind, weil die er­gänz­ten Zei­chen in Klam­mern ste­hen.

Schu­bert, Quar­tett G-dur D 887, Au­to­graph, Satz I, T. 31–43.

Schu­bert, Quar­tett G-dur D 887, Henle Ur­text-Aus­ga­be, Satz I, T. 33–47.

Hat man bei Schu­berts Quar­tet­ten eher zu wenig Quel­len, so wer­den es in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts gerne mal zu­viel, wenn zum Stim­men­druck auch eine Par­ti­tur­aus­ga­be tritt und dann noch ein Ar­ran­ge­ment für Kla­vier zu zwei oder vier Hän­den. Da meist alles di­rekt auf den Autor zu­rück­geht, exis­tie­ren diese Werke also oft in meh­re­ren au­to­ri­sier­ten Er­schei­nungs­for­men. Zu­gleich än­dert sich der Um­gang mit dem Ar­beits­ma­te­ri­al, so dass sich in den Tie­fen der Ar­chi­ve nicht nur hand­schrift­li­ches Auf­füh­rungs­ma­te­ri­al und Stich­vor­la­gen, son­dern mit­un­ter auch vom Kom­po­nis­ten durch­ge­se­he­ne Kor­rek­tur­fah­nen fin­den – von dem aus­führ­li­chen Brief­ver­kehr eines Brahms, Dvořák oder Sme­ta­na mit dem Ver­le­ger ein­mal ab­ge­se­hen. So ver­viel­fäl­ti­gen sich die Quel­len, die es bei einer Ur­text-Aus­ga­be genau zu prü­fen gilt, bevor die Frage aller Fra­gen be­ant­wor­tet ist: Wel­che Quel­le do­ku­men­tiert die vom Kom­po­nis­ten in­ten­dier­te Werk­ge­stalt am bes­ten?

Her­aus­ge­ber Milan Pospíšil war daher viel­leicht nicht ganz un­dank­bar, als er bei der Edi­ti­on von Sme­ta­nas Streich­quar­tett „Aus mei­nem Leben“ fest­stell­te, dass eine für erste Auf­füh­run­gen er­stell­te Stim­men­ab­schrift nicht er­kenn­bar von Sme­ta­na au­to­ri­siert war und folg­lich keine edi­to­ri­sche Re­le­vanz hatte. Da Sme­ta­na of­fen­sicht­lich wäh­rend der Druck­vor­be­rei­tung noch grund­sätz­li­che Än­de­run­gen wie einen Me­trums­wech­sel im Kopf­satz vor­nahm, ist die Par­ti­tur­erst­aus­ga­be Haupt­quel­le der Edi­ti­on. Al­ler­dings ist darin die Viel­falt der in Sme­ta­nas Au­to­graph ver­wen­de­ten ak­zen­tu­ier­ten Dy­na­mik­an­ga­ben wie sf, fz, sff, sffz, rfz oder rinfz. auf we­ni­ge Va­ri­an­ten ni­vel­liert. Ein be­dau­er­li­cher Ver­lust an Ex­pres­si­vi­tät in die­sem hoch­e­mo­tio­na­len Werk, das die Klang­mög­lich­kei­ten der vier Streich­in­stru­men­te so be­ein­dru­ckend ein­setzt! Da es wenig wahr­schein­lich ist, dass dies ein be­wuss­te Ent­schei­dung des Kom­po­nis­ten war, son­dern eher eine (von ihm bloß ge­dul­de­te) Nor­mie­rung sei­tens des Ver­lags an­zu­neh­men ist, ent­schied sich der Her­aus­ge­ber un­se­rer Ur­text­aus­ga­be in die­sem Punkt für eine Rück­kehr zum Au­to­graph – und bie­tet den Mu­si­kern damit wie­der die ganze Pa­let­te klang­li­cher Ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten, die dem (zum Zeit­punkt der Nie­der­schrift be­reits er­taub­ten!) Kom­po­nis­ten da­mals vor­schweb­te.

Sme­ta­na, „Aus mei­nem Leben“, Satz VI, T. 195–261.

Sind Sie neu­gie­rig ge­wor­den auf un­se­re Quar­tett-Aus­ga­ben? Dann blei­ben Sie dran, wenn in den kom­men­den Mo­na­ten auf die­sem Blog von Beet­ho­ven bis Schön­berg ver­schie­dens­te edi­to­ri­sche Fra­ge­stel­lun­gen rund um das Streich­quar­tett be­leuch­tet wer­den!

 

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Eine Antwort auf »Vier Stimmen, viele Fragen: Zur Überlieferung von Streichquartetten«

  1. Rainer und Gisela Prinz sagt:

    Als langjährige semiprofessionelle Quartett- und Quintettspieler erwerben wir regelmäßig neue Henle-Editionen (Stimmen und Partituren) und trennen uns dann – auch ohne Tränen im Knopfloch – von jahrzehntealten und mit den entsprechenden fehlerhaften Einträgen und deutlichen Gebrauchsspuren versehenen Ausgaben diverser Verlage. Wir blättern jetzt zwar häufiger um als früher, dafür freuen wir uns aber über die viel übersichtlicheren Ausgaben des Henle-Verlages. Mit Komplimenten und herzlichen Grüßen aus dem Rheinland — eine Geigerin/Bratschistin und deren (auch Ehe-) Partner am Cello

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