Was Sie hier sehen, ist die letz­te Seite der C-dur-Fan­ta­sie op. 17 von Ro­bert Schu­mann in der Hand­schrift des Ko­pis­ten Carl Brück­ner aus Leip­zig. Die Quel­le be­fin­det sich in der Széchényi-Bi­blio­thek in Bu­da­pest. Die ur­sprüng­lich no­tier­ten Takte (be­gin­nend links oben mit „Ada­gio“), wel­che der Ko­pist aus dem (ver­lo­re­nen) Au­to­graph ab­ge­schrie­ben hatte, strich Schu­mann selbst wäh­rend sei­ner Über­ar­bei­tung und Druck­vor­be­rei­tung des Werks ei­gen­hän­dig durch. Im An­schluss schrieb er die end­gül­ti­gen Schluss­tak­te, die man hier nur etwas schwä­cher er­ken­nen kann. „End-gül­tig“ – denn so er­schei­nen sie dann auch in der ge­druck­ten und von Schu­mann nach­weis­lich Kor­rek­tur ge­le­se­nen Erst­aus­ga­be.

Das alles wäre nicht wei­ter eine Er­wäh­nung wert, weil „täg­lich Brot“ für alle, die sich mit Hand­schrif­ten der Kom­po­nis­ten und der Werk­über­lie­fe­rung be­fas­sen. Aber in die­sem Falle han­delt es sich um eine mu­si­ka­lisch äu­ßerst in­ter­es­san­te Text­än­de­rung: Schu­mann hatte ur­sprüng­lich näm­lich auf den Schluss des ers­ten Sat­zes der Fan­ta­sie zu­rück­ge­grif­fen, wo er Beet­ho­vens wun­der­ba­re Me­lo­die zu den Zei­len „Nimm sie hin denn diese Lie­der, die ich dir, Ge­lieb­te [Clara], sang“ aus dem Lie­der­zy­klus „An die ferne Ge­lieb­te“ op. 98 zi­tiert. Wir wis­sen nicht, warum Schu­mann diese Re­mi­nis­zenz durch­strich und durch einen ge­wöhn­li­che­ren Schluss er­setz­te. Viel­leicht spür­te er, dass sich die Bot­schaft des Beet­ho­ven-Zi­tats in der Wie­der­ho­lung ab­nutzt und sie ins­ge­samt be­schä­digt, oder dass nach der rie­si­gen Apo­theo­se der Vort­ak­te ein neuer, vor allem so mar­kan­ter mu­si­ka­li­scher Ge­dan­ke die Schluss-Sog­wir­kung ab­schwächt. Man könn­te auch ent­ge­gen­ge­setzt ar­gu­men­tie­ren, er habe sei­nen – ge­nia­le­ren – ers­ten Ein­fall spä­ter als allzu ge­wagt emp­fun­den und dann – lei­der – durch Ba­na­le­res er­setzt. Wie auch immer: Es geht für den Phi­lo­lo­gen doch nicht um Ge­schmacks­fra­gen: Schu­mann strich diese Takte und er­setz­te sie. Und es stellt sich die Frage, wie wir mit so einem Phä­no­men in un­se­ren Edi­tio­nen um­ge­hen sol­len. Denn seit Auf­tau­chen der Ab­schrift wird der Schluss der C-Dur-Fan­ta­sie op. 17 in Mu­si­ker­krei­sen dis­ku­tiert und es gibt auch schon ei­ni­ge Auf­nah­men und Kon­zer­te mit dem „ur­sprüng­li­chen“ Schluss.

Der G. Henle Ver­lag ver­öf­fent­lich­te 1987 just die­sen ge­stri­che­nen Schluss Schu­manns nach der Bu­da­pes­ter Ab­schrift. Alle Auf­la­gen zwi­schen 1987 und 2003 ent­hiel­ten die­sen ur­sprüng­li­chen Schluss – in Klein­druck als Fuß­no­te. Seit wir je­doch im Jahr 2003 die er­neu­te kri­tisch re­vi­dier­te Aus­ga­be her­aus­brach­ten, ver­zich­ten wir wie­der auf die­sen Zu­satz; es er­folgt nur ein Hin­weis im Kri­ti­schen Be­richt. Warum das?

Die da­ma­li­ge Ent­schei­dung war mei­ner Mei­nung nach ein Feh­ler. Wir haben als Edi­to­ren und Ver­le­ger wegen der welt­wei­ten Ver­brei­tung und Nut­zung un­se­rer Aus­ga­ben eine weit hö­he­re Ver­ant­wor­tung im Um­gang mit No­ten­tex­ten als die aus­füh­ren­den Mu­si­ker. Schu­manns Wil­len ist ein­deu­tig. Er will nicht, dass die aus sei­ner Sicht über­hol­ten Takte ge­spielt wer­den. Er hat sie deut­lich ge­stri­chen und das Ge­wünsch­te no­tiert. Er las ge­wis­sen­haft Kor­rek­tur der Erst­aus­ga­be. Diese al­lein ist Schu­manns letz­tes Wort. Das haben wir zu re­spek­tie­ren. Unser Werk­be­griff zer­fie­le letzt­lich zu Staub, woll­ten wir frei und fall­wei­se nach un­se­rem pri­va­ten Gusto dar­über ent­schei­den, was „bes­ser“ oder „schlech­ter“ sei. Der Will­kür wäre Tür und Tor ge­öff­net. So sehr es aus Sicht des Stu­die­ren­den und In­ter­pre­tie­ren­den hoch in­ter­es­sant ist, zu sehen, wie die C-dur-Fan­ta­sie zu dem wurde, was sie heute ist, so wenig hat die Werk­statt etwas mit einer Ur­text­aus­ga­be zu tun. Bes­ten­falls im Kri­ti­schen Ap­pa­rat oder in einem An­hang kann man in be­son­de­rem Falle Kor­rek­tur­stu­fen aus­führ­li­cher dar­stel­len. Aber ei­gent­lich ge­hört sol­ches in den Ap­pa­rat einer Ge­samt­aus­ga­be. Wir wol­len un­se­ren Kun­den keine Vor­stu­fen prä­sen­tie­ren, son­dern den kor­rek­ten, also den vom Autor le­gi­ti­mier­ten Text.

Haben Sie eine an­de­re Mei­nung? Schrei­ben Sie uns!

Auch im Falle Franz Schu­berts gibt es heiß dis­ku­tier­te Phä­no­me­ne die­ser Art; mit Schu­bert will ich mich in mei­nem nächs­ten Blog be­fas­sen.

PS: Die­ser Text ist ein Aus­zug aus einem weit­aus um­fang­rei­che­ren Text, ent­nom­men dem „Schu­mann-Fo­rum 2010“.

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4 Antworten auf »Willen versus Willkür. Zu den Schlusstakten von Robert Schumanns C-dur-Fantasie op. 17«

  1. Cookie Lee sagt:

    You said “Schumann’s will here is unambiguous”, but I have some different thoughts about that. It’s not the case where other people add what they want to the sheet music arbitrarily. It’s the composer himself had a thought at first, but had a second thought later.
    While I agree that a Urtext Editon should respect the composer’s intention, I don’t think that it should respect only the composer’s “final” intention. Take Rachmaninov’s second Piano Sonata for example: Seeing that so many people prefer the 1913 version to the 1931 version, isn’t it impractical to insist that Rachmaninov had removed what he once wrote and issue the 1931 version only?

  2. Mitunter entfalten die neuen Medien ja doch eine segensreiche Wirkung. Nämlich wenn sie uns Zugang zu Informationen verschaffen, die ansonsten schwer zugänglich blieben: In diesem Fall ist das die Art und Weise, in der die Intention des Komponisten Jahrhunderte danach rekonstruiert wird. Ich finde es herausragend spannend, als am Klavier dilettierender Laie Einblick in die Welt der Abwägungen hinter dem Notenblatt zu erhalten. Es verblüfft mich zu erfahren, in welchem Umfang heutige Musikwissenschaftler Abwägungen zu treffen haben und welcher Unsicherheit sogar der Komponist in Hinblick auf das eigene Werk unterworfen gewesen sein mag – das hätte ich so nie geahnt. Wo doch gerade das Schumannsche Werk in sich so rund, so abgeschlossen wirkt.

  3. Guten Tag,

    ich hörte gestern (10. 1. 2013) Andras Schiff in Dortmund mit dem ursprünglichen Schluss des dritten Satzes und hatte mich sehr gewundert, da ich ihn so nicht kannte. Interessant ist aber, dass Schumann den Bass an zwei Stellen hier anders gestaltet als am Ende des ersten Satzes: Takt 6/7 und 9/10 in der oben abgebildeten Handschrift. Schiffs Interpretation war übrigens grandios.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Markus Giljohann, Uni-Dozent und Klavierlehrer

    • Sehr geehrter Herr Dr. Giljohann,

      vielen herzlichen Dank für Ihren Beitrag im Zusammenhang meines Schumann-Textes.

      Für mich ist András Schiff einer der größten lebenden Pianisten; es ist immer wieder ein tolles und inspirierendes Erlebnis, ihn zu hören. Er hat beide Schlüsse des Opus 17, den bekannten und den unbekannten, auf seiner (phänomenalen) Schumann-CD eingespielt. Ich hörte ihn in Neumarkt/Opf. erstmals den mir bis dahin unbekannten Schluss spielen. Mir persönlich gefällt er nicht, aber das ist Geschmackssache. Eine Tatsache ist, dass Schumann diesen urspr. notierten Schluss nicht verbreitet wissen wollte.

      Und ja, die beiden im Bass abweichenden Stellen sind bemerkenswert, ich lese sie wie Varianten zum ersten Auftreten des Themas ein paar Takte zuvor; sie sind in ihrer Fingerspreizung etwas undankbarer zu spielen. Ich habe nachgesehen: Schumann bzw. der Kopist (der Schumanns verlorenes Autograph spiegelt) notiert am Schluss des ersten (!) Satzes den Bass jedesmal wie wir es aus der Erstausgabe kennen, also keine “Varianten”.

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