Das Ra­vel-Jahr steht bei Henle unter der De­vi­se „Ravel and Fri­ends“, und frag­los ge­hört Clau­de De­bus­sy zu den be­deu­tends­ten Kom­po­nis­ten, zu denen Mau­rice Ravel per­sön­li­che Kon­tak­te un­ter­hielt. Aber es war kein un­ge­trüb­tes Ver­hält­nis, und wir haben den fran­zö­si­schen Mu­sik­wis­sen­schaft­ler Denis Her­lin, einen der bes­ten De­bus­sy-Ken­ner welt­weit, zu ei­ni­gen Ge­sichts­punk­ten die­ser in­ter­es­san­ten, aber zu­gleich auch kom­ple­xen Be­zie­hung be­fragt.

links: Clau­de De­bus­sy, rechts: Mau­rice Ravel

Peter Jost (PJ): Zahl­rei­che Mu­si­ker und Kom­po­nis­ten lern­ten sich im Pa­ri­ser Con­ser­va­toire ken­nen, der zen­tra­len Aus­bil­dungs­stät­te in Frank­reich. Als Ravel 1889 ins Con­ser­va­toire auf­ge­nom­men wurde, hatte De­bus­sy es be­reits längst ver­las­sen. Wann und wo lern­ten sich De­bus­sy und Ravel per­sön­lich ken­nen?

Denis Her­lin (DH): De­bus­sy und Ravel lern­ten sich An­fang 1901 über Raoul Bar­dac ken­nen, dem Sohn von Emma Bar­dac, die 1908 De­bus­sys zwei­te Ehe­frau wer­den soll­te. De­bus­sy er­teil­te da­mals Bar­dac Kom­po­si­ti­ons­un­ter­richt. Bei die­ser Ge­le­gen­heit be­auf­trag­te De­bus­sy beide zu­sam­men mit Lu­ci­en Gar­ban, einen wei­te­ren Freund Ra­vels, mit der Be­ar­bei­tung des Or­ches­ter­werks Noc­turnes für zwei Kla­vie­re. Wir wis­sen nicht, wo sie sich zum ers­ten Mal tra­fen, aber wir wis­sen, dass De­bus­sy ein Ex­em­plar der Or­ches­ter­par­ti­tur der Noc­turnes Ravel im April 1901 schenk­te.

Ei­gen­hän­di­ge Wid­mung De­bus­sys in der Par­ti­tur der Noc­turnes full score: à Mau­rice Ravel, en réelle sym­pa­thie. Clau­de De­bus­sy. Avril 1901.

PJ: Kann man be­haup­ten, dass Ravel da­mals den um gut 12 Jahre äl­te­ren De­bus­sy vor­be­halt­los be­wun­der­te? Was genau schätz­te Ravel an De­bus­sys Musik?

DH: Ravel hat De­bus­sys Musik immer tief be­wun­dert, ins­be­son­de­re Pelléas et Méli­san­de, aber vor allem das Prélude à l’après-mi­di d’un faune. Im Ok­to­ber 1931 ver­trau­te er einem Jour­na­lis­ten an, dass es „sein in­nigs­ter Wunsch sei, in der wei­chen Wiege der zar­ten und sinn­li­chen Um­ar­mun­gen die­ses ein­zig­ar­ti­gen Wun­ders in der ge­sam­ten Musik, wel­ches das Prélude sei, ster­ben zu kön­nen“. D’un ca­hier d’es­quis­ses für Kla­vier war eines sei­ner Lieb­lings­stü­cke. Ravel schätz­te an De­bus­sy den spar­sa­men Um­gang mit dem mu­si­ka­li­schen Ma­te­ri­al, die raf­fi­nier­te Prä­zi­si­on sei­ner Schreib­wei­se und den sich dar­aus er­ge­be­nen Klang­zau­ber.

PJ: In Kri­ti­ken zu frü­hen Wer­ken Ra­vels, zum Bei­spiel zur Ou­ver­tü­re zu Shéhéra­za­de oder zu sei­nem Streich­quar­tett F-dur, wird die­ser häu­fig als „De­bus­sy­ist“, also zur „Schu­le“ De­bus­sys ge­rech­net – auch mit dem Vor­wurf, er imi­tie­re De­bus­sy. Ist be­kannt, wie De­bus­sy selbst diese frü­hen Werke Ra­vels be­ur­teil­te?

DH: De­bus­sy war von den Wer­ken des jun­gen Ravel be­geis­tert, ins­be­son­de­re von den Jeux d’eau, von denen Ravel ihm ein Ex­em­plar als „herz­li­che und be­wun­dern­de Hom­mage“ ge­schenkt hatte. Im Ge­gen­zug wid­me­te De­bus­sy ihm Pour le piano „als Hom­mage für die Jeux d’eau“. Ra­vels Quar­tett in­ter­es­sier­te ihn be­son­ders, da es ihn zwei­fel­los an seine Ju­gend er­in­ner­te, als er es selbst ge­wagt hatte, diese so schwie­ri­ge Form in An­griff zu neh­men. Im März 1904 schrieb er ihm vor der Ur­auf­füh­rung, er solle sein Quar­tett durch­aus nicht lei­ser spie­len las­sen, son­dern nur viel­leicht die Brat­sche ein wenig zu­rück­neh­men. De­bus­sy schloss mit den Wor­ten: „Rüh­ren Sie nichts an, und alles wird gut“.

Ti­tel­blatt der Erst­aus­ga­be von Ra­vels Streich­quar­tett (1905)

PJ: Nach Jah­ren des freund­schaft­li­chen Um­gangs mit­ein­an­der kam es um 1906/07 zum Bruch der per­sön­li­chen Be­zie­hun­gen zwi­schen De­bus­sy und Ravel. In der Pres­se wurde der Vor­rang von Ideen und Neue­run­gen in Kla­vier­wer­ken der bei­den Kom­po­nis­ten dis­ku­tiert. Aber spiel­ten viel­leicht auch an­de­re Grün­de eine Rolle?

Der Mu­sik­kri­ti­ker und Über­set­zer Pier­re Lalo (1866–1943) war der Sohn des Kom­po­nis­ten Édouard Lalo.

DH: Der Bruch zwi­schen De­bus­sy und Ravel wurde durch einen Brief von Ravel an den Kri­ti­ker Pier­re Lalo vom Fe­bru­ar 1906 aus­ge­löst, in dem er dar­auf hin­wies, dass er als Ers­ter eine ziem­lich spe­zi­el­le pia­nis­ti­sche Schreib­wei­se ein­ge­führt habe, deren Er­fin­dung Lalo De­bus­sy zu­ge­schrie­ben hatte. Er fügte hinzu, dass er trotz sei­ner lei­den­schaft­li­chen Be­wun­de­rung für Pour le piano der Mei­nung sei, dass diese Stü­cke aus rein pia­nis­ti­scher Sicht nichts wirk­lich Neues bräch­ten. Lalo ver­öf­fent­lich­te den Brief ohne Ra­vels Zu­stim­mung im April 1907, was zu einem Zer­würf­nis zwi­schen den bei­den Kom­po­nis­ten führ­te. Zwei Mo­na­te vor die­ser un­glück­li­chen Epi­so­de hatte De­bus­sy be­reits Vor­be­hal­te ge­gen­über Ra­vels His­toires na­tu­el­les (mit Aus­nah­me von „Le Cygne“) ge­äu­ßert. Er hielt Ravel für „äu­ßerst ta­len­tiert“, aber für einen „Ta­schen­spie­ler oder bes­ser ge­sagt einen char­man­ten Fakir“. Da­ge­gen gibt es keine Do­ku­men­te dar­über, was De­bus­sy über Mi­ro­irs oder Ga­s­pard de la nuit dach­te. Wie Ro­main Rolland im Mai 1907 be­rich­te­te, war Ravel über das Zer­würf­nis und De­bus­sy hef­ti­ge Ab­nei­gung gegen seine Musik, die zwei­fel­los mit einer ge­wis­sen Ei­fer­sucht ver­bun­den war, be­trübt.

PJ: Was ist be­kannt über die Be­zie­hun­gen nach dem Bruch?

DH: Beide haben sich zwar re­spek­tiert, sind sich aber aus dem Weg ge­gan­gen. Was De­bus­sy über Ra­vels neue Werke dach­te, ist nicht be­kannt. Ravel im­mer­hin schätz­te De­bus­sys Musik wei­ter­hin, da er neben der schon er­wähn­ten Be­ar­bei­tung der Noc­turnes für zwei Kla­vie­re (Ravel be­ar­bei­te­te die Teile von Bar­dac und Gar­ban 1908 neu) noch zwei wei­te­re Auf­trä­ge an­nahm: die Be­ar­bei­tung des Prélude à l’après-mi­di d’un faune für Kla­vier vier­hän­dig, 1909, sowie die Or­ches­trie­rung der Kla­vier­stü­cke Sa­ra­ban­de und Danse, 1922. Au­ßer­dem über­nahm Ravel 1910 die Ur­auf­füh­rung von De­bus­sys D’un ca­hier d’es­quis­ses und wid­me­te seine So­na­te pour vio­lon et vio­lon­cel­le dem An­denken De­bus­sys.

Ra­vels Be­ar­bei­tung von De­bus­sys Prélude à l’après-mi­di d’un faune für Kla­vier vier­hän­dig, erste Seite der Fahne mit Ra­vels Kor­rek­tu­ren (New York, The Mor­gan Li­bra­ry & Mu­se­um)

PJ: Schon früh wur­den beide Kom­po­nis­ten unter dem frag­wür­di­gen Eti­kett des „Im­pres­sio­nis­mus“ mit­ein­an­der ver­bun­den – was beim brei­ten Pu­bli­kum bis heute nach­wirkt. Wo lie­gen aus heu­ti­ger Sicht die größ­ten Un­ter­schie­de zwi­schen De­bus­sy und Ravel in Bezug auf Kom­po­si­ti­ons­tech­nik und Äs­the­tik?

DH: Das ist eine heik­le Frage, die einer aus­führ­li­che­ren Er­klä­rung be­dürf­te. Um zu ver­ste­hen, wie sie sich in ihrer Äs­the­tik un­ter­schei­den, müs­sen wir auf das zu­rück­grei­fen, was Ravel in sei­nen In­ter­views preis­gibt. Er be­kräf­tigt mehr­fach, was er Fauré, Cha­b­rier und Satie zu ver­dan­ken hat. De­bus­sy sei­ner­seits be­kennt sich zu kei­nem mu­si­ka­li­schen Erbe außer in den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten sei­nes Le­bens zu dem von Cou­pe­r­in und Ra­meau. Ab­ge­se­hen von einer ge­mein­sa­men Liebe zu den Wer­ken Edgar Allan Poes sind auch ihre li­te­ra­ri­schen Vor­lie­ben un­ter­schied­lich: De­bus­sy bleibt der sym­bo­lis­ti­schen Li­te­ra­tur der 1890er Jahre ver­bun­den, auch wenn seine Neu­gier weit dar­über hin­aus­geht, wie sein In­ter­es­se an eng­li­schen Schrift­stel­lern zeigt; Ravel ist in sei­ner Aus­wahl eklek­ti­scher und ge­hört eher der Mo­der­ne an, indem er sich für Colet­te, Jules Renard oder Franc-No­hain in­ter­es­siert. Schließ­lich bleibt Ravel der Ein­hal­tung mu­si­ka­li­scher For­men so sehr ver­pflich­tet, dass er sich selbst als „Mo­zar­tia­ner“ be­zeich­net. Und mehr­mals kri­ti­siert er bei De­bus­sy „einen Man­gel an ar­chi­tek­to­ni­scher Ge­stal­tungs­kraft“ und fügt sogar hinzu, dass es un­mög­lich sei zu ver­ste­hen, wie das Prélude à l’après-mi­di d’un faune auf­ge­baut sei. Bei De­bus­sy ist die mu­si­ka­li­sche Struk­tur or­ga­ni­scher, aus der her­aus die Form ent­steht. In sei­nem Kom­po­si­ti­ons­pro­zess be­müht sich De­bus­sy, alles zu ent­fer­nen, was eine sicht­ba­re Form zei­gen würde, wie es seine Skiz­zen zei­gen, wenn er be­stimm­te Se­quen­zen streicht. Die für sei­nen Stil so cha­rak­te­ris­ti­sche Ver­dop­pe­lung schließ­lich er­mög­licht es ihm, den Klang­raum aus­zu­wei­ten und sich damit einer Ent­wick­lung zu ent­zie­hen.

PJ: Ich danke Ihnen sehr für die­ses In­ter­view.

Dieser Beitrag wurde unter Debussy, Claude, Montagsbeitrag, Ravel, Maurice, Widmung veröffentlicht. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert