Henriëtte Bosmans im Jahr 1917,
Foto: Jacob Merkelbach

Die Musik von Komponistinnen ist aus den Konzertsälen nicht mehr wegzudenken. Eine Selbstverständlichkeit ist das nach wie vor nicht, denn die Beharrungskräfte in der klassischen Musik sind nicht zu unterschätzen. Manche glauben ja daran, dass die Musikgeschichte hinsichtlich dessen, was weltweit die Konzertprogramme dominiert, in wundersamem Automatismus eine rein qualitative Auswahl getroffen habe, frei von Vorurteilen. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, das waren nun mal die besten, und wenn es keine Frau geschafft hat, ähnlich große Kunst hervorzubringen, ist das nicht zu ändern. Demgegenüber bricht sich nun endlich eine andere Erkenntnis Bahn: Wenn Musik von Komponistinnen bislang oft unterhalb der sogenannten Wahrnehmungsschwelle lag, sagt das erstmal nichts über die Musik aus, umso mehr jedoch über die (oft männlichen) Konstrukteure dieser sogenannten Wahrnehmungsschwelle.

Beispiel erwünscht? Die Sonate für Violoncello und Klavier der niederländischen Komponistin und Pianistin Henriëtte Bosmans (1895–1952), die jetzt in unserem Henle-Verlag druckfrisch und erstmals als Urtext-Ausgabe erschienen ist: HN 1667. Diese Sonate ist eine musikalische Naturgewalt, ein lyrisches Zaubergebilde, eine virtuose Herausforderung für die Solostimme, eine opulente Muskelpackung vollgriffigen Klaviersatzes, ein Prachtstück im Grenzbereich zwischen Spätromantik und Moderne – und: bislang kaum bekannt. Bosmans war erst 23 Jahre alt, als sie diese Cellosonate im Jahr 1919 schrieb, mit dem belgischen Cellisten Marix Loevensohn, dem damaligen Solocellisten des Concertgebouw-Orchesters, aufführte und im Verlag Broekmans & Van Poppel herausbrachte.

Der üppige Notentext hielt für mich als Editor so manche Herausforderung bereit. Weder verfügte Bosmans bei der Komposition bereits über große Routine, was das akkurate Niederschreiben solch komplexer Musik betrifft, noch scheint man sich im damaligen Verlag der Drucklegung dieses Newcomerwerks mit sonderlicher Liebe zum Detail gewidmet zu haben. Beispielsweise ist der Klavierpart in der Erstausgabe vielerorts mit geradezu abstrusen Ottava-Schreibweisen notiert, sodass seine Spannweite auf der Klaviatur kaum ersichtlich und die Orientierung beim Spielen enorm erschwert ist.

Eine historische Partiturabschrift von fremder Hand, die zusammen mit dem Autograph der Cellostimme überliefert ist, ist voller gravierender Fehler, weist einen vielleicht in manchen editorischen Zweifelsfällen zufällig auf den richtigen Weg, viel häufiger aber in die Irre. Die Sonate auf Basis dieser Quellenlage philologisch in den Griff zu bekommen, war eine spannende Aufgabe.

Musikalisch ist Bosmans Cellosonate ein faszinierendes Zeitdokument der damaligen Epoche, in der tonales Denken und dessen Überwindung miteinander im Wettstreit lagen. Obendrein steht sie als biographisches Zeitdokument und als Momentaufnahme für das Können einer jungen, aufstrebenden Komponistin, die zwar noch in der Ausbildung war, sich aber bereits auf den Weg gemacht hatte, ihren persönlichen Stil zu entwickeln. Und bei all dem ist die Sonate in ihren kompositorischen Merkmalen zeitlos brillante Musik, die ihren Spannungsbogen über die gesamten 25 Minuten ihrer Aufführungsdauer hinweg zu keiner Sekunde verliert und fast bis zum Bersten angefüllt ist mit Aussagekraft. Diskretion ist diesem Werk nicht zu eigen. Ganz gewiss gilt das für den im Klavier aus großen Akkorden und tiefstmöglichem Bass aufgeschichteten ersten Satz mit seinem hochexpressiven Hauptthema des Cellos, aber ebenso für den impressionistisch anmutenden und von einer spielfreudigen Zwiesprache der Instrumente geprägten zweiten, den lyrisch-fragilen dritten und den rhythmisch energetischen, im Fünfvierteltakt stehenden vierten Satz – ehe das Anfangsthema ganz am Ende mit nochmals vermehrter Kraft (Fortissimo, Maestoso) ein letztes Mal wiederkehrt und sowohl für eine letzte Steigerung als auch für musikalische Geschlossenheit sorgt.

Wiederkehr des Hauptthemas am Ende des vierten Satzes. Der Klaviersatz – Fortissimo, Maestoso – erstreckt sich hier über sieben Oktaven der Klaviatur, Henle-Urtext

Rhythmisch kraftvoller Gestus des im 5/4-Takt notierten Finalsatzes, Henle-Urtext

Man mag bei dieser jugendlichen kompositorischen Kraftprobe, die noch Bosmans’ Vorbilder erahnen lässt, Anklänge an Fauré, Grieg oder Brahms heraushören. Man mag ein bisschen an Richard Strauss’ in ähnlichem Lebensalter entstandene Cellosonate denken, die in ihren beiden Werkfassungen auch nicht gerade von kompositorischer Zurückhaltung geprägt ist. Vor allem aber ist Bosmans’ Sonate Ausdruck einer starken und eigenständigen Künstlerinnenpersönlichkeit.

Die Bosmans-Forscherin Helen H. Metzelaar hat deren bewegte Biographie für das Vorwort unserer Ausgabe nachgezeichnet. Bosmans war eine der herausragenden Pianistinnen ihrer Zeit, verfeinerte über Jahre ihre kompositorische Tonsprache, schrieb Instrumentalmusik für kleine und große Besetzungen – oft mit Vorliebe für das Cello und für ihr eigenes Instrument, das Klavier. Sie war in den 1920er Jahren zwischenzeitlich mit der Cellistin Frieda Belinfante liiert und lebte mit ihr ein modernes Leben. Sie musste später den frühen Krebstod ihres Verlobten, des Geigers Francis Koene, verkraften, trotzte als Tochter einer jüdischen Mutter den beruflichen Schikanen und leibhaftigen Gefahren der Besatzungszeit durch Nazi-Deutschland – und fand nach dem Krieg zur Musik zurück, konzentrierte sich dann vor allem auf die Liedkomposition und entdeckte für sich die Musikschriftstellerei als neues Betätigungsfeld.

Julian Riem und Raphaela Gromes Foto: Gregor Hohenberg

Eine solche Künstlerin und ihre Kunst müssen ins Rampenlicht. Die Cellistin Raphaela Gromes und der Pianist Julian Riem sind seit ihrer chartstürmenden CD „Femmes“ (Sony Classical, 2023) ein gefeiertes Investigativ-Duo für die Wiederentdeckung der Werke von Komponistinnen. Die Idee einer Urtext-Edition der Bosmans-Sonate stammte nicht nur ursprünglich von ihnen, sondern beide standen mit ihrer musikpraktischen Expertise auch als Ratgeber an meiner Seite und haben die Ausgabe außerdem mit ihren individuellen Fingersätzen und den Bezeichnungen der Solostimme bereichert. Für ihre neueste CD „Fortissima“ (Sony Classical, 2025) haben sie die Sonate eingespielt, und auch in ihrem zusammen mit Susanne Wosnitzka geschriebenen gleichnamigen Buch über Komponistinnen (Verlag Goldmann) hat sich Raphaela Gromes Henriëtte Bosmans zugewandt. Das ergab eine wunderbare Kooperation, die hoffentlich dazu beitragen wird, dass Werke von Komponistinnen wie diese herrliche Cellosonate sich weiter emanzipieren können. Zum Gewinn für alle. Denn wenn mitunter die Sorge geäußert wird, die Pfade der klassischen Musik seien mittlerweile ziemlich ausgetreten, gilt das allenfalls für die männliche Seite der Musikgeschichte. Die weibliche wurde bislang oft nur in vereinzelten Kurzgeschichten erzählt, und in den Archiven schlummert ein für die Allgemeinheit nur in Anfängen gehobener Schatz an wunderbarer Musik.

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