Das aktuelle Wagner-Jahr geht auch am Henle-Verlag nicht spurlos vorüber, selbst wenn Bühnenwerke nicht zu unserem Programmbereich gehören: mit Isoldens Liebestod, also Franz Liszts Klaviertranskription der Schlussszene aus Wagners Tristan und Isolde, geben wir zum ersten Mal ein Werk heraus, das fundamental auf der Komposition eines anderen Autors beruht. (Im Unterschied etwa zu Liszts Rigoletto-Paraphrase HN 978, bei der es sich um eine freie Fantasie über Themen aus Verdis gleichnamiger Oper handelt.) Liszts kongeniale Übertragung erschien uns einerseits als passendes Geburtstagsgeschenk für den Leipziger Meister, zugleich aber auch als herausragende Klavierkomposition aus eigenem Recht, die einen Platz in unserem Katalog verdient hat.
Bei der Arbeit an unserer frisch erschienenen Urtextausgabe (HN 558), die wir auch bei der Frankfurter Musikmesse im April vorstellen, ergab sich daher eine besondere und für uns neuartige Quellensituation: nicht nur Liszts Autograph und die zu Lebzeiten erschienenen Druckausgaben von Isoldens Liebestod waren zu berücksichtigen, sondern auch Wagners Vorlage, der Liszt – bis auf eine kurze Einleitung – takt- und textgetreu folgt. (Wäre Liszts virtuoser Klaviersatz nicht so pianistisch raffiniert und orchestral-klangvoll, könnte man fast den Frevel begehen, von einem „Klavierauszug“ zu sprechen…)
Es zeigte sich, dass die Partitur von Tristan und Isolde in Einzelfragen ein wichtiges Korrektiv für die Edition darstellt, denn sowohl die Erstausgabe von Isoldens Liebestod, die 1868 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschien, als auch die von Liszt revidierte Ausgabe von 1875, die uns als Hauptquelle diente, weisen einige fragwürdige Stellen auf. Liszt selbst war zwar generell sehr auf sorgfältige Ausführung seiner Korrekturen und Revisionen bedacht, wie diese Ermahnung an einen anderen Musikverleger zeigt:
„Sie wissen, geehrter Freund, daß mir schwindlige [=unsorgfältige] Auflagen ein Gräuel sind; erweisen Sie mir also die Aufmerksamkeit, meinen geringen Noten, inclusive deren f, p, cresc., etc. etc. ebenso genau Rechnung zu tragen, als es gewiß ihr Buchhalter nicht versäumt mit den Thalern und Groschen Ihrer Verlags-Conti! Mein geistiges Eigenthum ist mir nicht minder wichtig als dem Kaufmann seine materielle Habe, und die Stich-Verunglimpfungen sind mir am empfindlichsten.“
(Brief an Julius Schuberth vom 5. 9. 1863, zitiert nach Franz Liszts Briefe, hrsg. von La Mara, Bd. 8, Leipzig 1905, S. 164, Hervorhebung original.)
Dennoch entgingen auch Franz Liszt bei mehreren Korrekturlesungen von Isoldens Liebestod selbst einige „Stich-Verunglimpfungen“, d. h. Verfälschungen und Stichfehler, obwohl man meinen sollte, dass doch gerade der Urheber diese am ehesten erkennen müsste. Dieses paradoxe Phänomen trifft man bei Komponisten häufig an – wahrscheinlich ist genau dies die Gefahr, dass der Schöpfer sein Werk zu sehr „im Ohr“ hat und die Korrekturfahnen nicht mehr akribisch gegen sein Autograph prüft.
Im Falle Liszts geht beispielsweise aus seiner Korrespondenz mit Breitkopf hervor, dass er sich die Korrekturfahnen gerne bereits als Heft gebunden schicken ließ, damit er sie einfacher am Klavier durchspielen konnte. Seine Herangehensweise ist also eine ganz andere als die des Lektors, der am Schreibtisch stur Zeichen für Zeichen mit der Originalvorlage vergleicht und sich so auch seine raison d’être erwirbt… Und da Liszt seine Komposition gewissermaßen in den Fingern hatte, spielte er offenbar über Details wie vergessene Vorzeichen oder falsch plazierte Bögen flugs hinweg. Zwei Beispiele aus Isoldens Liebestod:
Im ersten Fall notierte Liszt im Autograph einen zwar kurzen, aber für seine Hand eindeutigen Haltebogen es2–es2 in der Oberstimme der rechten Hand (siehe Pfeil).
F. Liszt, Isoldens Liebestod, Autograph, Takt 12, oberes System (Weimar, GSA 60/U32)
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar
Der Stecher platzierte den Bogen aber irrtümlich zur Mittelstimme, so dass nun das zweite es2 erneut angeschlagen werden müsste – ein hörbarer Unterschied:
F. Liszt, Isoldens Liebestod, revidierte Ausgabe 1875, Takt 12, oberes System
Ein weiterer „Verrutscher“ unterlief dem Stecher in Takt 59: das Kreuz vor dem dis1 ist hier merkwürdig überflüssig (dis ist ja schon durch die Tonart vorgegeben):
F. Liszt, Isoldens Liebestod, revidierte Ausgabe 1875, Takt 59, unteres System
Einige postume Ausgaben lassen das Vorzeichen daher gleich ganz weg, was aber am eigentlichen Problem vorbeigeht, wie das Autograph erhellt: das Kreuz gehört nämlich tatsächlich vor das h:
F. Liszt, Isoldens Liebestod, Autograph, Takt 59, unteres System (Weimar, GSA 60/U32)
Abbildung mit freundlicher Genehmigung des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar
Dass in beiden Fällen das Autograph auch wirklich recht hat, lässt sich nun mit Hilfe von Wagners Partitur leicht bestätigen; dort steht der Haltebogen aus dem ersten Beispiel in der Melodie der 1. Violine (colla parte mit dem Gesang), und das his ist eine Durchgangsnote zum cis1 in Oboe, Fagott und Trompete. Aber sehen Sie doch selbst nach: auf Seite 426 und 437 in der originalen Dirigerpartitur der Münchner Uraufführung von Tristan und Isolde, die in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird und dort gerade in einer sehenswerten Ausstellung auch live zu bewundern ist.