Wie in meinem letzten Blog angekündigt, ist der Sammelband mit den Etüden op. 8 von Alexander Skrjabin inzwischen erschienen – unser Geburtstagsgeschenk für Alexander Skrjabin. Er enthält alle zwölf Etüden, plus im Anhang eine zweite Fassung der berühmtesten, der Nr. XII. Aber dazu später mehr. Zuerst möchte ich die Frage beantworten, mit der mein letzter Blog-Beitrag schloss: Wie kommt es, dass der donnernde Abschluss der letzten Etüde mit seinem himmelstürmenden Aufstieg über die gesamte Klaviatur im erhaltenen Autograph gänzlich anders bezeichnet ist?
In der autographen Fassung vermisst man ein fff, kurz vor dem Aufstieg reduziert Skrjabin die Dynamik zu einem p, lässt den Klang wieder anschwellen bis zum ff und schließt mit zwei Akkorden im p. Ein ganz anderer Klangeindruck, und – wie ich finde – ebenfalls überzeugend. Was gilt nun? Skrjabins Autograph oder die bekannte fff-Lesart, die aus der Erstausgabe stammt?
Als Skrjabin seine Zwölf Etüden Anfang 1895 zum Abschluss bringen wollte, stand er unter einem gewaltigen Zeitdruck. Sein Verleger wartete ungeduldig auf die Stichvorlage, die ihm offenbar schon längst versprochen worden war, aber der Komponist feilte und revidierte unablässig. In einem Brief vom März desselben Jahres versuchte er Belaieff zu besänftigen und gab dabei einen anschaulichen Einblick in seine Werkstatt: „Sie ärgern sich über mich – vollkommen zu Recht, doch ich habe etwas Nachsicht verdient. Ich arbeite derzeit im wahrsten Sinn des Wortes ganze Tage durch; gleich nach dem Aufstehen mache ich mich ans Werk und sitze dann, ohne aufzustehen, bis zum Abend daran. […] Meinen Sie vielleicht, dass ich etwas Neues verfasse? Ganz und gar nicht, nur die Etüden. Einige davon habe ich so stark umgearbeitet, dass Sie sie nicht wiedererkennen werden; so ist zum Beispiel die in As-dur vollständig umgestaltet worden, ebenso die in b-moll und in dis-moll, und die andere in b-moll hat einen neuen Mittelteil.“ Das Autograph veranschaulicht diesen Arbeitsprozess, denn immer wieder wurden ganz Passagen gestrichen, neu notiert, teils wurde auf Überklebungen die endgültige Fassung festgehalten – ein schönes Zeugnis eines perfektionistisch veranlagten Komponisten.
Wie in vielen Fällen auch, die Gegenstand dieses Blogs sind, war mit der Abgabe der Stichvorlage an den Verleger die Arbeit jedoch nicht abgeschlossen. An zahlreichen Stellen weicht der Druck der Erstausgabe so eklatant vom Autograph ab, dass nur der Komponist selbst für derartige Veränderungen verantwortlich gewesen sein kann. Es ist anzunehmen, dass Skrjabin in der Fahnenkorrektur nicht nur Stichfehler beanstandete (und etliche übersah), sondern oft neue Lesarten einführte, die über den Textstand des Autographs hinausgehen. Diese Korrekturfahnen sind zwar verschollen, jedoch legen Briefe nahe, dass sämtliche Änderungen in der 1895 erschienenen Erstausgabe und in einer erneut verbesserten Auflage aus dem Jahr 1897 durch den Komponisten autorisiert sind.
Damit ist die im letzten Beitrag gestellte und eingangs wiederholte Frage schon beantwortet: Wir können davon ausgehen, dass der fff-Schluss der Etüde XII auf den Komponisten selbst zurückgeht. Und dass er die zweifache Rücknahme der Dynamik aus dem Autograph ganz bewusst zugunsten einer rasanten, strahlenden Schlusswirkung aufgab (und den tosenden Applaus gleich mitkomponierte, in den jedes Publikum frenetisch ausbricht, kaum dass der zweite dis-moll-Akkord erklungen ist).
Die neue Urtextausgabe der Skrjabin-Expertin Valentina Rubcova stellt all das glasklar dar, gibt prinzipiell den Lesarten aus der Erstausgabe den Vorzug, übernimmt aber ganz punktuell auch Zeichen aus dem Autograph. Das geschieht immer dann, wenn der Verdacht besteht, dass Skrjabin beim Korrekturlesen der Fahnen etwas übersehen haben könnte. Der Notentext der Erstausgabe ist zwar äußerst zuverlässig – perfekt ist er hingegen nicht. Die allermeisten dieser Flüchtigkeiten können jedoch über das Autograph aufgedeckt und korrigiert werden.
Vielen Skrjabin-Exegeten der Vergangenheit begnügten sich nicht mit einem solchen Vorgehen. Sie vermuteten an etlichen Stellen weitere Fehler und veränderten in Neuausgaben den Notentext über Autograph und Erstausgabe hinaus – nicht quellenbasiert, sondern auf der Grundlage musikalischer Plausibilität. Ein Vorgehen, das im Rahmen einer Urtextausgabe natürlich höchst problematisch ist. Eine dieser Ausgaben, erschienen 1947 in Moskau, herausgegeben von Igumnow/Milstein, behauptet sogar, die vorgeschlagenen Textänderungen gingen auf Wünsche des Komponisten selbst zurück. Eine Dokumentation dieser angeblichen Autorisierung fehlt jedoch. Dennoch fanden im Anschluss an Igumnow/Milstein diese Änderungen auch den Weg in moderne Ausgaben.
Aus Sicht unserer Herausgeberin Valentina Rubcova haben die meisten dieser späteren, nicht autorisierten Varianten nichts mit Skrjabin zu tun. Viele der Korrekturen sind jedoch ins Bewusstsein moderner Pianistinnen und Pianisten gedrungen. Um für all jene, die hier und da einen anderen Notentext gewohnt sind, soviel Transparenz wie möglich zu schaffen, führt unsere Ausgabe die wichtigsten dieser Lesarten in Fußnoten mit. Damit kann sich jede und jeder selbst ein Bild machen und im Zweifelsfall entscheiden, welcher Variante sie oder er den Vorzug geben will. Zur Illustration hier der Schluss der Etüde I. In T. 47–50 bringen spätere Ausgaben abweichende Lesarten, die „glatter“, systematischer und logischer wirken. Aber sind sie nicht gerade schon deswegen verdächtig?
Und ganz zum Schluss noch ein letzter Geburtstagsleckerbissen. In den oben genannten Briefen zwischen Skrjabin und seinem Verleger Belaieff ist immer wieder von einer zweiten Fassung der Etüde Nr. XII die Rede, bei der sich Skrjabin nicht sicher ist, ob er sie veröffentlichen soll oder nicht. Immerhin schickt er sie an Belaieff und schreibt: „Die Etüden haben Sie vermutlich bereits erhalten; darunter finden Sie auch die zweite Fassung der dis-moll Etüde, die ich nicht sofort veröffentlichen möchte. Möge sie einige Zeit bei Ihnen liegen bleiben: Irgendetwas darin befriedigt mich nicht; und um die Wahrheit zu sagen, haben mich alle bestürmt, sie umzuarbeiten.“ Und später, im Zusammenhang der Korrekturlesungen: „Falls es Fehler geben sollte, dann in der 2. Fassung der dis-moll Etüde, deren Druck vorläufig nicht erforderlich ist“. Man spürt förmlich das Zögern des Komponisten, ob er diese Fassung an die Öffentlichkeit geben soll oder nicht. Letztendlich versagt ihm der Mut, und auch auf Anraten seiner Freunde gelangt diese Version nicht zur Publikation. Skrjabins Unentschlossenheit und seine Aussage, der Druck sei „vorläufig“ nicht erforderlich, haben uns jedoch bewogen, diesen Schritt nun zu tun: Im Anhang des Sammelbandes HN 1486 (nicht jedoch in der Einzelausgabe HN 1583) drucken wir die zweite Fassung der Nr. XII, deren Autograph sich erhalten hat, endlich ab. Und wir sind schon sehr gespannt, wie sie von der Klavierwelt aufgenommen wird!