Zwar nicht jährlich wie das Christkind, aber doch alle paar Jahre wieder kommt jede Henle-Urtext-Ausgabe auf den Tisch der Lektorinnen und Lektoren des Verlags: Wenn nämlich die aktuelle Auflage abverkauft ist und wir eine neue planen müssen. Bei dieser Gelegenheit schauen wir die Urtextausgabe sorgfältig durch, lassen eventuell bekannt gewordene Satzfehler korrigieren (ja, selbst bei Henle gibt es Fehler – aber nicht lange!) und bringen womöglich auch im Layout noch die ein oder andere Verbesserung an. Vor allem aber haben wir die Chance, auf jene kritischen Nachfragen zu reagieren, die uns gerade bei Repertoire-Klassikern immer wieder von unseren Kundinnen und Kunden übermittelt werden – was mir spannend genug erscheint, um darüber hier am Beispiel von Schuberts Streichquintett D 956 (HN 9812) zu berichten.
Denn nur, weil der Notentext den Quellen entspricht und unserer Meinung nach absolut korrekt ist, heißt das ja noch lange nicht, dass die Musikerinnen und Musiker damit auch zufrieden sind. Gerade bei Repertoire-Klassikern wie dem Schubert’schen Streichquintett gibt es oft Aufführungsgewohnheiten, die sich unabhängig vom Notentext über Lehrer-Schüler-Verhältnisse oder Tonaufnahmen der Werke tradieren. Und wenn dies dann so nicht in unserer Ausgabe steht, müssen wir Rede und Antwort stehen.
So erreichte uns zu Schuberts Streichquintett vor gut zwei Jahren die Frage, ob bei der Wiederholungsangabe im Kopfsatz nicht ein Fehler vorliege: Der effektvoll durch Generalpausen umrahmte fz-Akkord in T. 154 sei als Dominant-Septakkord auf G zur Tonika C-dur doch nur vor der Wiederholung der Exposition sinnvoll, aber nicht beim Übergang zur Durchführung, die nach A-dur moduliere und ihrerseits einen fz-Akkord in T. 157 aufweise, der nach T. 154 dann seiner Wirkung beraubt sei. Könnte es sein, dass hier für T. 154 der Hinweis fehlt, dass dieser Takt nur beim ersten Mal zu spielen ist, also eine Prima-volta-Klammer zu ergänzen wäre?
Diese Idee klingt auf Anhieb erstmal überzeugend – und erwies sich nach einer kleineren Recherche auch als gar nicht so neu: Schon seit Jahrzehnten geistert durch die Kammermusikszene die These von dem bei der Wiederholung möglicherweise redundanten Takt, und es gibt auch erstaunlich zahlreiche Einspielungen (zum Beispiel vom Artemis Quartett), die bei der Wiederholung der Exposition auf diesen Takt verzichten.
Dies wiederum hatte 2021 David H. Miller, einen Musikwissenschaftler der University of California, Berkeley, dazu bewogen, der Frage in seinem hochinteressanten Aufsatz „Hidden Endings and Disappearing Measures in the First Movement of Schubert’s String Quintet in C Major, D. 956“ einmal genauer nachzugehen. Es bestand also offenbar Klärungsbedarf für unsere Ausgabe des Quintetts!
Aber zunächst die für uns als Urtext-Verlag wichtigste Frage: Was sagen denn die Quellen? Für dieses Werk gibt es leider nur eine einzige, noch dazu wenig zuverlässige: die erst 1853, also ein Vierteljahrhundert nach Schuberts Tod erschienene Erstausgabe in Stimmen. Darin weist keine der fünf Einzelstimmen eine solche Prima-volta-Klammer auf.
Aber könnte dies nicht ein Versehen sein? Entweder in der Vorlage der Erstausgabe oder (dann freilich gleich fünffach!) in den gedruckten Stimmen? Da weder Schuberts Autograph noch sonst eine zeitgenössische, autorisierte Quelle erhalten ist, sind wir zur Klärung dieser Frage allein auf musikalische Argumente angewiesen – und so wandte ich mich im Dezember 2021 zunächst einmal an den Herausgeber der Ausgabe, Egon Voss.
Der bedankte sich freundlich für das „Weihnachtsrätsel“ zu seiner Ausgabe und legte umgehend seine Deutung der Stelle dar: T. 154 vermittelt mit dem G-dur-Septakkord zwar zunächst als Dominante zur Tonika C-dur der Exposition, aber ebenso leitet er durch den Vierklang g/h/d/f auch über zu dem gis/h/d/f in T. 155. Genau darin liegt seiner Meinung nach auch ein besonderer Überraschungseffekt: dass demselben hervorgehobenen fz-Akkord einmal „brav“ die Tonika folgt, einmal hingegen ein verminderter Septakkord. Zudem sind die beiden fz-Akkorde nur bedingt vergleichbar, da sie unterschiedliche Funktionen im harmonischen Gefüge des Satzes haben: T. 154 ist dominantisch, T. 157 hingegen bringt die (neue) Tonika A-dur. Und schließlich lässt sich T. 154 auch in formaler Hinsicht beim Übergang zur Durchführung als ein wesentlicher Bestandteil einer interessanten Motiv-Abfolge deuten, die um die beiden Überleitungstakte 155–156 gespiegelt ist: Kodamotiv 1 (T. 138–146) – Kodamotiv 2 (T. 146–153) – fz-Akkord (T. 154) – Überleitungstakte (T. 155–156) – fz-Akkord (T. 157) – Kodamotiv 2 (T. 157–161) – Kodamotiv 1 (T. 161–167).
Folglich kommt unser Herausgeber zu dem Schluss, dass eine andere Deutung von T. 154 zwar möglich, aber keinesfalls zwingend ist – was sich übrigens mit den Überlegungen von David H. Miller deckt. Und was heißt das für unsere Ausgabe? Wenn der Takt musikalisch logisch gedeutet werden kann, verbietet sich ein Hinweis auf ein mögliches Auslassen bei der Wiederholung – so viel Urtext muss sein. Aber was tun, damit hier kein Fehler vermutet wird? Zum Glück gibt es ja in unseren Ausgaben nicht nur Noten, sondern auch Text!
Und so haben wir uns entschlossen, bei der im letzten Herbst fällig gewordenen neuen Auflage an der betreffenden Stelle einen Verweis auf die Bemerkungen einzubauen, in der die Sachlage in knappestmöglicher Form dargestellt wird:
Auf diese Weise ist der „Fehlerverdacht“ ausgeräumt, und die Musiker können selbst über den Umgang mit T. 154 entscheiden – was auch ganz im Sinne unseres Herausgebers ist, der seine Korrespondenz zur fraglichen Stelle damals mit den Worten einleitete: „Was unser Schubert-Quintett betrifft, so möchte ich vorab sagen, dass es selbstverständlich Sache der Musiker ist, wie sie die Werke auffassen und wie sie sie spielen.“ In diesem Sinne verabschiede ich mich mit folgendem Hörtipp für die Adventszeit: Hören Sie doch mal wieder rein in Ihre Aufnahme des Quintetts, wie oft begegnet Ihnen T. 154?