Die Kritische Gesamtausgabe Béla Bartók, die der G. Henle Verlag seit 2017 gemeinsam mit dem ungarischen Verlag Editio Musica Budapest veröffentlicht, hat es in den ersten fünf Jahren auf stolze sieben Bände gebracht. Von den Klavierwerken 1914–1920 über die großen pädagogischen Zyklen Für Kinder und Mikrokosmos bis hin zu einem gewichtigen Band mit Chorwerken und dem berühmten Konzert für Orchester decken diese bereits unterschiedlichste Bereiche aus Bartóks Œuvre ab – die Kammermusik aber fehlte noch. Um so passender, dass in diesem Frühjahr – pünktlich zum Jahr des Streichquartetts bei Henle – der Band mit den Streichquartetten Nr. 1–6 erschien. Herausgegeben wurde er von keinem Geringeren als László Somfai – dem Gründer der Gesamtausgabe und profundesten Kenner von Bartóks Œuvre – in Zusammenarbeit mit einem Bartók-Forscher der jüngeren Generation, Zsombor Németh. Aus Anlass des Erscheinens haben die beiden uns freundlicherweise ein Interview gewährt.
Annette Oppermann (AO): Lieber Herr Professor Somfai, die sechs Streichquartette von Béla Bartók entstanden in über 30 Jahren und decken damit einen langen Zeitraum in seinem (künstlerischen) Leben ab. Sie können gewissermaßen als Spiegel seines künstlerischen Entwicklung gelten. Wie ist es mit Ihnen, der Sie nach einem langen Forscher-Leben als der Bartók-Forscher gelten: Wann trafen Sie das erste Mal auf diese Quartette? Wie kam es zu Ihrer Arbeit mit den Quellen und dem Plan einer Edition?
László Somfai (LS): Ich kann mich nicht an das genaue Datum erinnern, doch den Wunsch, alle Quartette Bartóks kennenzulernen, hatte ich schon Mitte der 1950er-Jahre, als ich an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest studierte. Aufgrund der politischen Lage waren in der ungarischen Hauptstadt damals im Wesentlichen nur Aufführungen des Ersten und Sechsten (zeitweilig auch des Zweiten) Streichquartetts durch das Tátrai-Quartett gestattet. In der Bibliothek konnte ich jedoch auch die „moderneren“ mittleren Quartette einsehen.
Danach begannen sich die Zeiten allmählich zu ändern; zwei berühmte Ensembles aus den USA – das Juilliard String Quartet (mit Robert Mann) und das Hungarian String Quartet unter Zoltán Székely, der persönlich mit Béla Bartók befreundet gewesen war – traten in Budapest auf, was auch mir neue Horizonte eröffnete. Mir wurde bewusst, dass sich die sechs Streichquartette Bartóks nicht nur mit denen von Beethoven messen können (vermutlich sogar mehr als die vier von Schönberg), sondern dass sie dieser sehr hochangesehenen Kammermusik-Gattung (zusammen mit Bergs Lyrischer Suite) auch ganz neue Perspektiven aufzeigten. Während meiner Arbeit im Bartók-Archiv ab 1963 war ich einfach glücklich, die Quellen dieser Meisterwerke konsultieren zu können; von Anfang an setzte ich mir das Ziel, eine historisch-kritische Bartók-Ausgabe zu erstellen – mit dem Streichquartett-Band als einem der ersten und wichtigsten.
AO: Die Edition in der Kritischen Gesamtausgabe Béla Bartók (Béla Bartók Complete Critical Edition = BBCCE) basiert auf den unterschiedlichsten Quellen: Sie haben nicht nur Skizzen, Autographe, revidierte Abschriften, Erstausgaben und revidierte Neuausgaben etc. untersucht, sondern auch sekundäre Quellen wie Briefe an Freunde oder Listen mit Korrekturen und Hinweisen zur Partitur, die Bartók an Musiker oder Verlage geschickt hat. Das lieferte eine ganze Menge wertvoller Informationen für die einführenden Kapitel zum Gesamtausgaben-Band, ging aber auch in zahlreiche Fußnoten zur Partitur ein. Was waren die zentralen Probleme bei der Edition? Was können Musiker oder Wissenschaftler aus diesen Fußnoten lernen?
LS: Kritische Ausgaben gibt es in unterschiedlicher Form. Persönlich ziehe ich Editionen vor, in denen der Herausgeber die wichtigsten Informationen, mögliche Varianten und die erforderlichen Vortragshinweise in Fußnoten direkt auf der Partiturseite präsentiert – eine Ansicht, die von meinem Mitherausgeber und früheren Schüler Zsombor Németh, der auch als Geiger tätig ist, geteilt wird. Für Bartóks Quartette liegen häufig mehrere authentische Lesarten vor (bisweilen stammen sie aus unterschiedlicher Zeit oder waren für unterschiedliche Musiker bestimmt), und Vortragende haben heute das Recht, ihre eigene Wahl zu treffen.
AO: Sie sind ja nicht nur ein großer Bartók-Forscher, sondern haben sich auch intensiv mit Haydns Musik und den Quellen dazu beschäftigt. Die Frage liegt auf der Hand: Gibt es eine Verbindung zwischen Bartók und Haydn als Quartett-Komponisten? Oder haben sie nichts gemeinsam?
LS: Nun, beide waren in vielerlei Hinsicht leidenschaftliche „Erneuerer“, beiden ging es im Grunde darum, mit ihrem jeweils nächsten Werk ein „neues“ Meisterwerk zu erschaffen. Nur dass es bei Bartók das nächste Streichquartett war, bei Haydn dagegen das nächste Opus aus sechs Quartetten.
AO: Lieber Herr Németh, Bartók spielte kein Streichinstrument – was vielleicht einer der Gründe dafür sein könnte, warum seine Quartette so schwer zu spielen sind und die ersten Aufführungen mit so großem Aufwand vorbereitet wurden. Der hochinteressanten Einleitung zum Gesamtausgaben-Band kann man entnehmen, dass das Waldbauer-Kerpely-Quartett über einhundert Proben zur Vorbereitung der Uraufführung des Ersten Quartetts brauchte! Haben Sie eine Vorstellung, worin die besonderen Probleme bestanden? Und hatten die Musiker umgekehrt Einfluss auf Bartóks Revision der Partitur, bevor sie in Druck ging?
Zsombor Németh (ZN): In einer Studie zu Bartóks Einfluss auf die Violintechnik erklärte Imre Waldbauer, an der Wende zum 20. Jahrhundert seien die besten Kammermusiker Budapests stolz gewesen, wenn es ihnen gelang, die Schwierigkeiten von Brahms’ Stücken zu meistern. Das lag zum Teil natürlich auch daran, dass sich die damaligen Interpreten nur mit Stücken befassten, die sie schon nach wenigen Proben in einem Rutsch durchspielen konnten. Bartóks Erstes Streichquartett steckte voller innovativer Ideen, und mit einer halben Stunde Spieldauer war es auch ein recht langes Werk. Es war nicht unspielbar, doch die technische Vorbereitung dauerte sicherlich länger, als es Kammermusiker zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts gewohnt waren. Und man sollte auch nicht vergessen, dass das Durchschnittsalter der Mitglieder des Waldbauer-Kerpely-Quartetts im Jahr 1910 unter 20 Jahren lag!
Bartók unterhielt freundschaftliche Beziehungen mit den meisten Ensembles, die seine Stücke aufführten, darunter auch mit dem Waldbauer-Kerpely-Quartett (dem ursprünglichen „Hungarian String Quartet“), dem New Hungarian String Quartet (das zunächst von Sándor Végh, später von Zoltán Székely geleitet und nach 1945 unter dem Namen Hungarian Quartet bekannt wurde) und dem Kolisch-Quartett. Er besuchte die Proben oder Aufführungen dieser Ensembles, um seine Kompositionen zu hören. Im Zuge dieser Besuche oder kurz darauf nahm er zahlreiche kleine Retuschen vor, doch nicht jedes Detail fand seinen Weg in die Erstausgaben der Werke. Aus diesem Grunde war es uns sehr wichtig, alle in den Quellen verzeichneten Hinweise zu nennen, die in Zusammenhang mit frühen Aufführungen der Werke in unserer Ausgabe stehen.
AO: Sie sind ja nicht nur Bartók-Forscher, sondern auch ausgebildeter Geiger. Haben Sie bei der Vorbereitung der Ausgabe andere Musiker um Unterstützung gebeten? Wurde Ihre Deutung der Quellen in manchen Details (wie der Interpretation von Bögen oder Akzenten) von den Musikern beeinflusst?
ZN: Als Violinist habe ich mich in den letzten acht Jahren ausschließlich mit Musik des 17. und 18. Jahrhunderts beschäftigt. Während meines Studiums in den Jahren zuvor bin ich natürlich den Werken Bartóks begegnet; seine Quartette oder Violinsonaten habe ich jedoch nie gespielt. Bei der Vorbereitung der Gesamtausgabe habe ich mich deshalb mit zwei Mitgliedern des Classicus-Quartetts beraten: dem Geiger und Komponisten Péter Tornyai (der in diesem Ensemble die Bratsche spielt) und dem Cellisten Tamás Zétényi. Praktischerweise spielten sie in der Saison 2020/21 (also zu der Zeit, als wir noch intensiv an den BBCCE-Bänden arbeiteten) alle sechs Streichquartette von Bartók; entsprechend hatten sie nicht nur aktuelle Erfahrungen mit den Werken selbst, sondern auch mit den bisherigen Ausgaben. Tornyai war darüber hinaus so freundlich, den Notentext der Gesamtausgabe Korrektur zu lesen und zu kommentieren.
Aufgrund ihrer Beobachtungen haben wir das Kapitel zur Notation geändert und ergänzt. Einige Fußnoten des Herausgebers in unserer Edition gehen auch auf Gespräche zurück, die ich mit den beiden Musikern führte. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass Professor Somfai vor einigen Jahrzehnten den großen Cellisten Miklós Perényi, den berühmten Geiger und gesuchten Kammermusik-Professor Gábor Takács-Nagy sowie die Mitglieder des Manhattan String Quartet zu aufführungspraktischen Fragen konsultiert hatte. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse gingen in unsere Ausgabe selbstverständlich auch mit ein.
AO: Sie erwähnen damit das in jedem Band der Gesamtausgabe enthaltene Kapitel „Zu Notation und Aufführung“, das für die Musiker höchst aufschlussreiche Informationen vereint. Aus den früheren Bänden kennen wir schon Themen wie Tempo, Metronomangaben, Rubato oder Differenzierungen in der Artikulation – im Quartett-Band geht es nun auch um die Instrumente und von Bartók geforderte Spieltechniken wie das „Bartók-Pizzicato“ oder den Gebrauch von Darm- oder Stahlsaiten. Ist Bartók schon ein Thema für die „historische Aufführungspraxis“?
ZN: Bartók starb 1945, also vor 77 Jahren – einer Zeitspanne, die genau derjenigen zwischen den Todesjahren Johann Sebastian Bachs und Ludwig van Beethovens entspricht. Man bedenke nur, wie radikal sich die Aufführungspraxis zwischen 1750 und 1827 gewandelt hat! Seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts blieb die Konstruktion von Streichinstrumenten zwar im Wesentlichen gleich, doch die Ausstattung hat sich in den letzten 120 Jahren deutlich verändert. Dies deutet natürlich auch auf Veränderungen in der Spieltechnik hin. Damit will ich auf keinen Fall sagen, dass man Bartóks Streichquartette jetzt nur noch auf „historischen Instrumenten“ und in „historischer Aufführungspraxis“ spielen sollte; ich meine lediglich, dass die Berücksichtigung historischer Fakten zu originalgetreueren und aufschlussreicheren Interpretationen führen kann (insbesondere im Fall der beiden ersten, vor mehr als einem Jahrhundert uraufgeführten Quartette). Es ist die Pflicht der Herausgeber, sämtliche verfügbaren Informationen zur Vortragspraxis zu liefern; die Musiker müssen dann ihrerseits entscheiden, was sie davon in ihrem Vortrag übernehmen wollen (oder auch nicht).
AO: Last but not least – eine Frage an Sie beide: Was sind für Sie persönlich die wichtigsten Neuerungen in Ihrer kritischen Ausgabe der Streichquartette gegenüber bisher erschienenen Editionen – abgesehen von der lange überfälligen Korrektur mancher Fehler?
LS: Man werfe nur einen Blick auf das Notenbild und die Gestaltung der Partitur. Die Erstausgaben von Bartóks Quartetten wurden zwischen 1909/10 und 1941 in sehr unterschiedlichen Notenstichen bei verschiedenen Verlagen veröffentlicht, teils mit sehr vollgepackten Seiten. Unsere neue Edition lädt mit ihrem einheitlichen Erscheinungsbild dazu ein, einen frischen Blick auf die sechs bekannten Partituren zu werfen. Bedeutender noch ist die Tatsache, dass die schrittweisen Veränderungen in Bartóks Notation – häufig von Verlagslektoren erzwungen, man denke nur an die Tempo- und Metronomangaben – hier soweit möglich vereinheitlicht wurden. Doch als zweifellos wichtigstes neues Element sehe ich den sehr umfangreichen Fußnotenapparat, der zur Erläuterung von Lesarten, möglichen Alternativen und echten Schwierigkeiten dient. Viele Ausführende hassen es, nach Anmerkungen am Ende eines Bandes (oder in einem Zusatzband) zu suchen, und ziehen kurze Erklärungen in einer Fußnote direkt auf der entsprechenden Partiturseite vor.
ZN: Das Streichquartett Nr. 6 liegt hier erstmals in einer kritischen Ausgabe vor, und für unsere kritische Ausgabe des Streichquartetts Nr. 1 wurde erstmals Bartóks Autograph herangezogen. Im Anhang haben wir Bartóks Einführung zum Streichquartett Nr. 4 (das Vorwort der frühen Ausgaben) abgedruckt, außerdem die Analyse des Streichquartetts Nr. 5 in einer neuen englischen Übersetzung.
AO: Ich danke Ihnen beiden sehr herzlich für dieses Interview und kündige mit Freude an, dass auch die praktischen Stimmen-Ausgaben der sechs Streichquartette auf Basis der Gesamtausgabe bereits in Vorbereitung sind. Die ersten beiden werden in wenigen Wochen erscheinen, was ich zum Anlass nehmen werde, dann auch über die besonderen Herausforderungen zu berichten, vor die Bartóks Notentext uns beim Einrichten der Stimmen stellte.