Seit nun fast zehn Jah­ren ar­bei­te ich mit Mur­ray Pe­r­ahia als Mit­her­aus­ge­ber an einer Neu­aus­ga­be der Kla­vier­so­na­ten von Lud­wig van Beet­ho­ven. Zehn So­na­ten sind in­zwi­schen er­schie­nen, und ich ver­spre­che, dass es nun nicht noch zwan­zig Jahre dau­ern wird, bis auch die an­de­ren So­na­ten vor­lie­gen!

Unter den be­reits ver­öf­fent­lich­ten So­na­ten be­fin­det sich auch die­je­ni­ge in G-dur, op. 14 Nr. 2 (die So­na­te „Nr. 10“, falls Sie lie­ber durch­zäh­len). Lei­der liegt uns, wie für alle So­na­ten bis ein­schließ­lich Op. 22, auch für die G-dur-So­na­te kein Au­to­graph vor. Wir wis­sen zur Ent­ste­hung die­ser So­na­te nichts, nicht ein­mal, wann genau sie kom­po­niert wurde. Hilfs­mit­tel, die uns sonst für die Da­tie­rung zur Ver­fü­gung ste­hen, etwa Skiz­zen­ma­te­ri­al, feh­len völ­lig. Le­dig­lich eine An­zei­ge zum Er­schei­nen der Ori­gi­nal­aus­ga­be in der Wie­ner Zei­tung aus dem Jahr 1799 hilft uns, diese So­na­te chro­no­lo­gisch ein­zu­ord­nen. Ob sie im Jahr der Ver­öf­fent­li­chung auch kom­po­niert wurde oder eher ein oder zwei Jahre frü­her, muss offen blei­ben.

Als Quel­le für eine Ur­text-Edi­ti­on kann man­gels hand­schrift­li­cher Do­ku­men­te nur die Erst­aus­ga­be die­nen (Beet­ho­ven hat höchst­wahr­schein­lich auf spä­te­re Aus­ga­ben der So­na­te kei­nen Ein­fluss ge­nom­men). Diese beim Ver­le­ger Mollo in Wien er­schie­ne­ne Aus­ga­be stellt uns im 1. Satz der So­na­te Op. 14 Nr. 2 ein klei­nes Rät­sel, das im­mer­hin, je nach­dem, wie man es löst, zu einem deut­lich hör­ba­ren Un­ter­schied beim Spie­len der So­na­te führt. Hier ist es:

Wir sind in der Durch­füh­rung des 1. Sat­zes. Sehen Sie, von wel­cher rät­sel­haf­ten Note ich spre­che? Viel­leicht haben Sie die So­na­te schon ein­mal selbst ge­spielt? Dann wür­den Sie höchst­wahr­schein­lich über die 1. Note des2 in der rech­ten Hand im 10. Takt un­se­res Bei­spiels stol­pern. Die meis­ten, wenn nicht alle mo­der­nen Aus­ga­ben dru­cken statt­des­sen d2 und wei­chen damit von der ein­zi­gen Quel­le zu die­sem Werk ab. Grün­de dafür gibt es wohl im We­sent­li­chen drei:
(1) Der har­mo­ni­sche Ver­lauf der Fünf­takt-Grup­pe ab dem 1. Forte ist: Drei Takte As-dur, ein Takt Do­mi­nant­sep­tak­kord auf d, ein Takt ver­min­der­ter Do­mi­nant­sep­tak­kord auf fis. Die nächs­te Fünf­takt-Grup­pe müss­te ent­spre­chend mit drei Tak­ten g-moll be­gin­nen und nicht schon im drit­ten Takt einen ver­min­der­ten Ak­kord auf­wei­sen.
(2) Im Takt mit dem des2 fehlt ein not­wen­di­ges b-Vor­zei­chen vor dem h1. Des­halb:
(3) Der Ste­cher hat sich ver­mut­lich (nach dem Sei­ten­wech­sel) ge­irrt und das b-Vor­zei­chen ver­se­hent­lich mit dem Stem­pel eine Terz zu hoch ein­ge­schla­gen.

Wir sind je­doch der Mei­nung, dass es eben­falls drei Grün­de gibt, nicht von der Quel­le ab­zu­wei­chen:
(1) Zu Beet­ho­vens Zeit war es noch üb­lich, bei Ton­re­pe­ti­tio­nen oder der Wie­der­ho­lung von No­ten­grup­pen über einen Takt­strich hin­aus not­wen­di­ge Vor­zei­chen nicht er­neut zu set­zen. Sehr häu­fig fin­den sich in Beet­ho­vens Ma­nu­skrip­ten ähn­li­che Si­tua­tio­nen, bei denen diese Vor­zei­chen nach dem Takt­strich NICHT wie­der­holt wer­den. Daher könn­te es durch­aus sein, dass auch in un­se­rem Fall in Beet­ho­vens Au­to­graph vor dem h1 kein b-Vor­zei­chen steht und der Ste­cher es des­halb nicht setz­te. (Im 3. Takte der 1. Grup­pe fehlt zum Bei­spiel im obe­ren Sys­tem das b-Vor­zei­chen vor dem un­te­ren e.) Der Ste­cher hat sich also mög­li­cher­wei­se nicht in der Terz ge­irrt, son­dern hat den Takt genau so ge­sto­chen, wie er im Ma­nu­skript stand.
(2) Ro­bert Levin schrieb ein­mal: „Her­aus­ge­ber wol­len es ein­heit­lich, Künst­ler lie­ben die Viel­falt“. :-) Warum soll­te Beet­ho­ven den har­mo­ni­schen Ver­lauf der 1. Grup­pe in der 2. Grup­pe wört­lich wie­der­holt haben? Zwei Takte spä­ter, im 5. Takt der 2. Grup­pe, än­dert er ja schließ­lich eben­falls im Ver­gleich zur 1. Grup­pe!
(3) Das des2 ist har­mo­nisch de­fi­ni­tiv nicht falsch, nur über­ra­schend.

Wir haben uns also ent­schie­den, im No­ten­text un­se­rer Aus­ga­be das des2 mit einer ent­spre­chen­den Fuß­no­te gemäß der ein­zi­gen Quel­le zu brin­gen. Spie­len Sie es ein­mal! Ich habe es von Ma­es­tro Pe­r­ahia mehr­fach im Kon­zert ge­hört. Mir ge­fällt es gut. Und Ihnen?

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4 Antworten auf »Daneben geschlagen? – Eine vermeintlich falsche Note in Beethovens Sonate op. 14 Nr. 2«

  1. Urs Liska sagt:

    Gibt es eine Quellenangabe für das Zitat von Robert Levin? Es bringt eines der grundlegenden Probleme des Edierens so wunderbar auf den Punkt.

  2. Hr Wenz sagt:

    Was gegen ein Des spricht,
    wäre dann nur die Frage , warum im nächsten Takt
    wieder ein b vor dem h ist , laut Erstdruck.

    Beethoven sparsam mit Vorzeichen, stimmt,
    aber nur wo solche Ambivalenzen ausgeschlossen sind.
    Mit letzter Sicherheit kann man natürlich nicht argumentieren,
    wichtiger ist wohl ein mitreißendes Spiel von dieser
    vorzüglichen Sonate.

    • Lieber Herr Wenz,
      danke für Ihren Kommentar. Wir haben ja über diese Stelle bereits korresponiert. Sie haben recht, es bleibt eine offene Frage. Murray Perahia spielt im Konzert diese Sonate inzwischen mit Des und ist überzeugt, dass dies die wahrscheinlichere Lesart ist. Die Quelle lässt, wie wir in unserer Bemerkung dazu im Notenband darlegen, beide Lesarten zu. Transparenz ist hier das entscheidende, so legt man dem Musiker seine Optionen dar.
      Beste Grüße
      Norbert Gertsch

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