Woraus musizieren Continuo-Spieler?
Diese Frage mag zunächst trivial erscheinen. Jeder Pianist hat heutzutage vermutlich schon einmal barocke Kammermusik aus einer Basso-Continuo-Stimme begleitet. Im G. Henle Verlag – und nicht nur bei uns – besteht diese Stimme im Wesentlichen aus einem System für die linke Hand. Es enthält die Bass-Stimme, zumeist mit Ziffern, die angeben, welche Akkorde jeweils in der rechten Hand zu greifen sind. Das System für die rechte Hand enthält im Kleinstich einen Vorschlag, wie die Harmonisierung auszuführen ist (siehe folgendes Beispiel, den Beginn von Bachs Triosonate BWV 1038).
Die Continuo-Stimme sieht jedoch in der Quelle (ein Autograph Bachs!) so aus:
Wie kommt der G. Henle Verlag, der sich dem Urtext-Gedanken und den musikalischen Quellen verschrieben hat, dazu, sich so weit von der Notation in der Quelle zu entfernen?
Das hängt in erster Linie mit der Musizierpraxis zusammen. Zu Bachs Zeit war es üblich, dass ein Continuo-Spieler an einem Tasteninstrument (oder auch an einem anderen Harmonie-Instrument wie etwa der Laute) aus einer einzeiligen Stimme spielte. Die Ziffern genügten, um dem Musiker anzuzeigen, welche Harmonien jeweils zur Bass-Linie zu greifen sind. Eine solche Stimme hatte zudem einen großen Vorteil: Da sie nicht in Partitur notiert war, musste der Musiker seltener blättern.
Diese Continuo-Improvisationskunst beherrschen heutzutage nur noch Spezialisten. Pianisten benötigen heute zumeist eine Hilfestellung, weshalb Ausgaben unserer Tage meistens einen Aussetzungs-Vorschlag mitliefern. Henle druckt diesen Vorschlag im Kleinstich, um deutlich zu machen, dass es sich um eine Zutat handelt, die nicht auf den Quellen basiert.
In jüngster Zeit – die historisch informierte Aufführungspraxis ist inzwischen etabliert – möchten immer mehr Musiker jedoch aus einer „richtigen“ Continuo-Stimme spielen, d. h. einer einzeiligen Stimme ohne Aussetzungsvorschlag, über den in einer Improvisation nur schwer hinwegzusehen ist. Wir haben daher beschlossen unserer jüngsten Bach-Ausgabe, der bereits erwähnten Urtextedition der Triosonate BWV 1038, zusätzlich eine Continuo-Stimme beizulegen, die – ganz puristisch – nur die Basslinie mit Ziffern enthält. Als Ausstattungs-Plus haben wir jedoch die Solostimmen im Kleinstich mit abgedruckt, was für das Continuo-Spiel eine große Hilfe ist.
Aus dieser Continuo-Partitur kann nun der Pianist/Cembalist musizieren – aber nicht nur er. Die Continuo-Gruppe besteht ja nicht nur aus einem Tasteninstrument, sondern wird in der Regel noch von einem Bass-Solo-Instrument verstärkt (in heutiger Zeit meist mit einem Violoncello besetzt). Sollte nun der Pianist lieber aus der ausgesetzten Partitur spielen, kann der Cellist die Continuo-Stimme zur Hand nehmen. Denn auch für diesen ist es aufschlussreich, die Partitur und die Ziffern zur Harmonisierung mitlesen zu können.
Was passiert aber, wenn beide, Cellist und Pianist/Cembalist, die Continuo-Stimme bevorzugen? Wir wären nicht Henle, wenn wir nicht auch für diesen Fall vorgesorgt hätten. Unsere Ausgabe enthält zusätzlich eine Basso-Stimme (ohne Ziffern und ohne Kleinstich-Solostimmen), aus der Cellisten musizieren können, wenn der Tasteninstrumentalist die Continuo-Partitur besetzt hält.
Dass alle Stimmen über exzellente Wendestellen verfügen (die Continuo-Partitur wurde gar in der Form eines praktischen Leporello produziert), ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
Unser neuer Bach kommt also in opulenter Ausstattung daher. Auch die Violinstimme bieten wir übrigens zweifach an: einerseits gemäß Quelle in Scordatur notiert, andererseits in Umschrift für jene Geiger, die ihr Instrument nicht umstimmen wollen. Diesen Luxus leisten wir uns, um den vielgestaltigen Bedürfnissen verschiedener Ensembles – von Laien bis zu Profis, von Hausmusik bis zum Konzert – so weit wie möglich entgegenzukommen.
Übrigens:
Vergleichbare Titel aus unserem Katalog, die noch nicht über die erwähnte Luxus-Ausstattung verfügen, rüsten wir im Nachdruck auf!
Ich halte es für eine sehr gute Idee, neben der (“normalen”) ausgesetzten Bassstimme, die man nur abzuspielen braucht, auch die bezifferte Bassstimme ohne Aussetzung vorzulegen. Vermutlich werden sie nur wenige nutzen, die Kunst des Generalbassspiels wird zwar noch in manchen Studienfächern gelehrt, aber in der Praxis außer von Spezialisten kaum verwendet. Aber manchmal reizt es einen doch, mal so zu musizieren wie damals und die Begleitstimmen zu improvisieren, so wie es eigentlich gedacht ist – die Ausführenden vollenden das Werk im Moment der Ausführung, und es wird jedes Mal etwas anders. Man muss sich ja in der Barockmusik ohnehin – und vielen fällt das immer noch schwer – davon lösen, “all das, aber nur das” zu spielen, was da steht. Musiker der damaligen Zeit wären wahrscheinlich belächelt und als Anfänger oder Nichtkönner betrachtet worden, wenn sie immer nur – und jedes Mal gleich – das gespielt hätten, was ihnen an Noten vorlag. Häufig – bei Bach vielleicht nicht so sehr – war die Komposition nur eine Art Skizze, wo dann erwartet wurde, dass die Interpreten etwas “daraus machten”, und bitteschön nicht dasselbe, was andere auch schon daraus gemacht haben…
Von daher finde ich die Maßnahme, auch eine nicht ausgesetzte Continuostimme anzubieten, sehr gut und nachahmenswert.