Im Frühjahr 2024 wurde in der Morgan Library & Museum ein neues Werk von Frédéric Chopin entdeckt, das allerdings erst im Herbst mit aller Welt geteilt wurde – für die Musikwelt durchaus eine kleine Sensation! In einer einzigartigen Zusammenarbeit mit der Morgan Library und deren Kurator Robinson McClellan, dem Chopin-Experten Jeffrey Kallberg und dem weltbekannten Pianisten Lang Lang (der den Walzer akustisch aus der Taufe hob) ist dieser Walzer a-moll inzwischen erstmals im Urtext erschienen, und zwar im G. Henle Verlag, inklusive Faksimile des Autographs. Jeffrey Kallberg war von Anfang an in die aufregende Entdeckungsgeschichte eingebunden, mit ihm habe ich das folgende Interview geführt.

Norbert Müllemann (NM): Lieber Jeff – das muss ein historischer Moment gewesen sein! Wie war das? Wie haben Sie von der Entdeckung erfahren? War Ihnen von Anfang an klar, dass es sich um ein echtes Chopin-Autograph handelt?

links: Robinson McClellan, rechts: Jeffrey Kallberg, © The Morgan Library and Museum

Jeffrey Kallberg (JK): Ich war gerade auf einer Forschungsreise nach Basel, wo ich einige Chopin-Skizzen untersuchen wollte, und machte einen kurzen Abstecher nach Straßburg. Dort erhielt ich unerwartet eine E-Mail von Robinson McClellan, Associate Curator of Musical Manuscripts an der Morgan Library & Museum in New York. Er sprach von einem Manuskript, das er gefunden hatte, und schickte auch Fotos mit. Als ich mir die Fotos ansah, war ich überrascht. Eigentlich kenne ich alle autographen Manuskripten von Chopin, einschließlich derer, die sich in Bibliotheken, Privatsammlungen und Auktionshäuser befinden, aber dieses – und auch das Musikstück – hatte ich noch nie gesehen! Ich betrachtete das Manuskript auf dem Monitor meines Laptops und war erst einmal verwirrt: Die Notenschrift sah zwar aus wie von Chopins Hand, wirkte aber gleichzeitig irgendwie verzerrt. Dann las ich genauer, was Robin mir an Informationen geschickt hatte, und stellte fest, wie klein das Manuskript ist (etwa so groß wie eine Postkarte). Ich verkleinerte das Bild auf meinem Laptop auf die Originalgröße des Manuskripts und konnte erkennen, dass es sich eindeutig um Chopins Schrift handelte.

NM: Bei den ersten Pressemeldungen war man sich ja noch nicht sicher. Es bestand die Möglichkeit, dass Chopin hier den Walzer eines anderen Komponisten notiert hat. Was spricht dafür, dass es sich hier wirklich um einen „waschechten“ Chopin handelt?

JK: Solide Wissenschaft lebt von der Skepsis. Man wusste fast nichts über die Herkunft des Manuskripts, und zum Zeitpunkt seiner Entdeckung waren auch keine anderen Chopin-Manuskripte bekannt, die auf genau der gleichen Sorte Notenpapier geschrieben waren wie der Walzer. Deswegen war es mir wichtig zu betonen, dass einige Aspekte des Fundes immer noch Zweifel an Chopins Urheberschaft zuließen. Das betraf übrigens auch das Stück selbst: Die zweite und dritte Phrase des Walzers klingen, als könnten sie nur von Chopin stammen, aber die erste Phrase mutet etwas seltsam an.

Weitere Nachforschungen ergaben schließlich, dass die Eingangsphrase und insbesondere der fff-„Ausbruch“ für Chopin doch nicht so ungewöhnlich waren, wie anfangs angenommen. Ich habe über 40 ähnliche Beispiele in seiner Musik gefunden, vor allem in Werken aus der Warschauer Zeit und aus seinen ersten Jahren in Paris. Um einen Vergleich mit unserem Walzer ziehen zu können, waren vor allem solche von Interesse, in denen fff-Bezeichnungen auf Dissonanzen fallen und der Diskant dazu in hoher Lage erklingt. Zwei Stellen bei Chopin haben eine frappierende Ähnlichkeit mit dem fff im Walzer. Die eine findet sich im ersten Satz des e-moll-Konzerts, Takt 210 (kurz vor dem Einsatz des Seitenthemas), die andere in Takt 124 der g-moll-Ballade (direkt vor Beginn der „Scherzando“-Passage). Dies lässt vermuten, dass eine bestimmte Konstellation der Lagen – ein Akkord oder eine Oktave im Diskant etwa zweieinhalb Oktaven über c1, dazu eine Bassbegleitung, die zwei Oktaven unter c1 liegt und eine Dissonanz erzeugt – vielleicht der Auslöser für Chopin war, diese relativ seltene dynamische Bezeichnung zu verwenden.

NM: Nachdem Sie uns Ihr höchst lesenswertes und informatives Vorwort für unsere Ausgabe geschrieben hatten und die Edition schon gedruckt war, haben Sie neue Erkenntnisse zur Entstehung gewonnen – können Sie uns kurz erzählen, worum es bei diesen Neuigkeiten geht?

JK: Erstaunlicherweise haben wir mehr über den Walzer erfahren, als das bekannte Berliner Auktionshaus J. A. Stargardt kürzlich ein Chopin-Manuskript des Liedes „Poseł“ (Der Bote) versteigerte.

Worin besteht die Verbindung zum Walzer? Erstens schrieb Chopin „Poseł“ auf genau dem gleichen Papier, das er für den Walzer verwendete. Dies ist die erste exakte Übereinstimmung mit dem Manuskript des Walzers. Somit sind alle Bedenken, dass das Fehlen anderer Manuskripte dieser Art eventuell auf eine Fälschung schließen lassen könnte, ausgeräumt.

Zweitens ist das „Poseł“-Manuskript zwar seit 1956 bekannt (damals wurde es zum letzten Mal versteigert), aber von der Titelseite stand nur ein recht dürftiges Foto zur Verfügung. Nun zeigte sich, dass sich auf der Rückseite eine Notiz von Chopins Hand befindet, die auf Polnisch lautet: „Żal mi że dziś drugiej strony zapisać nie mogę. – Gdyby był czas napisałbym żołnierza, pierwszą pieśń. – dostaniecie go a walca co Linosiowi tak dawno obiecałem“ („Ich bedaure, dass ich die zweite Seite heute nicht schreiben kann. – Hätte ich Zeit, würde ich ‚Der Soldat‘ schreiben, das erste Lied. – Du wirst es bekommen, und auch den Walzer, den ich Linosch vor so langer Zeit versprochen habe.“)

Stefan Witwicki (1801–1847)

Diese Notiz ist höchst aufschlussreich! 1) Chopin hatte eine „zweite Seite“ zu „Poseł“ (einem Strophengedicht) geschrieben; 2) er plante, ein Lied über das erste Gedicht aus Stefan Witwickis Piosnki Sielski zu schreiben, das „Żolnierz“ (Der Soldat) heißt; 3) er hatte vor, die „zweite Seite“ und „den Walzer“ zu schicken – sicherlich den Morgan-Walzer! und 4) „den Walzer“ hatte er „Linosch“ versprochen; dies ist der Kosename für „Linowski“, also Józef Linowski, Chopins Kommilitonen in der Kompositionsklasse von Joseph Elsner am Konservatorium. Wenn wir nun auch noch die von der Vorderseite ableitbaren Informationen und den gesicherten Umstand in Betracht ziehen, dass Chopin sein Exemplar von Witwickis Gedichtsammlung am 5. September 1830 erhielt (es hat sich ein Foto des Exemplars erhalten, das Witwicki Chopin an diesem Tag überreichte), können wir die Entstehungszeit des Walzer-Manuskripts allmählich genauer eingrenzen, nämlich nicht vor September 1830.

Ludwika Jędrzejewicz, geb. Chopin (1807–1855)

Bei der weiteren Untersuchung des Liedmanuskripts und seiner Zusammenhänge fand ich heraus, dass zwei spätere Manuskripte existieren, die zwar nicht von Chopins Hand stammen, die aber beide eindeutig auf dem kurz zuvor verkauften Autograph basieren. Chopin schrieb das Lied in einer Art „schematischer“ Darstellung nieder – er notierte es nicht vollständig aus, sondern verwendete Anweisungen (auf Polnisch), anhand derer das ganze Lied „rekonstruiert“ und gespielt (und/oder gesungen) werden konnte. Beide Abschriften weisen fast genau die gleiche „schematische“ Struktur auf. Und beide werden mit Chopins Schwester Ludwika in Verbindung gebracht. Tatsächlich hat Ludwika selbst die erste Abschrift angefertigt und mit anderen von ihr kopierten Werken Chopins zu einem Album zusammengestellt, das sie Maria Wodzińska (sie wäre fast Chopins Verlobte geworden) zusandte. Die zweite Abschrift (die, nicht ganz nachvollziehbar, sogar Chopins Anmerkungen dazu enthält, wo der Gesangstext in der ersten Ausgabe von Witwickis Gedichtband zu finden ist) entstand im Rahmen der postumen Veröffentlichung von Chopins Liedern, an der Ludwika maßgeblich beteiligt war. Vielleicht schickte Chopin „Poseł“ und folglich (das identische Papier würde dies nahelegen) auch den Morgan-Walzer also an Ludwika?

Die Antwort darauf gibt ein Brief aus Wien, den Chopin an seine Familie schrieb, und zwar (wie Recherchen ergeben haben) wahrscheinlich am 22. Dezember 1830: „Ich wollte Euch einen Walzer schicken, den ich komponiert habe, aber es ist schon spät; Ihr werdet ihn noch bekommen.“ Dieser Satz ähnelt stark demjenigen auf der Rückseite des „Poseł“-Manuskripts.

Somit kann man fast gesichert davon ausgehen, dass Chopin „Poseł“ und den Morgan-Walzer auf dem gleichen, in Wien gekauften Papier schrieb. Die Manuskripte stammen aus der Zeit um Weihnachten 1830, vielleicht etwa einen Monat früher oder später. Beide wurden in Längsrichtung gefaltet, was darauf schließen lässt, dass sie in einem Umschlag per Post verschickt wurden. Und sie gingen an Mitglieder von Chopins Familie, wobei sie vermutlich am ehesten für seine Schwester Ludwika (das musikalischste Familienmitglied) gedacht waren. Die Tatsache, dass Familienmitglieder die Manuskripte erhalten sollten, erklärt, warum sie weder signiert noch datiert sind. So etwas war nur bei Widmungsmanuskripten üblich: Signieren und Datieren – das tat man für gesellschaftlich hochgestellte Bekannte oder Komponistenkollegen, aber nicht für die eigene Familie.

Dass so kurz nach der Entdeckung eines völlig unbekannten Manuskripts ein weiteres auftaucht, das noch dazu so viel an Informationen darüber liefert, ist tatsächlich beispiellos.

NM: Das Autograph hat, wie bereits erwähnt, ein (zumindest für unsere modernen Augen) sehr ungewöhnliches Format: Es ist kaum postkartengroß, und in unserem Faksimile haben wir streng darauf geachtet, diese Originalgröße genau wiederzugeben. Haben Sie eine Erklärung für das Format?

JK: Das sehr kleine Format des Manuskripts (etwa ein Fünftel der Größe von Chopins normalen Musikautographen) verrät seine Bestimmung als „Widmungsmanuskript“. Derlei diente Chopin meist als Geschenk. Widmungsmanuskript (und Autographenalben im Allgemeinen) waren in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sehr beliebt. Nur für die Augen weniger Vertrauter gedacht, wurde das jeweilige Stück gern auf kleinen Blättern niedergeschrieben, wie im Falle des Walzers. Wenn Chopin Manuskripte seiner Musik verschenkte, benutzte er zwar meistens normalgroßes Papier (vor allem ab Mitte der 1830er Jahre); wenn er aber kleine Formate verwendete, dann fast ausschließlich zum Verschenken.

NM: Es handelt sich um ein ganz kurzes, ja fast lapidares Stück. Gibt es etwas, das diese Komposition dennoch organisiert, strukturiert, zusammenhält und damit als Miniatur kunstvoll macht?

JK: Der Walzer ist trotz seiner Kürze sicherlich ein „vollgültiges“ Werk. Das chromatisch absteigende Dreitonmotiv, das wie beiläufig die ersten Takte durchzieht, kehrt, sowohl in seiner Urform als auch in seiner Umkehrung, in allen Phrasen des Stücks wieder. Es erscheint im „Doppelschlag“ der Melodie in der zweiten Phrase, im hohen Oktavmotiv vor Beginn der dritten Phrase und (mit entschieden abschließendem Gestus) im vorletzten Takt des Walzers.

G. Henle Urtext

NM: Gab es bei der eigentlichen Edition irgendwelche Probleme oder Stellen, die nicht eindeutig zu lösen waren?

JK: Wie Chopin die Triolenfigur in der zweiten und dritten Phrase notiert, ist verwunderlich. Unter metrischen Gesichtspunkten ist die Notation offenkundig falsch. Wollte er Triolenachtel schreiben, oder deutet die Sechzehnteltriole auf eine übergebunden zu denkende, aber nicht notierte Achtelnote hin (vielleicht ähnlich der Vorschlagsfigur in Takt 12)? Oder wollte Chopin mit den Triolensechzehnteln ein schnelles Tempo für den Walzer andeuten? Seine uneindeutige Notation lässt den Ausführenden eine gewisse interpretatorische Freiheit. Und daher haben wir beschlossen, die Stelle so aus dem Autograph zu übernehmen und mit einer erklärenden Fußnote zu versehen.

links: Chopins Autograph, rechts und unten: G. Henle Urtext

NM: Und schließlich eine ganz persönliche Frage: Wie gefällt Ihnen der Walzer? Ist er Ihnen ans Herz gewachsen? Haben Sie schon eine „Geschichte“ mit diesem Stück Musik?

JK: Ich danke Ihnen für diese Frage! Ich betrachte diesen neuen Walzer als ein kleines Juwel. Er kann sowohl unseren Kenntnisstand über Chopins Konzept dieser Gattung zu Beginn seiner Laufbahn voranbringen als auch unsere Vorstellung davon konkretisieren, welche Bedeutung die „Kleinformen“ für diesen Komponisten hatten, der sich später zu einem wahren Meister der musikalischen Miniatur entwickelte (berühmtestes Beispiel sind wohl seine Préludes op. 28).

NM: Lieber Jeff, vielen Dank für dieses Interview!

Dieser Beitrag wurde unter Autograph, Chopin, Frédéric, Klavier solo, Lang Lang, Montagsbeitrag, Neue Quelle, Urtext abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setzen Sie ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert