Kürz­lich wur­den wir auf eine Stel­le in un­se­rer Edi­ti­on von Franz Liszts Études d’exécu­ti­on trans­cen­dan­te (HN 717) auf­merk­sam ge­macht, die bis­her in kei­ner be­kann­ten kri­ti­schen Aus­ga­be kom­men­tiert wird. Ben Yin, Kla­vier­schü­ler von Prof. Clau­di­us Tan­ski an der Uni­ver­si­tät Mo­zar­te­um in Salz­burg, fiel beim Stu­di­um der be­rühmt-be­rüch­tig­ten Ma­zeppa-Etü­de (Nr. 4 der Études d’exécu­ti­on trans­cen­dan­te) auf, dass beim ers­ten Auf­tritt des The­mas (T. 7 ff.) die Au­ßen­stim­men – im Ge­gen­satz zu der von bei­den Hän­den ab­wech­selnd ge­spiel­ten Mit­tel­stim­me – die Takte im 4/4-Me­trum nur un­voll­stän­dig aus­fül­len:

Hen­le-Edi­ti­on HN 717: Etüde Nr. 4, Takte 7–10

Nun tritt die­ses Phä­no­men in Liszts Au­to­gra­phen und den dar­auf be­ru­hen­den Dru­cken nicht nur bei Ka­den­zen und „Re­zi­ta­tivo“-Stel­len auf, wo freie Auf­fül­lun­gen des Tak­tes selbst­ver­ständ­lich sind, son­dern häu­fig auch in „nor­ma­len“ Pas­sa­gen, aber in der Regel las­sen sich sol­che Stel­len durch den Ver­gleich mit Par­al­lel- oder Ana­log­stel­len pro­blem­los klä­ren, wenn es sich um Un­acht­sam­kei­ten oder Irr­tü­mer in der Über­lie­fe­rung han­delt. Hier al­ler­dings ist ein blo­ßes Ver­se­hen in­so­fern aus­ge­schlos­sen, als die un­voll­stän­di­ge Fül­lung der Zähl­zei­ten 2 und 4 sich über viele Takte hin­weg ohne Par­al­lel­stel­le er­streckt. Liszts No­tie­rung hat also Me­tho­de. Un­se­re Edi­ti­on folgt hier der Haupt­quel­le, der Erst­aus­ga­be der Études d’exécu­ti­on trans­cen­dan­te von 1852; der Ver­gleich mit der au­to­gra­phen Stich­vor­la­ge dazu zeigt in die­sem Punkt kei­ner­lei Ab­wei­chun­gen:

Au­to­graph (Stich­vor­la­ge) zur Etüde Nr. 4, Takte 7–12 (Klas­sik Stif­tung Wei­mar, Goe­the- und Schil­ler-Ar­chiv, Si­gna­tur 60/I 23)

Kein Zwei­fel: Bei der Wie­der­ga­be die­ser Stel­le im Erst- und Hen­le-Druck han­delt es sich um Ur­text. Aber die Ori­gi­nal­no­tie­rung lässt die Frage offen, wie man damit um­ge­hen soll. Be­deu­ten die Lü­cken in den Au­ßen­stim­men, dass man sie mit Pau­sen auf­fül­len soll? Oder soll es aus­drück­lich dem In­ter­pre­ten frei­ge­stellt wer­den, wie lange er die Ak­kor­de (mit Hilfe des Pe­dals) hal­ten soll?

Mög­li­cher­wei­se hilft ein Blick auf die Ent­ste­hungs­ge­schich­te der Etüde wei­ter. Die 12 Études d’éxécu­ti­on trans­cen­dan­te stel­len ja be­kannt­lich die end­gül­ti­ge Fas­sung von Kom­po­si­tio­nen dar, die bis in Liszts Ju­gend­zeit zu­rück­rei­chen. Tat­säch­lich wur­den sie zu­erst 1826 oder 1827 unter dem Titel Étude pour le Pia­no­for­te en qua­ran­te-huit Ex­er­ci­ces (bei Bo­is­se­lot in Mar­seil­le sowie in Kom­mis­si­on bei Dufaut et Du­bo­is in Paris) ver­öf­fent­licht. Liszt un­ter­nahm 1837 eine tief­grei­fen­de Neu­be­ar­bei­tung, die 1839 als 24 Gran­des Études (bei ins­ge­samt vier Ver­la­gen, dar­un­ter Has­lin­ger in Wien) her­aus­kam. Die Zah­len­an­ga­ben in den Ti­teln täu­schen üb­ri­gens, denn alle Aus­ga­ben ent­hal­ten immer nur 12 Stü­cke – alle Ver­su­che zu Fort­set­zun­gen der ers­ten Serie zur Auf­fül­lung auf 24 oder gar 48 Ein­zel­wer­ke blie­ben in An­sät­zen ste­cken. Im Falle der Nr. 4 wurde sogar noch eine wei­te­re, be­reits 1841 kom­po­nier­te Fas­sung zwi­schen die Ver­sio­nen Gran­de Étude und Étude d’exécu­ti­on tran­cen­dan­te ein­ge­scho­ben, die 1847 er­schien (bei Schle­sin­ger in Paris und bei Has­lin­ger in Wien).

Schau­en wir uns die ent­spre­chen­de Stel­le in den vier Fas­sun­gen an.

Fas­sung I (1826/27), Takte 1–6

Die zwei­tei­li­ge Ur-Etü­de ist noch weit von der end­gül­ti­gen Fas­sung ent­fernt. Grund­fi­gu­ren wie hier die Ter­zen-Be­we­gung im ers­ten Teil bil­den die Sub­stanz der Kom­po­si­ti­on und wer­den un­ver­än­dert bei­be­hal­ten (ähn­lich auch die Grund­fi­gur im zwei­ten Teil). Alle Takte sind hin­sicht­lich der Pau­sen kor­rekt ge­füllt.

Fas­sung II (1839), Takte 1–4

Die Etüde ist ge­gen­über der ers­ten Fas­sung er­heb­lich er­wei­tert (169 statt 77 Takte) und weist jetzt ein Thema auf, das nach­fol­gend in fünf Va­ria­tio­nen me­lo­disch, har­mo­nisch und satz­tech­nisch ver­än­dert wird. Der jetzt im 6/4-Takt ste­hen­de Be­ginn zeigt, dass die Ter­zen-Idee als Stim­me in bei­den Hän­den bei­be­hal­ten wird, aber vor dem neuen voll­grif­fi­gen Thema im Dis­kant zu­rück­tritt. Mit­tel- und Bass­stim­men er­gän­zen sich zu je­weils den gan­zen Takt ab­de­cken­den Trio­len­li­ni­en, das Tempo än­dert sich von Al­le­gret­to zu Al­le­gro. Die Ge­stal­tung des The­mas ist mit den drei deut­lich un­ter­scheid­ba­ren Klan­g­re­gis­tern und einem mar­kant her­vor­tre­ten­den Haupt­ge­dan­ken der End­fas­sung (vgl. Abb. oben) be­reits sehr ähn­lich. Die Takt­fül­lung ist in allen drei Li­ni­en kor­rekt; auf­fal­lend nur, dass die Ach­tel­trio­len nicht als sol­che ge­kenn­zeich­net sind.

Fas­sung III (1847): Takte 1–7

Neben Än­de­run­gen beim Über­gang von Va­ria­ti­on 3 zu 4 sowie am Schluss ist die auf­fal­lends­te Neue­rung der drit­ten Fas­sung ei­ner­seits die fünf­tak­ti­ge Ein­lei­tung mit ver­min­der­ten Sep­tak­kor­den sowie an­de­rer­seits der Titel Ma­zeppa mit der Wid­mung an Vic­tor Hugo. Liszt spielt damit auf Hugos gleich­na­mi­ges Ge­dicht von 1828 an, das dem tra­gi­schen Schick­sal des in der Li­te­ra­tur um 1800 ver­klär­ten Ko­sa­ken­füh­rers Iwan Ma­se­pa (1639–1709) ge­wid­met ist. Der Weg des Stücks lässt sich dem­nach von einer ein­fa­chen Spiel­fi­gur-Etü­de über eine er­wei­ter­te Va­ria­ti­ons­form hin zu einer aus­ge­dehn­ten pia­nis­ti­schen Dich­tung be­schrei­ben (die un­mit­tel­bar nach dem Er­schei­nen der End­fas­sung un­ter­nom­me­ne Um­ar­bei­tung zu einer Sym­pho­ni­schen Dich­tung er­scheint nur kon­se­quent). Die Prä­sen­ta­ti­on des The­mas ist ge­gen­über Fas­sung II je­doch un­ver­än­dert.

Fas­sung IV (1852), Takte 7–10

Für die er­neu­te Um­ar­bei­tung An­fang 1851 nahm Liszt ein Ex­em­plar der Has­lin­ger-Aus­ga­be von 1839 und trug dort die Än­de­run­gen ein. Wo diese zu tief­grei­fend waren – wie im Falle des The­mas ab Takt 7 – schrieb er die Neu­fas­sung auf einem Blatt nie­der, so dass die Stich­vor­la­ge aus Blät­tern des alten Drucks und neuen au­to­gra­phen Tei­len zu­sam­men­ge­setzt ist. Die Ein­lei­tung er­wei­ter­te er um eine „Ca­den­za ad li­bi­tum“ mit schnel­len Uni­so­no-Läu­fen, so dass die Er­war­tung auf den „ei­gent­li­chen“ Be­ginn noch­mals ge­stei­gert wird. Die Prä­sen­ta­ti­on des The­mas selbst er­scheint in mehr­fa­cher Hin­sicht ge­schärft: Die nun auf einem ei­ge­nen Sys­tem no­tier­ten Ter­zen sind zu 16­tel-No­ten ver­dich­tet und die je­wei­li­gen Auf­takt­no­ten zu den Zähl­zei­ten 1 und 3 im Thema zu 32­tel-No­ten ge­kürzt. Die tech­ni­schen An­sprü­che für die Sprün­ge in bei­den Hän­den er­schei­nen noch­mals ge­stei­gert und stel­len auch heute noch eine große Her­aus­for­de­rung dar.

Die Vor­läu­fer-Fas­sun­gen II und III, die ohne Pau­sen in den Au­ßen­stim­men aus­kom­men, legen auf den ers­ten Blick im Dis­kant der End­fas­sung ein Auf­fül­len ohne Pau­sen (also Vier­tel­no­te mit drei­fa­cher Punk­tie­rung je­weils vor der 32­tel-No­te) nahe, aber in der Kon­se­quenz müss­ten die Vier­tel­no­ten im Bass zu Hal­be­no­ten ge­än­dert wer­den, was einen sehr star­ken Ein­griff in den über­lie­fer­ten No­ten­text be­deu­ten würde. Au­ßer­dem be­geg­nen im Stück wei­te­re Stel­len mit „feh­len­der“ Punk­tie­rung im Thema (wie T. 31 ff., 80 ff., 114 ff.), die man dann nach dem glei­chen Mo­dell än­dern müss­te. In­so­fern ver­bie­ten sich auf den zwei­ten Blick sol­che Ein­grif­fe. Die Frage bleibt aber, was Liszts In­ten­ti­on für eine sol­che „lü­cken­haf­te“ No­tie­rung war. Sol­len die Vier­tel­no­ten ein Mi­ni­mum für das Aus­hal­ten der Ak­kor­de be­deu­ten?

Was den­ken Sie? Wir wür­den uns sehr freu­en, wenn Sie uns Ihre Deu­tung mit­tei­len!

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Eine Antwort auf »Lücken in der Notierung. Zu Liszts „Mazeppa“-Etüde«

  1. Dr. Michael Struck sagt:

    Lieber Herr Jost,

    danke für die interessanten Überlegungen, Herleitungen und Fragen!
    Für mich ist das eine typisch “romantisch”-irreguläre und zugleich spieltechnisch-praktikable Notation, wie wir sie in unterschiedlicher Ausprägung ebenfalls bei Schumann und selbst Brahms finden. Ein Auffüllen von Notenwerten oder Einsetzen von Pausen (ob geklammert oder nicht) wäre für diese Art von Notation viel zu bürokratisch, finde auch ich.
    Folgende Prinzipien der Notation glaube ich zu erkennen:
    – Liszt bezieht die Melodik der rechten und die Bassführung der linken Hand direkt aufeinander und will sie deshalb auch orthographisch-optisch gleich behandeln, wie Notenwerte und Strichpunkt-Artikulation zeigen.
    – Da die Melodik der rechten Hand am Taktende den kurzen Auftakt zur nächsten langen Note enthält, ist die vorangehende Melodienote nur als Viertelnote (ohne “bürokratische” Doppelpunktierung!) wiedergegeben, woran die Notation der Basslinie angepasst wurde. Das belegen sehr schön auch die nunmehr in beiden Takthälften notierten Viertelnotenwerte von Melodik und Bass in den folgenden Takten 9-10.
    – Beide Hände halten die Noten von oberstem und unterstem System ja nicht “real” aus, da sie abwechselnd mit den Sechzehntel-Terzfolgen des mittleren Systems im pianistischen Multitastking-Stress beschäftigt sind.
    – Nicht ganz verständlich ist mir unter diesen Voraussetzungen Ihre abschließende Frage: “Sollen die Viertelnoten ein Minimum für das Aushalten der Akkorde bedeuten?” Denn die Hände/Finger bleiben ja wegen der unmittelbar anschließenden Sechzehntelpassagen ohnehin nicht auf den Hauptklängen von Melodie und Bass liegen. Vor allem sorgt jedoch schon (und vor allem) die jeweilige Ganztakt-Pedalisierung für das “Aushalten der Akkorde”.
    Freundliche Grüße Ihr
    Michael Struck

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