HN 555In die­sen Tagen kommt unser neu­es­tes Ur­text-Pro­dukt frisch aus der Dru­cke­rei: eine Aus­ga­be der So­na­te a-moll für Flöte solo von Carl Phil­ipp Ema­nu­el Bach (HN 555). Von den prak­ti­schen Be­son­der­hei­ten die­ser Aus­ga­be soll an die­ser Stel­le nicht aus­führ­lich die Rede sein (Klapp­ta­fel zum blät­ter­freund­li­chen Mu­si­zie­ren; voll­stän­di­ge Re­pro­duk­ti­on der Erst­aus­ga­be für all die­je­ni­gen, die sich in die Quel­le die­ses zen­tra­len Flö­ten-Wer­kes ver­tie­fen und mög­li­cher­wei­se dar­aus spie­len wol­len; auf­füh­rungs­prak­ti­sche Be­mer­kun­gen vom Tra­ver­so-Spe­zia­lis­ten Karl Kai­ser, der die Edi­ti­on mit vie­len Hin­wei­sen be­glei­tet hat und auf den wich­ti­ge An­re­gun­gen zum fol­gen­den Text zu­rück­ge­hen). Nur um eine ein­zi­ge Note im 2. Satz soll es in den fol­gen­den Über­le­gun­gen gehen.

Die So­na­te ist al­lein durch eine Erst­aus­ga­be über­lie­fert, die 1762/63, also zu Leb­zei­ten des Kom­po­nis­ten, er­schien (eine spä­te­re Ab­schrift ist nicht re­le­vant, siehe Be­mer­kun­gen). Was bei an­de­ren Edi­tio­nen zu Schwie­rig­kei­ten füh­ren mag, ist im Fall der So­lo­so­na­te von CPE Bach un­pro­ble­ma­tisch: Die ein­zi­ge Quel­le zu die­sem Werk scheint ab­so­lut zu­ver­läs­sig zu sein.

So deu­tet auch in T. 103 des zwei­ten Sat­zes zu­nächst nichts auf eine mög­li­che Un­klar­heit hin:
T 103 NB 3

Die Vor­schlags­no­te – um sie wird es gehen – ist durch ein Vor­zei­chen ein­deu­tig als b1 aus­ge­wie­sen. Spielt man die Pas­sa­ge, stellt sich je­doch un­will­kür­lich ein Un­be­ha­gen ein. Ist wirk­lich b1 ge­meint? In einem zwei­ten An­lauf mag man es mit h1 pro­bie­ren, aber auch damit scheint etwas nicht zu stim­men. Gibt es Par­al­lel­stel­len, wel­che die Stel­le aus einem an­de­ren Blick­win­kel be­leuch­ten kön­nen?

Das Vor­schlags-Mo­tiv tritt gleich zu Be­ginn des 2. Sat­zes in T. 3 und 5 zum ers­ten Mal auf. In bei­den Fäl­len ist nichts Un­ge­wöhn­li­ches zu ent­de­cken. Den­noch schei­nen die bei­den Mo­ti­ve eine ge­wis­se Span­nung zu er­zeu­gen. Wie kann aber in einer un­be­glei­te­ten So­lo­so­na­te so etwas wie har­mo­ni­sche Span­nung ent­ste­hen, wo doch aus­ge­rech­net die har­mo­ni­sche Grun­die­rung fehlt?

Nun, die Be­glei­tung fehlt nur schein­bar. Der Kom­po­nist bie­tet uns zwar nur eine So­lo­stim­me; dar­aus darf man aber nicht schlie­ßen, diese be­fin­de sich im har­mo­nisch luft­lee­ren Raum. Im Ge­ne­ral­bass­zeit­al­ter wurde auch eine un­be­glei­te­te So­lo­so­na­te auf dem Hin­ter­grund einer har­mo­ni­schen Ent­wick­lung, eines Basso con­ti­nuo, er­fun­den. Für die er­wähn­ten Takte 3–5 lässt sich aus dem Ton­vor­rat der Me­lo­die fol­gen­de har­mo­ni­sche Grun­die­rung er­schlie­ßen:

NB 1

Die ein­zel­nen Noten der So­lo­stim­me ste­hen zu die­sem vir­tu­el­len Basso con­ti­nuo je­weils in einem un­ter­schied­li­chen Span­nungs­ver­hält­nis. Der Vor­schlag e2 in T. 3 har­mo­niert mit dem Bass per­fekt, er bil­det mit dem an­zu­neh­men­den e eine Ok­ta­ve. Die fol­gen­de Haupt­no­te d2 hin­ge­gen ist eine Sep­ti­me zum Bass. Diese „Rei­bung“ spürt man, auch wenn man die Be­glei­tung nicht akus­tisch wahr­nimmt. In T. 5 prä­sen­tiert sich die Si­tua­ti­on genau um­ge­kehrt. Zwar bil­det auch hier die Haupt­no­te f2 eine Dis­so­nanz zum Bass (eine None), sie wirkt je­doch un­gleich „kon­so­nan­ter“ als die Vor­schlags­no­te g2. Der vir­tu­el­le Basso con­ti­nuo steu­ert als Terz die Note gis bei, zu der das g2 der Flöte ma­xi­mal dis­so­nant ist.

Die Kon­so­nanz- und Dis­so­nanz-Span­nun­gen haben üb­ri­gens di­rek­te Aus­wir­kun­gen auf die Aus­füh­rung der Vor­schlä­ge: Der kon­so­nan­te Vor­schlag in T. 3 soll­te kurz und un­be­tont, der dis­so­nan­te in T. 5 hin­ge­gen aus­drucks­voll, d. h. lang und be­tont ge­spielt wer­den.

In der Re­pri­se wie­der­holt Bach diese sich in zwei Stu­fen stei­gern­de Pas­sa­ge wört­lich (T. 97 und 99). Hier geht er je­doch noch einen Schritt wei­ter: In T. 101 und 103 wie­der­holt er das Motiv er­neut, nun aber in einem neuen har­mo­ni­schem Um­feld:

NB 2

In T. 101 dis­so­nie­ren Vor­schlag und Haupt­no­te stark mit dem vir­tu­el­len Basso con­ti­nuo (c2 zur Terz cis, b1 zum Grund­ton a), was eine wei­te­re Stei­ge­rung der Span­nung ge­gen­über T. 97 und 99 be­deu­tet. In T. 103, un­se­rem Pro­blem­takt, scheint die Si­tua­ti­on je­doch wie­der ähn­lich wie in T. 5 zu sein. b1 dis­so­niert stark mit der Terz h, a1 etwas we­ni­ger stark mit dem Grund­ton g. Bach scheint also die Span­nung nach T. 101 wie­der ein wenig ab­bau­en zu wol­len. Wo liegt nun das Pro­blem?

Die Vor­schlags­no­te b1 weist eine Be­son­der­heit auf. T. 103 wen­det sich in T. 104 in seine Ziel­ton­art, C-dur. Das b1 ist im Ton­vor­rat die­ser Ziel­ton­art nicht ent­hal­ten, was – zu­sätz­lich zu den be­schrie­be­nen Rei­bun­gen mit der vir­tu­el­len Har­mo­nik – den frem­den Klang die­ser Vor­schlags­no­te er­klärt. An den Par­al­lel­stel­len hin­ge­gen war die Vor­schlags­no­te je­weils Teil des Ton­vor­ra­tes der Ziel­ton­art im Fol­ge­takt. Bei der Edi­ti­on dräng­te sich daher die Frage auf, ob die Quel­le an die­ser Stel­le mög­li­cher­wei­se irrt. Mein­te Bach h1 statt b1? Hatte er eine „har­mo­nisch ent­spann­te“ Lö­sung (ähn­lich wie in T. 3) im Blick, bei wel­cher der Vor­schlag h1 mit dem vir­tu­el­len Basso con­ti­nuo har­mo­niert?

Mög­lich ist es. Es wäre denk­bar, dass Bach im ver­schol­le­nen Au­to­graph aus­drück­lich ein ♮ no­tier­te, das im No­ten­stich der Erst­aus­ga­be ver­se­hent­lich zu einem ♭-Vor­zei­chen um­ge­deu­tet wurde.

Den­noch: wir kom­men um das ♭-Vor­zei­chen im Erst­druck nicht herum. Hätte sich eine zwei­te Quel­le – idea­ler­wei­se ein Au­to­graph – er­hal­ten, könn­ten wir eine der bei­den Les­ar­ten dort be­stä­tigt fin­den. So, auf der Grund­la­ge einer ein­zi­gen Quel­le, schien uns die ein­zi­ge Lö­sung, die Fas­sung gemäß Erst­aus­ga­be (b1) in den Haupt­text zu stel­len und in einer Fuß­no­te auf das mög­li­che h1 hin­zu­wei­sen. Ob Bach die zah­me­re oder die über­ra­schen­de, span­nungs­rei­che­re fa­vo­ri­siert hätte – wir kön­nen es nicht mit letz­ter Si­cher­heit ent­schei­den.

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