Will man eine Henle-Ausgabe schnell beschreiben, so reicht ein Satz: Es sind die taubenblauen Notenhefte, auf deren Umschlag ohne jegliches Dekor nur Komponist und Titel stehen. Denn wo andere Verlage eine große Grafik-Abteilung beschäftigen und für verschiedene Komponisten, Epochen oder Besetzungen unterschiedlichste Schrifttypen, Designs und Illustrationen auswählen oder wenigstens die Farbe des Umschlagkartons variieren, herrscht bei Henle das strenge Regiment von B&B: Blauer Karton und der Schrift-Font Bodoni. Kann man über sowas einen Blog-Beitrag schreiben? Na klar! Denn zum einen ist es interessant, woher dieses reduktionistische Design kommt, zum anderen können wir Lektoren ein Lied davon singen, wie schwierig es manchmal ist, in den wenigen Zeilen, die unser strenges Layout vorsieht, auch wirklich alles zu sagen – oder zumindest so viel, dass man den Inhalt auf Anhieb erkennt.
Dass es dabei schon mal eng werden kann, zeigt sich eindrucksvoll am oben abgebildeten Band mit Fünf berühmten Klaviersonaten Beethovens (HN 1392, Foto © Robert Brembeck/G. Henle Verlag), wo neben dem Bandtitel auch noch fünf Einzeltitel in zwei Sprachen zu nennen sind. Da hilft nur „Mut zur Lücke“ – wie ein Blick auf die Einzelausgaben der fünf Sonaten zeigt, deren Text um einiges ausführlicher ist. Dass für den Sammelband nicht etwa die Opuszahlen oder Nummern der Sonaten, sondern (nur!) die Populärtitel gewählt wurden, ist natürlich kein Zufall. Nur so sind die fünf Sonaten auch für Nicht-Spezialisten auf Anhieb identifizierbar. Allerdings musste selbst da noch ein kleines Zugeständnis gemacht werden: Aus „Grande Sonate pathétique“ für Opus 13 wurde auf dem Sammelband schlicht „Pathétique“. Zudem entfällt die sonst bei uns übliche Differenzierung zwischen einem solchen authentischen Beinamen und späteren Populärtiteln wie „Mondschein“ oder „Sturm“, die auf dem Cover nur in Klammern erscheinen. Ein kleiner, aber für eine Urtextausgabe eben doch ziemlich wichtiger Unterschied… (Und selbst dann mussten wir ein bisschen schummeln, denn eigentlich sind für den englischen Titel im Layout nur zwei statt drei Zeilen vorgesehen.)
Aber wieso haben wir eigentlich so ein enges Korsett von 3 + 2 Zeilen für den Titel, und damit basta? Dazu muss man ein wenig in die Geschichte des Verlags eintauchen: Günter Henle verband mit seiner Idee der musikalischen Urtextausgabe eine absolute Reduktion auf das Wesentliche, frei von „modischen“ Zusätzen und jeglichem Ornament – und das galt nicht nur für die Musik, sondern auch für die Gestaltung. Folglich machte aus den verschiedenen Entwürfen, die 1947 für Mozarts Klaviersonaten als ersten Verlagstitel eingeholt wurden, der schlichteste das Rennen. Joseph Lehnackers Cover benannte Name, Werk, Verlag so knapp wie möglich und stellte das Wichtigste ins Zentrum: das Qualitätsigel „URTEXT“. Kombiniert mit dem dezenten Taubenblau des Umschlags strahlte das eine Aura der Klassizität aus, die dem kanonischen Rang der Werke entsprach.
Über ein halbes Jahrhundert blieb dieses Erscheinungsbild gleich, wenn man von diskreten Anpassungen der Schriftgröße einmal absieht, wie sie Beethovens Capriccio op. 129 „Die Wut über den verlorenen Groschen“ zwischen 1965 und 1997 erlebte.
Erst im Jahr 2000 war die Zeit reif für eine Veränderung – nicht zuletzt, weil die zunehmend internationale Ausrichtung des Verlags auch eine englische Übersetzung auf dem Titel verlangte. Dabei wurden neben einer moderneren Variante der Bodoni auch drei Haarlinien (nur ein Hauch von Dekor!) eingeführt und eine raffinierte Verschiebung des Titelfeldes, sodass die bündig darunter stehende Verlagsangabe inklusive neu gestaltetem Signet mittig erscheint. Was bei Mozarts Klaviersonaten, Schuberts Moments Musicaux (als einem nicht zu übersetzenden Originaltitel) und selbst Haydns Violinkonzerten (mit den sperrigen Hoboken-Nummern) problemlos klappte, erwies sich bei etwas ausgefalleneren Titeln allerdings als Herausforderung, wie das weitere Schicksal von Beethovens Opus 129 zeigt: Der vollständige Titel hatte nur noch auf dem Innentitel Platz, der das Cover-Layout leicht modifiziert und so dankenswerterweise eine vierte Textzeile erlaubt.
Außen musste man sich jedoch mangels Platz mit dem Populärtitel bescheiden. Bei der Revision der Ausgabe im Jahr 2022 (HN1632) wurde auch das Cover nochmal auf den Prüfstand gestellt und auf „aktuellen Stand“ gebracht: Vom Originaltitel rutschte wenigstens die Gattungsangabe „Capriccio“ nach außen und der nicht auf Beethoven zurückgehende Populärtitel wurde in Klammern gesetzt – so viel Urtext muss sein.
Ein bisschen eng zwischen den Haarlinien kann es auch bei langen Gattungsbegriffen wie Mozarts Sinfonia Concertante (HN 798) mal werden: Hier hätte die Angabe der Soloinstrumente nur bei Verzicht auf die Zeile mit der KV-Nummer oder die Angabe „Klavierauszug“ hineingepasst. Ersteres ein absolutes NoGo bei Mozart, letzteres ein Problem für den Kunden, der dann nicht weiß, ob er es hier mit einer (Orchester-)Partitur oder einem Klavierauszug zu tun hat… Daher wurde auch hier die vierte Zeile auf dem Innentitel zum Retter der Details.
Manchmal hilft aber selbst die vierte Zeile nicht, und dann beginnen lange Diskussionen – wie mein Kollege Dominik Rahmer von einem gerade in Vorbereitung befindlichen Titel berichten kann:
Zu Vivaldis berühmten Zyklus Die Vier Jahreszeiten haben wir über ein halbes Dutzend Covervarianten ausprobiert. Technisch gesehen handelt es sich dabei ja um vier eigenständige Violinkonzerte, sodass gemäß Henle-Standard der Titel eigentlich „Violinkonzerte RV 269, 315, 293, 297“ lauten müsste. Das würde so aber natürlich kein Kunde jemals im Regal erkennen oder im Katalog finden.
Verkomplizierend kommt hinzu, dass die vier Konzerte von Vivaldi gar nicht unter dem Titel „Le quattro stagioni“ veröffentlich wurden, sondern als Teil einer größeren Sammlung von 12 Violinkonzerten namens Il Cimento dell’armonia e dell’inventione Opus 8. Die ersten vier Konzerte darin sind zwar nach den vier Jahreszeiten betitelt – La primavera, L’estate, L’autunno, L’inverno –, aber in den originalen Quellen kommt der Sammeltitel Le quattro stagioni niemals ausdrücklich vor.
Wollte man alle diese Informationen auf dem Cover unterbringen, zuzüglich den genauen Besetzungsangaben, käme man auf eine Titelformulierung von barocken Ausmaßen… So haben wir uns am Ende dafür entschieden, lediglich den heute allgemein bekannten und gängigen Titel auf unser Cover zu setzen – und die Details der originalen Titel Vorwort und Bemerkungsteil zu überlassen.
Die Notwendigkeit der schnellen und eindeutigen Identifizierung liefert auch den Grund für eine manchem vielleicht merkwürdig erscheinende Differenz bei zwei jüngst erschienenen Lied-Bearbeitungen von Franz Liszt: Für Aufenthalt (HN 599) aus Schuberts Schwanengesang D 957 konnten wir das klassische Konzept mit Hinweis auf den Original-Zyklus problemlos umsetzen. Bei der Bearbeitung des Ständchen (HN 1022) aus diesem Zyklus mussten wir hingegen sicherstellen, dass es nicht mit der Bearbeitung des anderen (fast genauso berühmten) Ständchen D 889 verwechselt wird – weswegen hier der Textanfang des Liedes auf dem Cover steht.
So fordert Günter Henles Vorstellung eines strengen und gleichbleibenden Titellayouts uns Lektoren bis heute. Aber natürlich erlaubt auch der Henle-Verlag sich ab und zu mal einen kleinen Ausflug ins Reich von Farbe und Dekor: Bei der Serie Am Klavier signalisiert eine zweite Farbe auf dem Cover das besondere Konzept der Ausgaben, die sich an Wiedereinsteiger am Klavier wendet – und wenn wir es mal so richtig bunt haben wollen, dann machen wir ein Faksimile. Da ist von Apfelgrün bis Pazifikblau alles erlaubt!