Eine zen­tra­le Qua­li­tät der Ur­text-Aus­ga­ben des Henle Ver­lags ist das für die Auf­füh­rung op­ti­mal ein­ge­rich­te­te Stim­men­ma­te­ri­al. Bei Streich­quar­tet­ten ist dies be­son­ders wich­tig, denn hier wird in der Regel auch im Kon­zert aus den Noten ge­spielt (im Ge­gen­satz zur Si­tua­ti­on bei So­lo­re­ci­tals oder Duo­aben­den, wo die Künst­ler häu­fig aus­wen­dig mu­si­zie­ren). Aus die­sem Grund ent­ste­hen un­se­re Ein­zel­stim­men auch im Zeit­al­ter des di­gi­ta­len No­ten­sat­zes kei­nes­wegs „auf Knopf­druck“, son­dern ganz im Ge­gen­teil: Nach­dem die ei­gent­li­che Edi­ti­ons­ar­beit ab­ge­schlos­sen und die Par­ti­tur ge­setzt ist, geht hier die Ar­beit im Aus­tausch zwi­schen No­ten­set­zer, Lek­to­rat und Mu­si­kern erst rich­tig los, in dem wir ei­ner­seits mit dem Re­per­toire ver­trau­te En­sem­bles kon­tak­tie­ren, um mit ihnen spiel­prak­ti­sche Fra­gen zu klä­ren, und an­de­rer­seits den so­ge­nann­ten „Stim­men­aus­zug“, also den tech­ni­schen Pro­zess der Her­stel­lung von Ein­zel­stim­men aus der Par­ti­tur, in meh­re­ren Schrit­ten voll­zie­hen.

Klingt alles sehr theo­re­tisch? Na, dann schau­en wir uns den Pro­zess doch mal ganz pra­xis­nah an am Bei­spiel un­se­rer ge­ra­de er­schie­ne­nen Stim­men-Aus­ga­be von Bartóks Streich­quar­tett Nr. 2. Wie bei vie­len Wer­ken des 20. Jahr­hun­derts zeigt be­reits ein Blick in die Par­ti­tur, wie un­ter­schied­lich dicht das No­ten­bild eines Quar­tetts aus dem 18. Jahr­hun­dert ge­gen­über dem eines Quar­tetts aus dem 20. Jahr­hun­dert aus­sieht:

J. Haydn Quar­tett Op. 76/1

B. Bartók Quar­tett Nr. 2

So wer­den bei Haydn neben den so­ge­nann­ten „pri­mä­ren“ Pa­ra­me­tern Ton­hö­he und Ton­dau­er die „se­kun­dä­ren“ Pa­ra­me­ter wie Tempo und Dy­na­mik nur sehr spar­sam be­zeich­net, le­dig­lich die Ar­ti­ku­la­ti­on ist ge­nau­er an­ge­ge­ben. Diese für die Aus­füh­rung eines Wer­kes so we­sent­li­chen „se­kun­dä­ren“ An­ga­ben wuch­sen im Laufe des 19. und 20 Jahr­hun­derts be­kannt­lich stark an: Bei­spie­le für die über­bor­den­de Be­zeich­nung in den Quar­tet­ten eines Berg, Zem­lins­ky oder Schön­berg haben re­gel­mä­ßi­ge Leser die­ses Blogs im „Streich­quar­tett-Jahr“ 2022 schon in frü­he­ren Bei­trä­gen be­wun­dern dür­fen.

Auch Bartók hielt viele auf­füh­rungs­prak­ti­sche De­tails in sei­nen Par­ti­tu­ren fest – und re­vi­dier­te z. B. seine pe­ni­blen Tem­po­an­ga­ben häu­fig auch noch nach Druck­le­gung, wovon lange Ta­bel­len im Kri­ti­schen Be­richt zur Ge­samt­aus­ga­be ein ein­drucks­vol­les Zeug­nis ab­le­gen:Die zahl­rei­chen, teils sehr de­tail­lier­ten Tem­po­an­ga­ben brau­chen viel Platz in der Ho­ri­zon­ta­len. In der Ver­ti­ka­len er­wei­sen sich vor allem die Pro­be­zif­fern, aber auch der teils sehr große Am­bi­tus der Ein­zel­stim­me als eine Her­aus­for­de­rung für einen schö­nen und zu­gleich prak­ti­schen No­ten­satz, zumal auch noch die für un­se­re Bartók-Aus­ga­ben so ty­pi­schen Fuß­no­ten zu auf­füh­rungs­prak­tisch re­le­van­ten Va­ri­an­ten hin­zu­kom­men.

So war von An­fang an klar, dass wir in den Ober­stim­men im I. Satz mit den drei Sei­ten der dicht ge­drängt be­druck­ten Erst­aus­ga­be nicht aus­kom­men wür­den. Viel­mehr er­schien es sinn­voll, in Vio­li­ne 1 die ers­ten 70 Takte, die in der Erst­aus­ga­be auf einer ein­zi­gen Seite ste­hen, sogar auf eine Dop­pel­sei­te zu ver­tei­len: So bleibt die gute Blät­ter­stel­le bei Pro­be­zif­fer 10 er­hal­ten, zu­gleich haben wir ein über­sicht­li­ches Lay­out, in dem auch Stich­no­ten und Fuß­no­ten ge­nü­gend Platz fin­den.

Vio­li­ne 1, links: Erst­aus­ga­be; Mitte/rechts: Henle Ur­text-Aus­ga­be

Der Rest von Satz I ließ sich dann gut auf S. 4–6 ver­tei­len, sogar eine pas­sen­de Wen­de­stel­le für S. 5 fand sich in T. 151. Al­ler­dings war S. 6 mit den ver­blei­ben­den Tak­ten 152–180 dann recht leer, was weder mu­si­ka­lisch pas­send, noch schön ist – zumal wir hier noch nicht mal Fuß­no­ten un­ter­zu­brin­gen hat­ten. Daher schlug uns der No­ten­set­zer auch gleich eine Al­ter­na­ti­ve vor, als er den so­ge­nann­ten „Ro­hum­bruch“ (d. i. eine 1. Fahne, in der der No­ten­text zu­nächst nur pro Seite auf­ge­teilt, aber noch nicht im De­tail ge­stal­tet ist – wie man der Ab­bil­dung unten un­schwer ent­neh­men kann) schick­te: Man könn­te S. 6 auch als Klapp­ta­fel an S. 5 an­hän­gen, so dass man keine Wen­de­stel­le braucht und den Text bes­ser ver­tei­len kann – was wir we­sent­lich über­zeu­gen­der fan­den.

Ro­hum­bruch mit Vor­schlag des Set­zers

End­gül­tig ge­stal­te­ter No­ten­text

Sol­che Klapp­ta­feln haben wir in zahl­rei­chen un­se­rer Ein­zel­stim­men, sei es Kam­mer­mu­sik oder hoch­vir­tuo­se So­lo­li­te­ra­tur, weil sie uns mehr Spiel­raum für ein gutes Sei­ten­lay­out geben. Al­ler­dings kön­nen sie nur am An­fang oder Ende eines Sat­zes ein­ge­plant wer­den: So kön­nen die Aus­füh­ren­den die Ex­tra­sei­te vor Be­ginn des Sat­zes aus­klap­pen und müs­sen dann wäh­rend des Sat­zes nur blät­tern, aber erst vor dem nächs­ten Satz die Ex­tra­sei­te um­klap­pen.

Neben den Wen­de­stel­len sind die Stich­no­ten ein wei­te­rer As­pekt, der bei der Ein­rich­tung der Ein­zel­stim­me zu be­den­ken ist – auch und ge­ra­de bei Bartók. Die Erst­aus­ga­be von 1920 ver­zich­tet dar­auf fast voll­stän­dig. Der rhyth­misch nicht un­kom­ple­xe Satz und das stän­dig sich ver­än­dern­de Tempo ma­chen aber die Ein­sät­ze an man­chen Stel­len recht hei­kel, so dass uns hier durch­aus noch Op­ti­mie­rungs­spiel­raum zu be­ste­hen schien. Ja, wir haben sogar über­legt, ob an man­chen Stel­len viel­leicht ein in Klein­stich über­leg­tes Sys­tem mit der je­weils me­lo­die­t­ra­gen­den Stim­me sinn­voll sein könn­te, wie dies bei an­de­ren Kam­mer­mu­sik-Aus­ga­ben des 20. Jahr­hun­derts (und auch den spä­te­ren Quar­tet­ten Bartóks) durch­aus üb­lich ist.

Un­se­re Rück­fra­ge bei ver­schie­de­nen Quar­tet­ten führ­te zu er­staun­lich un­ter­schied­li­chen Er­geb­nis­sen: Wäh­rend die einen selbst Stich­no­ten an­ge­sichts des hohen Schwie­rig­keits­grads des Stü­ckes – das man def­in­tiv nicht vom Blatt spielt – ei­gent­lich für über­flüs­sig hiel­ten, konn­ten sich an­de­re an so vie­len Stel­len zu­sätz­li­che Klein­stich­sys­te­me vor­stel­len, dass die Ein­zel­stim­men dick wie Bü­cher ge­wor­den wären… Es galt also ab­zu­wä­gen, und wir haben uns bei die­sem Quar­tett für einen Mit­tel­weg ent­schie­den: mit deut­lich mehr Stich­no­ten als in der Erst­aus­ga­be, die vor allem an rhyth­misch-me­trisch in­tri­ka­ten Stel­len den Ein­stieg er­leich­tern – wie z. B. bei Zif­fer 10 im I. Satz, wo Tem­po­wech­sel und syn­ko­pi­sche Fi­gu­ra­ti­on auf­ein­an­der­tref­fen:

Für die Ein­zel­stim­me Vio­li­ne 1 mit Stich­no­ten siehe Ab­bil­dung oben

Auch im II. Satz haben wir die von Pau­sen und Fer­ma­ten durch­setz­te Pas­sa­ge zwi­schen Zif­fer 19 und 21 ge­gen­über der Erst­aus­ga­be mit ei­ni­gen Stich­no­ten an­ge­rei­chert und zu­sätz­lich die Ge­ne­ral­pau­sen – wie in un­se­ren Stim­men-Aus­ga­ben üb­lich – als sol­che be­zeich­net, um die mu­si­ka­li­sche Ori­en­tie­rung zu er­leich­tern.

Vio­li­ne 1, II. Satz, oben: Erst­aus­ga­be; unten: Henle Ur­text-Aus­ga­be

Mit die­sen Hil­fe­stel­lun­gen möch­ten wir Mu­si­kern den op­ti­ma­len Ein­stieg in die fas­zi­nie­ren­de Welt der Bartókschen Streich­quar­tet­te bie­ten. Dass un­se­re Bartók-Quar­tett-Stim­men dar­über hin­aus noch einen wei­te­ren prak­ti­schen As­pekt auf­wei­sen, in dem sie in den am Ende ab­ge­druck­ten Be­mer­kun­gen mit In­for­ma­tio­nen über Bartóks – sehr ge­naue – Vor­stel­lun­gen zu Ar­ti­ku­la­ti­on, Vi­bra­to, Glis­san­do, Dämp­fung ein wah­res Kom­pen­di­um zur Auf­füh­rungs­pra­xis lie­fern, ver­steht sich von selbst. Gilt dies doch für jede der zahl­rei­chen Bartók-Ur­text-Aus­ga­ben, die der Hen­le-Ver­lag auf Grund­la­ge der Ge­samt­aus­ga­be seit 2016 ver­öf­fent­licht.

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