Wor­aus mu­si­zie­ren Con­ti­nuo-Spie­ler?

Diese Frage mag zu­nächst tri­vi­al er­schei­nen. Jeder Pia­nist hat heut­zu­ta­ge ver­mut­lich schon ein­mal ba­ro­cke Kam­mer­mu­sik aus einer Bas­so-Con­ti­nuo-Stim­me be­glei­tet. Im G. Henle Ver­lag – und nicht nur bei uns – be­steht diese Stim­me im We­sent­li­chen aus einem Sys­tem für die linke Hand. Es ent­hält die Bass-Stim­me, zu­meist mit Zif­fern, die an­ge­ben, wel­che Ak­kor­de je­weils in der rech­ten Hand zu grei­fen sind. Das Sys­tem für die rech­te Hand ent­hält im Klein­stich einen Vor­schlag, wie die Har­mo­ni­sie­rung aus­zu­füh­ren ist (siehe fol­gen­des Bei­spiel, den Be­ginn von Bachs Trio­so­na­te BWV 1038).

Die Con­ti­nuo-Stim­me sieht je­doch in der Quel­le (ein Au­to­graph Bachs!) so aus:

Wie kommt der G. Henle Ver­lag, der sich dem Ur­text-Ge­dan­ken und den mu­si­ka­li­schen Quel­len ver­schrie­ben hat, dazu, sich so weit von der No­ta­ti­on in der Quel­le zu ent­fer­nen?

Das hängt in ers­ter Linie mit der Mu­si­zier­pra­xis zu­sam­men. Zu Bachs Zeit war es üb­lich, dass ein Con­ti­nuo-Spie­ler an einem Tas­ten­in­stru­ment (oder auch an einem an­de­ren Har­mo­nie-In­stru­ment wie etwa der Laute) aus einer ein­zei­li­gen Stim­me spiel­te. Die Zif­fern ge­nüg­ten, um dem Mu­si­ker an­zu­zei­gen, wel­che Har­mo­ni­en je­weils zur Bass-Li­nie zu grei­fen sind. Eine sol­che Stim­me hatte zudem einen gro­ßen Vor­teil: Da sie nicht in Par­ti­tur no­tiert war, muss­te der Mu­si­ker sel­te­ner blät­tern.

T. E. Rosenthal (1848–1917): J. S. Bach im Kreise seiner Familie, 1870 (Quelle: Wikimedia.org, Lizenz: PD).

T. E. Ro­sen­thal (1848–1917): J. S. Bach im Krei­se sei­ner Fa­mi­lie, 1870 (Quel­le: Wi­ki­me­dia.org, Li­zenz: PD)

Diese Con­ti­nuo-Im­pro­vi­sa­ti­ons­kunst be­herr­schen heut­zu­ta­ge nur noch Spe­zia­lis­ten. Pia­nis­ten be­nö­ti­gen heute zu­meist eine Hil­fe­stel­lung, wes­halb Aus­ga­ben un­se­rer Tage meis­tens einen Aus­set­zungs-Vor­schlag mit­lie­fern. Henle druckt die­sen Vor­schlag im Klein­stich, um deut­lich zu ma­chen, dass es sich um eine Zutat han­delt, die nicht auf den Quel­len ba­siert.

In jüngs­ter Zeit – die his­to­risch in­for­mier­te Auf­füh­rungs­pra­xis ist in­zwi­schen eta­bliert – möch­ten immer mehr Mu­si­ker je­doch aus einer „rich­ti­gen“ Con­ti­nuo-Stim­me spie­len, d. h. einer ein­zei­li­gen Stim­me ohne Aus­set­zungs­vor­schlag, über den in einer Im­pro­vi­sa­ti­on nur schwer hin­weg­zu­se­hen ist. Wir haben daher be­schlos­sen un­se­rer jüngs­ten Bach-Aus­ga­be, der be­reits er­wähn­ten Ur­text­edi­ti­on der Trio­so­na­te BWV 1038, zu­sätz­lich eine Con­ti­nuo-Stim­me bei­zu­le­gen, die – ganz pu­ris­tisch – nur die Bass­li­nie mit Zif­fern ent­hält. Als Aus­stat­tungs-Plus haben wir je­doch die So­lo­stim­men im Klein­stich mit ab­ge­druckt, was für das Con­ti­nuo-Spiel eine große Hilfe ist.

Aus die­ser Con­ti­nuo-Par­ti­tur kann nun der Pia­nist/Cem­ba­list mu­si­zie­ren – aber nicht nur er. Die Con­ti­nuo-Grup­pe be­steht ja nicht nur aus einem Tas­ten­in­stru­ment, son­dern wird in der Regel noch von einem Bass-So­lo-In­stru­ment ver­stärkt (in heu­ti­ger Zeit meist mit einem Vio­lon­cel­lo be­setzt). Soll­te nun der Pia­nist lie­ber aus der aus­ge­setz­ten Par­ti­tur spie­len, kann der Cel­list die Con­ti­nuo-Stim­me zur Hand neh­men. Denn auch für die­sen ist es auf­schluss­reich, die Par­ti­tur und die Zif­fern zur Har­mo­ni­sie­rung mit­le­sen zu kön­nen.

Was pas­siert aber, wenn beide, Cel­list und Pia­nist/Cem­ba­list, die Con­ti­nuo-Stim­me be­vor­zu­gen? Wir wären nicht Henle, wenn wir nicht auch für die­sen Fall vor­ge­sorgt hät­ten. Un­se­re Aus­ga­be ent­hält zu­sätz­lich eine Bas­so-Stim­me (ohne Zif­fern und ohne Klein­stich-So­lo­stim­men), aus der Cel­lis­ten mu­si­zie­ren kön­nen, wenn der Tas­ten­in­stru­men­ta­list die Con­ti­nuo-Par­ti­tur be­setzt hält.

Dass alle Stim­men über ex­zel­len­te Wen­de­stel­len ver­fü­gen (die Con­ti­nuo-Par­ti­tur wurde gar in der Form eines prak­ti­schen Le­po­rel­lo pro­du­ziert), ist für uns eine Selbst­ver­ständ­lich­keit.

Unser neuer Bach kommt also in opu­len­ter Aus­stat­tung daher. Auch die Violin­stim­me bie­ten wir üb­ri­gens zwei­fach an: ei­ner­seits gemäß Quel­le in Scor­da­tur no­tiert, an­de­rer­seits in Um­schrift für jene Gei­ger, die ihr In­stru­ment nicht um­stim­men wol­len. Die­sen Luxus leis­ten wir uns, um den viel­ge­stal­ti­gen Be­dürf­nis­sen ver­schie­de­ner En­sem­bles – von Laien bis zu Pro­fis, von Haus­mu­sik bis zum Kon­zert – so weit wie mög­lich ent­ge­gen­zu­kom­men.

Üb­ri­gens:

Ver­gleich­ba­re Titel aus un­se­rem Ka­ta­log, die noch nicht über die er­wähn­te Lu­xus-Aus­stat­tung ver­fü­gen, rüs­ten wir im Nach­druck auf!

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Eine Antwort auf »Luxus für die Continuo-Gruppe«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Ich halte es für eine sehr gute Idee, neben der (“normalen”) ausgesetzten Bassstimme, die man nur abzuspielen braucht, auch die bezifferte Bassstimme ohne Aussetzung vorzulegen. Vermutlich werden sie nur wenige nutzen, die Kunst des Generalbassspiels wird zwar noch in manchen Studienfächern gelehrt, aber in der Praxis außer von Spezialisten kaum verwendet. Aber manchmal reizt es einen doch, mal so zu musizieren wie damals und die Begleitstimmen zu improvisieren, so wie es eigentlich gedacht ist – die Ausführenden vollenden das Werk im Moment der Ausführung, und es wird jedes Mal etwas anders. Man muss sich ja in der Barockmusik ohnehin – und vielen fällt das immer noch schwer – davon lösen, “all das, aber nur das” zu spielen, was da steht. Musiker der damaligen Zeit wären wahrscheinlich belächelt und als Anfänger oder Nichtkönner betrachtet worden, wenn sie immer nur – und jedes Mal gleich – das gespielt hätten, was ihnen an Noten vorlag. Häufig – bei Bach vielleicht nicht so sehr – war die Komposition nur eine Art Skizze, wo dann erwartet wurde, dass die Interpreten etwas “daraus machten”, und bitteschön nicht dasselbe, was andere auch schon daraus gemacht haben…
    Von daher finde ich die Maßnahme, auch eine nicht ausgesetzte Continuostimme anzubieten, sehr gut und nachahmenswert.

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