Ein Blog-Ein­trag, der am 24.12. er­scheint – wer hat da nicht weih­nacht­li­che As­so­zia­tio­nen? Auch einem Hen­le-Lek­tor geht es da nicht an­ders. Soll­te an die­sem so emo­tio­nal be­setz­ten Datum wirk­lich ein Blog-Bei­trag über Pro­ble­me in Ur­text-Edi­tio­nen er­schei­nen? Das schien mir nicht recht in Ein­klang zu brin­gen zu sein. Je­doch, schlum­mern viel­leicht auch in weih­nacht­li­cher Musik un­ge­ahn­te Ur­text-Fra­gen, so­dass sich das Eine ele­gant mit dem An­de­ren ver­bin­den ließe? Im Fol­gen­den ein Ver­such.

„Stil­le Nacht, hei­li­ge Nacht“ – im De­zem­ber geht ei­gent­lich nichts ohne Ab­sin­gen die­ses Weih­nachts-Schla­gers, und das auf der gan­zen Welt. Wo lie­gen aber die Wur­zeln des Lie­des – und wie sieht es mit der Quel­len­la­ge aus? 1816 ver­fass­te Jo­seph Mohr den Text, und 1818 steu­er­te Franz Xaver Gru­ber die Me­lo­die bei. Am 24. De­zem­ber 1818 er­klang das Lied zum ers­ten Mal in der Christ­met­te in der St. Ni­ko­laus Kir­che in Obern­dorf bei Salz­burg. Ver­mut­lich ge­hör­te es schon bald zum Re­per­toire der dor­ti­gen Ge­mein­de. Sei­nen Sie­ges­zug trat das Lied je­doch erst an, nach­dem es auf bis­her nicht gänz­lich ge­klär­tem Weg ins Zil­ler­tal ge­langt war. Die dort an­säs­si­ge Sän­ger­fa­mi­lie Stras­ser nahm die Weise in ihr Re­per­toire auf und trat auf ihren Eu­ro­pa­rei­sen immer wie­der mit der „Stil­len Nacht“ auf. Ein Vor­trag in Leip­zig im Jahr 1832 ist be­legt, und dort wurde man hell­hö­rig: Der Ver­le­ger Frie­se er­kann­te of­fen­bar das Po­ten­ti­al der Stras­ser-Ge­sän­ge und ver­öf­fent­lich­te 1833 eine Samm­lung „Vier ächte Ty­ro­ler Lie­der“, dar­un­ter „Stil­le Nacht“ (ohne Be­tei­li­gung Gru­bers. Unten auf die­ser Seite eine Re­pro­duk­ti­on des Dru­ckes). Eine zwei­te Zil­ler­ta­ler Sän­ger­fa­mi­le, (Fa­mi­lie Rai­ner) nahm die „Stil­le Nacht“ mit auf eine Tour­nee nach Ame­ri­ka, wo sie ver­mut­lich 1839 zum ers­ten Mal er­klang. Heute exis­tiert das Lied in 300 Spra­chen und Dia­lek­ten.

Was aber hat das alles mit Ur­text­fra­gen zu tun? Sieht man sich die vier er­hal­te­nen Au­to­gra­phe an (siehe die in­for­ma­ti­ve Web­site der Stil­le Nacht Ge­sell­schaft, mit Hör­bei­spie­len der Ur­fas­sun­gen) und stellt ihnen die Fas­sung der Erst­aus­ga­be bei Frie­se ge­gen­über, zei­gen sich ei­ni­ge ver­blüf­fen­den Dif­fe­ren­zen. Im fol­gen­den Bei­spiel 1 ist die Me­lo­die­li­nie der Fas­sung nach Au­to­graph II wie­der­ge­ge­ben (trans­po­niert nach C-dur), im Bei­spiel 2 die Fas­sung der Erst­aus­ga­be.

Ab­ge­se­hen von rhyth­mi­schen Ab­wei­chun­gen (vor allem hin­sicht­lich der Punk­tie­run­gen), nimmt der Erst­druck zwei ent­schei­den­de Ein­grif­fe vor: 1) die me­lo­di­schen Schlei­fer zur Un­ter­se­kun­de in T. 3 und 4 wur­den zu Ton­wie­der­ho­lun­gen ein­ge­eb­net. Statt­des­sen bringt der Druck merk­wür­dig nach­schla­gen­de Punk­tie­run­gen, die ver­mut­lich im Sinne eines glis­san­do aus­zu­füh­ren sind und mög­li­cher­wei­se den Vor­trag durch die Stras­ser-Fa­mi­lie wi­der­spie­geln (und im Üb­ri­gen den von Sän­gern un­se­rer Tage); 2) der Sprung einer Quin­te zwi­schen T. 8 und 9 wurde im Druck zu einer Sep­ti­me er­wei­tert, auf die eine Ober­terz (mit Ak­zent) folgt. Diese Sprün­ge haben Aus­wir­kun­gen auf die Fort­füh­rung der Me­lo­die in der zwei­ten Hälf­te von T. 9: Die Ton­schrit­te d2–c2h1 der au­to­gra­phen Fas­sung wer­den durch eine Bre­chung des Do­mi­nant­sep­tak­kor­des er­setzt (f2d2h1); erst in T. 10 stim­men beide Fas­sun­gen wie­der über­ein. Der Erst­druck er­wei­tert den oh­ne­hin schon ge­wal­ti­gen Ton­raum des Lie­des somit von einer De­zi­me zu einer Un­de­zi­me und schafft einen dra­ma­ti­schen emo­tio­na­len Hö­he­punkt.

Zwar re­prä­sen­tiert die zwei­te Fas­sung jene Form des Lie­des, die heute ver­brei­tet ist; den­noch ist die erste Fas­sung über vier au­to­gra­phe Quel­len (die un­ter­ein­an­der hin­sicht­lich Be­set­zung, Be­glei­tung und De­tails in der Me­lo­die­füh­rung ab­wei­chen) hin­rei­chend ab­ge­si­chert und ver­kör­pert somit die au­then­ti­sche Form der Lied­me­lo­die – den Ur­text.

Müss­te eine Ur­text­aus­ga­be also nicht die „Stil­le Nacht“ wie­der in ihrer au­then­ti­schen Fas­sung her­stel­len und die Me­lo­die von spä­te­ren Ein­grif­fen be­frei­en? Die klare Ant­wort lau­tet: ja. Wir wol­len aber keine Spiel­ver­der­ber sein. Ei­ner­seits müss­te eine gute Edi­ti­on auch eta­blier­te Les­ar­ten do­ku­men­tie­ren, selbst wenn sie nicht au­then­tisch sind. An­de­rer­seits mag der Kom­po­nist Gru­ber die zwei­te Fas­sung durch­aus ge­bil­ligt haben – sie er­schien im­mer­hin zu sei­nen Leb­zei­ten. Schließ­lich sei zu­ge­ge­ben, dass im Fall von Lied­gut, das eine volks­tüm­li­che Ver­brei­tung er­fah­ren hat, die An­wen­dung ri­gi­der Ur­text-Prin­zi­pi­en mög­li­cher­wei­se nicht greift. Kurz­um, die Ori­gi­nal­fas­sung Gru­bers soll­te viel­leicht wie­der stär­ker ins Be­wusst­sein ge­rückt und an­ge­mes­sen ge­wür­digt wer­den. Ad­ap­tio­nen aller Art will aber in die­sem Fall wirk­lich nie­mand ver­dam­men. In die­sem Sinne: Frohe Weih­nach­ten!

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5 Antworten auf »„Stille Nacht“ revisited«

  1. Wolf-Dieter Prosinger sagt:

    Kurze Ergänzung zu Ihrem Artikel: Erst 1995 wurde in Salzburg als ältestes Dokument für die Entstehungs-geschichte des Liedes das einzige Autograph aus der Hand von Joseph Mohr aufgefunden. Datiert auf die Zeit um 1820 stellt es auch die der leider verschollenen Urfassung des Liedes am nächsten kommende Aufzeichnung dar. Siehe: http://www.stillenacht.at/img/mohr_autograph.jpg

  2. Kirmeier Konrad sagt:

    Lieber Herr Müllemann!

    Durch einen Tipp von einer ihrer Assistentinnen ist mir erst heute aufgefallen, wie man auch ältere Blog-Beiträge schnell und mühelos finden kann.

    Mittlerweile finde ich das Bloggen hochinteressant.

    Nun zum Stille Nacht Lied.

    Alles in allem stimme ich ihnen zu, wenn ich die wissenschaftliche Ausdrucksweise auch nur sehr schwer verstehe, da ich nicht akademisch/wissenschaftlich ge-/ausgebildet bin.

    Dieses Lied ist einfach nur schön und wünschenswert, das eine Urtextfassung im Henleverlag herausgegeben wird.

    Zuletzt habe ich bei YouTube eine Aufnahme vom Bariton Jonas Kaufmann gesehen, und ich glaube der singt das relativ „urmässig“.

    Die Ur-Botschaft dieses Liedes ist m. E. eindeutig der Frieden für die Welt, und das ist wohl kaum wichtiger als jetzt gerade wieder.

    Eine Strophe die ich Weihnachten, zumindest in der Kirche, nie zu hören bekam ist folgende.

    Stille Nacht, heilige Nacht.
    Die der Welt das Heil gebracht,
    Aus des Himmels goldenen Höhn,
    Uns der Gnade Fülle lässt sehn,
    Jesus in Menschengestalt.

    In diesem Sinne wünsche ich uns und der Welt Frieden!

    Freundliche Grüße
    Konrad Kirmeier

  3. Kirmeier Konrad sagt:

    Hallo Herr Müllemann!

    Wie weit sind denn die Pläne nun gediehen eine Henle Urtext Ausgabe von Stille Nacht herauszugeben?
    Oder ein Hymnen Sammelband?
    Wäre das nichts?
    Da könnten meiner Meinung die Deutschland- und die Bayernhymne mit der Stille Nacht Weihnachtshymne, und andere Hymnen, vereint sehr gut ihren Platz finden.

    Ich freue mich über eine Rückmeldung.

    Freundliche Grüße

    Konrad Kirmeier

    • Lieber Herr Kirmeier,
      eine schöne Idee! Ich fürchte nur, solch ein Titel passt nicht so recht in unseren Katalog, mit unserer Ausrichtung auf Repertoire-Komponisten der klassischen Musik. Ich kann mir das in der näheren Zukunft nach wie vor nicht vorstellen – ich muss Sie da um Ihr Verständnis bitten.
      Herzliche Grüße,
      Norbert Müllemann

  4. Kirmeier Konrad sagt:

    Lieber Herr Müllemann!

    Herzlichen Dank für die schnelle Rückmeldung.
    Schade, das mein Vorschlag nicht umgesetzt werden kann.

    Wenigstens hat eine Bearbeitung des Liedes „O Sanctissima“ (O du Fröhliche) von Beethoven einen sehr guten Platz in der sehr edlen Henleausgabe „Lieder der Völker“ gefunden.

    Freundliche Grüße

    Konrad Kirmeier

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