Das Jahr 2022 steht bei Henle ganz im Zeichen einer bestimmten Gattung: Unter dem Motto „Henle4Strings“ möchten wir einmal unser vielfältiges Angebot von Urtext-Ausgaben für Streichquartett ins Rampenlicht rücken, die in unserem riesigen Klaviermusik-Katalog sonst vielleicht etwas untergehen. Wussten Sie etwa, dass George Gershwin nicht nur für Klavier und die Bühne komponiert hat, und dass wir eine zeitgenössische Quartettkomposition von 2016 im Programm haben…?
Auch unser Blog hat diesem Thema bereits zwei Beiträge gewidmet, die exemplarisch für das breite Spektrum unserer Streichquartett-Editionen stehen: Während sich Annette Oppermann den Wiener „Urvätern“ dieser Gattung – Haydn/Mozart/Beethoven – widmete, berichtete Peter Jost von Arnold Schönbergs 2. Streichquartett, einem Gründungsdokument der musikalischen Moderne.
Schönbergs Quartett ist dabei kein einsamer Ausreißer – gerade aus der Zeit des 20. Jahrhunderts haben wir in letzter Zeit wichtige Neuausgaben vorgelegt. Am eindrucksvollsten darunter ist sicherlich der jüngste Band der Béla-Bartók-Gesamtausgabe mit dessen 6 Streichquartetten, mustergültig ediert vom „Bartók-Papst“ László Somfai (HN 6206). Unsere spielpraktischen Einzelstimmen-Ausgaben dazu sind bereits in Vorbereitung – Näheres dazu bald hier auf diesem Kanal von meiner Kollegin Annette Oppermann…
Die Quartette der sogenannten Zweiten Wiener Schule sind in unserem Katalog nicht nur mit Arnold Schönberg vertreten: auch Alban Bergs wegweisendes Streichquartett op. 3 (HN 1000) haben wir in einer Neuausgabe vorgelegt. Angesichts der langwierigen Entstehungsgeschichte dieses Werks war eine Untersuchung der erhaltenen Quellen und kritische Edition besonders lohnend: 1910 komponiert und 1911 uraufgeführt, erschien das Quartett erst 1920 im Druck, wurde aber bereits 1925 von Berg erneut revidiert. Zudem führten die Einzelstimmen ein „Eigenleben“ gegenüber der Partitur und weisen zahllose kleine Unterschiede zu dieser auf. Aus diesen Umständen ergaben sich zahlreiche Schwierigkeiten für die Edition, die unser Herausgeber Ullrich Scheideler im Vorwort und Bemerkungsteil der Edition ausführlich beschreibt.
Eine besondere Herausforderung aus spielpraktischer Sicht war die Gestaltung der Einzelstimmen des Berg’schen Streichquartetts: bereits die Erstausgabe enthielt zur Orientierung nicht nur zahlreiche Stichnoten, sondern ganze Stichnotensysteme, die parallel zur Hauptstimme mitliefen:
Wir entschlossen uns, noch einen Schritt weiterzugehen, und die Stimmen als regelrechte Spielpartituren anzulegen, so dass jeder Spieler immer auch die Noten der übrigen Mitspieler und somit den gesamten musikalischen Kontext sieht:
Bei dieser äußerst komplexen Komposition, die auch heute noch die Interpreten vor Höchstschwierigkeiten stellt, bietet diese Form der Darstellung hoffentlich eine kleine Hilfe. Durch ein besonders großes Papierformat (25,5×32,5 cm) und zahlreiche Klapptafeln sind dennoch eine gute Lesbarkeit der Stimme und komfortable Wendestellen gewährleistet – einen kurzen Einblick in diese Ausgabe gibt auch dieses Video:
Ein kaum weniger bedeutendes Streichquartett stammt aus der Feder von Alexander Zemlinsky, eines Komponisten, dessen Rang in den letzten Jahren glücklicherweise immer stärker wiedererkannt wird. Zemlinsky ist als Komponist nicht direkt der Zweiten Wiener Schule zuzurechnen, war ihr aber persönlich und musikalisch aufs Engste verbunden: so war er Lehrer (und Schwager) Arnold Schönbergs, dessen Werke er als Dirigent häufig zur Aufführung brachte.
Zemlinskys vielleicht ambitioniertestes und experimentellstes Werk ist sein 2. Streichquartett Opus 15 (HN 1272). Er komponierte es in den Jahren 1913–15 und somit im direkten zeitlichen Umfeld der oben genannten Quartette Bergs (1910) und Schönbergs (1907/08), die er sicherlich als Vorbild und Messlatte ansah.
Obwohl Zemlinsky nie den radikalen Schritt zur Dodekaphonie vollzog, geht er gerade mit seinem 2. Quartett (das keine Tonartbezeichnung mehr trägt und in einem Satz durchkomponiert ist), oft an die Grenzen der Tonalität und darüber hinaus – hören Sie doch einmal in den Anfang hinein, hier in der Referenzeinspielung durch das LaSalle Quartet:
Unsere Neuausgabe des 2. Quartetts, die großzügigerweise vom Alexander-Zemlinsky-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien unterstützt wurde, konnte viele Mängel der Erstausgabe beheben: so wurde darin etwa die Widmung an Arnold Schönberg vergessen (!), und da die Partitur bereits 4 Jahre vor den Einzelstimmen erschien, fehlten darin viele Nachträge und Korrekturen, die Zemlinsky in der Zwischenzeit im Stimmenmaterial vorgenommen hatte. Unsere Ausgabe enthält zudem die hilfreichen Metronomangaben, die Zemlinsky dem befreundeten Anton Webern in einem Brief mitteilte, aber ebenfalls in der Erstausgabe fehlten. Bei einem Quartett soll es aber nicht bleiben: in naher Zukunft planen wir die Edition seines 3. Streichquartetts op. 19.
Und um abschließend die Rätselfrage von Anfang aufzuklären: das zeitgenössische Streichquartett in unserem Katalog stammt von keinem geringeren als Evgeny Kissin (HN 1183), und George Gershwin komponierte tatsächlich ein „Lullaby“ für Streichquartett (HN 1224). Wenn Ihre Neugier jetzt vielleicht geweckt wurde, erkunden Sie doch einmal über diesen Link unser reichhaltiges Quartett-Repertoire: vom Faksimile bis zum Schuber mit Studien-Editionen aller Beethoven-Quartette ist alles dabei!
Ich erinnere mich ganz genau den Frühling 1978. Bis dann hatte ich nur gelesen über den Schwager Schönbergs und angeblichen Komponisten Alexander (von) Zemlinsky. Und dann wurde angekündigt: nicht nur eine, sondern sogar zwei Schallplatten mit seiner Musik. Am 22. Februar war es die Ersteinspielung des zweiten Streichquartetts die ich erwarb (LaSalle auf DGG 2530.982, übrigens fast die lezte Einspielung der DGG überhaupt die analog festgelegt wurde) , am 9.März die der Lyrischen Symphonie (Dorow/Nimsgern/ BBC Symphony, ltg.Gabriele Ferro auf Italia ITL70048).
Eine Offenbarung! Und jetzt wurde es auch möglich um genau die Passage in der Symphonie zu hören die von Alban Berg in seiner Lyrischen Suite zitiert worden war “Du bist mein eigen, mein Eigen”.
Heute ist fast das ganze musikalische Lebenswerk Zemlinskys eingespielt worden und entweder als altmodische Schallplatte, CD oder Download vorhanden. Kaum vorstellbar dass es vor 40 Jahren nur diese obengenannten Schallplatten gab. Tatsächlich, Zemlinsky is ein Komponist,” dessen Rang in den letzten Jahren glücklicherweise immer stärker wiedererkannt wird”. Um mit Mahler zu reden: “Seine Zeit ist gekommen”.
[Eine andere Analogie mit Mahler liegt auf der Hand hier: In 1970 gab es nur vier vollständige Aufnahmen der 9 Symphonien + Adagio 10: Bernstein, Abravanel, Kubelik und Haitink. Soltis Zyklus wurde 1971 vervollständigt. Jetzt produciert fast jede(r) Dirigent und jedes Orchester so etwas…]
Danke für diese schönen persönlichen Erinnerungen!