Wer über un­se­ren April­scherz zur auf­ge­räum­ten Stim­me bei Henle nicht nur herz­lich ge­lacht, son­dern sich viel­leicht auch selbst schon ein­mal an einer Re­ger-So­na­te ver­sucht hat, der weiß, dass es mit dem Auf­räu­men bei Max Reger – und so manch an­de­rem spät­ro­man­ti­schen Kom­po­nis­ten – ei­gent­lich eine durch­aus erns­te Sache ist. Die ver­schwen­de­ri­sche Viel­falt, mit der An­fang des 20. Jahr­hun­derts in den Par­ti­tu­ren Tempo, Dy­na­mik, Ar­ti­ku­la­ti­on und Aus­druck bis ins letz­te De­tail fi­xiert wur­den, be­gräbt die Musik manch­mal re­gel­recht unter den Zei­chen und ver­trägt sich kaum noch mit der Di­rek­ti­ve, dass eine so­ge­nann­te prak­ti­sche Ur­text-Aus­ga­be den No­ten­text für den Mu­si­ker ja auch ei­ni­ger­ma­ßen gut (und schnell!) les­bar prä­sen­tie­ren soll.

Nicht um­sonst wähl­te Max Reger in sei­nen Au­to­gra­phen meist eine zwei­te Farbe (rot statt schwarz) zur Be­zeich­nung die­ser Pa­ra­me­ter – was die Sache zwar schö­ner, aber nicht un­be­dingt auch leicht les­bar macht, wie die mal oben, mal unten no­tier­te Dy­na­mik oder die in das Sys­tem ge­quetsch­ten es­pres­si­vo-An­ga­ben auf der ers­ten Seite sei­nes Kla­ri­net­ten­quin­tetts zei­gen.

Mün­chen, Baye­ri­sche Staats­bi­blio­thek, Mus. ms. 6574. Bd. 1

Noch schwie­ri­ger wird es, wenn in der Hand­schrift stark kor­ri­giert wurde und darin ganze Ab­schnit­te aus­ge­stri­chen, ver­schie­de­ne Takt­hälf­ten neu zu­sam­men­ge­setzt und man­che Rhyth­men mehr­fach mo­di­fi­ziert sind wie in Re­gers Kla­ri­net­ten­so­na­te op. 107. Hier muss­te der Kom­po­nist sich nach ei­ge­ner Aus­sa­ge selbst erst ein­mal auf „Schreib­feh­ler­su­che“ be­ge­ben, bevor er sein Au­to­graph im April 1909 an den Ver­lag Bote & Bock in Ber­lin über­sen­den konn­te. Dort wurde diese alles an­de­re als über­sicht­li­che Stich­vor­la­ge dann nach bes­tem Wis­sen und Ge­wis­sen ein­ge­teilt und in den Druck über­tra­gen, wobei al­lein die rich­ti­ge Le­sung der Vor­zei­chen und an­ge­mes­se­ne An­ord­nung der An­ga­ben zu Tempo und Dy­na­mik den No­ten­s­te­cher an Stel­len wie die­ser (1. Satz Takt 15–18) durch­aus ge­for­dert haben durf­ten:

Au­to­graph, Aus­schnitt S. 2 (Ori­gi­nal far­big), Win­ter­thu­rer Bi­blio­the­ken, Son­der­samm­lun­gen, Rychen­berg-Stif­tung Dep RS 50/4

Be­son­ders die für die Spät­ro­man­tik so ty­pi­sche Aus­wei­tung der Har­mo­nik in Kom­bi­na­ti­on mit Re­gers Vor­lie­be für be­stän­di­gen Wech­sel zwi­schen duo­li­schen und trio­li­schen Fi­gu­ren im 6/4-Takt er­schwert die Les­bar­keit auch im Druck noch sehr: Kaum ein Ton ohne Vor­zei­chen (wobei Reger dann auch noch zwi­schen not­wen­di­gen Ak­zi­den­zi­en und ge­klam­mer­ten „War­nern“ dif­fe­ren­ziert), so dass man sich un­ver­se­hens in der 12-Ton-Mu­sik zu be­fin­den meint; kaum eine rhyth­mi­sche Figur ohne Hin­weis, ob trio­lisch oder duo­lisch zu spie­len; kaum eine Tem­po- oder Dy­na­mik-An­ga­be, die nicht noch durch einen (wie­der­um oft ge­klam­mer­ten) Zu­satz mo­di­fi­ziert wäre.

Erst­aus­ga­be, Aus­schnitt S. 2

So kommt es, dass selbst bei einer ein­fa­chen Quel­len­la­ge wie in die­ser So­na­te, mit einer vom Kom­po­nis­ten ver­ant­wor­te­ten Erst­aus­ga­be als Haupt­quel­le und der bei frag­li­chen Stel­len her­an­zu­zie­hen­den au­to­gra­phen Stich­vor­la­ge, für den Her­aus­ge­ber einer mo­der­nen Ur­text-Aus­ga­be noch ziem­lich viel zu tun ist. Es gilt nicht nur, die in die­sem Zei­chen­wust über­se­he­nen Feh­ler der Erst­aus­ga­be zu kor­ri­gie­ren, son­dern man muss auch ent­schei­den, wel­che As­pek­te der Vor­la­ge zu über­neh­men und wel­che nach den Re­geln des mo­der­nen No­ten­sat­zes sinn­voll zu mo­di­fi­zie­ren sind. Denn auch eine Ur­text-Aus­ga­be bil­det die Quel­le ja kei­nes­falls exakt ab, son­dern nor­miert den No­ten­text und säu­bert ihn von über­flüs­si­gen oder ver­wir­ren­den Zei­chen.

Dass dies sehr be­hut­sam und wohl­über­legt zu tun (und in den Be­mer­kun­gen zu er­klä­ren) ist, ver­steht sich von selbst. Wie viele De­tails dabei zu be­den­ken sind, kann man an der Stich­vor­la­ge von Mi­cha­el Kube sehen, der Opus 107 für uns in einer Samm­lung der Re­ger­schen So­na­ten und Stü­cke für Kla­ri­net­te und Kla­vier her­aus­ge­ge­ben hat (HN 909, So­na­te op. 107 auch ein­zeln in Re­gers ei­ge­ner Ein­rich­tung für Vio­li­ne, HN 1097, oder Viola, HN 1099). Die di­ver­sen Ein­tra­gun­gen in Rot, Grün, Blau sowie die Blei­stift­fra­gen am un­te­ren Rand be­zeu­gen den in­ten­si­ven Aus­tausch zwi­schen Her­aus­ge­ber und Lek­to­rin bei der Ent­schei­dung die­ser Fra­gen – oft­mals be­rei­chert durch Hin­wei­se un­se­res No­ten­set­zers Mi­cha­el No­wot­ny.

Stich­vor­la­ge zur Ur­text-Aus­ga­be HN 909, S. 4

Wäh­rend grund­le­gen­de Ent­schei­dun­gen wie der Ver­zicht auf Re­gers Klam­mern bei War­nern und nach­ge­stell­ten Aus­drucks­an­ga­ben schon im Vor­feld ana­log zu an­de­ren Re­ger-Aus­ga­ben bei Henle ge­trof­fen wur­den, muss­ten De­tail­fra­gen zu Vor­zei­chen (Takt 13), Trio­len- und Duo­lenzif­fern(Takte 14, 15) oder die an­ge­mes­se­ne Po­si­ti­on der Aus­drucks­an­ga­ben (Takt 15) mit­un­ter erst im „Blei­stift-Dia­log“ zwi­schen Her­aus­ge­ber und Lek­to­rin ge­klärt wer­den. Auch die Nor­mie­rung der Pau­sen­set­zung im Kla­vier­satz bei über beide Sys­te­me ge­hen­den Fi­gu­ren – be­son­ders ir­ri­tie­rend in Takt 15 der Erst­aus­ga­be (und dort wohl auf die nach­träg­li­che Zu­sam­men­zie­hung die­ses Tak­tes im Au­to­graph zu­rück­zu­füh­ren) – oder die Kor­rek­tur der ver­wir­ren­den Trio­lenzif­fer 3 (statt 6) in Takt 15, 16 war nötig, bevor wir mit dem No­ten­bild zu­frie­den waren.

Reger selbst cha­rak­te­ri­sier­te diese späte So­na­te wie­der­holt als „ein gar lich­tes, freund­li­ches“ oder auch „un­ge­mein kla­res Werk“ – mit un­se­rer „auf­ge­räum­ten“ Ur­text-Aus­ga­be hof­fen wir, dies auch für den In­ter­pre­ten er­fahr­bar zu ma­chen.

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