Der Grund­ge­dan­ke hin­ter einer Ur­text-Aus­ga­be ist be­kannt­lich, eine Kom­po­si­ti­on so her­aus­zu­ge­ben, dass sie dem Wil­len des Au­tors ent­spricht, in der Regel in der ab­schlie­ßen­den „Fas­sung letz­ter Hand“. Doch wie geht man damit um, wenn man es mit zwei Wil­len und einem letz­ten Händepaar zu tun hat…?

Mit die­ser Frage sind wir seit letz­tem Jahr in ver­stärk­tem Maße kon­fron­tiert, denn 2013 sind im G. Henle Ver­lag zum ers­ten Mal auch Be­ar­bei­tun­gen ori­gi­na­ler Werke er­schie­nen. Dies al­ler­dings nur unter der stren­gen Maß­ga­be, dass auch die Be­ar­bei­ter zu den „gro­ßen Meis­tern“ zäh­len und die Be­ar­bei­tun­gen wie­der­um selbst Werke von hohem künst­le­ri­schem Rang dar­stel­len. In un­se­ren Ka­ta­log fan­den bis­her drei sehr an­spruchs­vol­le Kla­vier­tran­skrip­tio­nen Ein­lass: zwei Liszt-Be­ar­bei­tun­gen von Kom­po­si­tio­nen Ri­chard Wag­ners (Isol­dens Lie­bes­tod HN 558 und das Spin­ner­lied HN 585) sowie die be­rühm­te Bach’sche Cha­conne für Vio­li­ne solo in Fer­ruc­cio Bu­so­nis nicht min­der be­rühm­ter Kla­vier­fas­sung (HN 557).

Da diese Be­ar­bei­tun­gen dem Ori­gi­nal prin­zi­pi­ell genau fol­gen (es han­delt sich ja nicht um freie Pa­ra­phra­sen, Fan­ta­si­en oder Va­ria­tio­nen über ein Thema), fal­len hier ein­zel­ne Ab­wei­chun­gen von der Vor­la­ge be­son­ders ins Ge­wicht und be­dür­fen einer ge­nau­en Prü­fung: Han­delt es sich um ab­sicht­li­che ei­ge­ne „Zu­ta­ten“ des Be­ar­bei­ters? Oder doch nur um bloße Ver­se­hen, die der Her­aus­ge­ber rich­tig­stel­len muss? Zwei Bei­spie­le sol­len dies ver­deut­li­chen:

Fer­ruc­cio Bu­so­ni bet­te­te die ori­gi­na­le Violin­stim­me von J. S. Bachs Cha­conne (aus der Par­ti­ta für Vio­li­ne d-moll BWV 1004) grund­sätz­lich un­ver­än­dert in seine Kla­vier­be­ar­bei­tung ein, wenn­gleich er be­stimm­te in­stru­men­ten­spe­zi­fi­sche Fi­gu­ren wie Ar­peg­gio-Pas­sa­gen dem Kla­vier gemäß etwas frei­er ad­ap­tier­te. Am Takt­über­gang 172/173 fin­det sich al­ler­dings eine auf­fäl­li­ge Ab­wei­chung in der Me­lo­die­li­nie (vgl. die rot mar­kier­ten Noten in den Ab­bil­dun­gen): an­stel­le des ori­gi­na­len e–a steht bei Bu­so­ni d–cis:


J. S. Bach, Par­ti­ta BWV 1004, Cha­conne, Au­to­graph


F. Bu­so­ni, Kla­vier­tran­skrip­ti­on der Cha­conne, Takt 172/173

Bu­so­ni kann­te zwar das Au­to­graph zu die­sem Zeit­punkt noch nicht, doch auch alle Druck­aus­ga­ben der Bach’schen Cha­conne, die ihm als Vor­la­ge die­nen konn­ten, haben e–a. Bei ge­naue­rer Be­trach­tung er­scheint es un­plau­si­bel, hier ein Ver­se­hen Bu­so­nis – ein aus­ge­zeich­ne­ter Ken­ner der Werke Bachs – an­zu­neh­men. Denn es sind gleich zwei Noten ab­wei­chend, und dies in durch­aus sinn­vol­ler Weise, die eine kom­po­si­to­ri­sche Ab­sicht Bu­so­nis na­he­legt: Wäh­rend Bach mit dem ka­den­zie­ren­den Quint­fall zum Grund­ton des A-dur-Ak­kords eine har­mo­ni­sche Be­fes­ti­gung der un­be­glei­te­ten So­lo­stim­me vor­nimmt, stellt Bu­so­nis Stimm­füh­rung eine so­ge­nann­te Te­n­or­klau­sel zur Durterz cis dar. Da in sei­ner Kla­vier­fas­sung der Ak­kord-Grund­ton a be­reits mas­siv im Bass er­klingt, war für Bu­so­ni die klang­li­che Aus­ge­wo­gen­heit si­cher wich­ti­ger als über­trie­be­ne Werk­treue. Pro­bie­ren Sie es ein­mal am Kla­vier aus – das ori­gi­na­le e–a würde in die­sem Kon­text merk­wür­dig „hohl“ klin­gen.

We­sent­lich um­strit­te­ner und von Pia­nis­ten bis heute dis­ku­tiert ist da­ge­gen eine auf­fäl­li­ge Di­ver­genz in Isol­dens Lie­bes­tod, d.h. Franz Liszts Kla­vier­tran­skrip­ti­on der Schluss­sze­ne aus Ri­chard Wag­ners Tris­tan und Isol­de. Stein des An­sto­ßes ist die 2. Bass­no­te in Takt 78, die Liszt als dis no­tiert, wo­hin­ge­gen in Wag­ners Par­ti­tur bei die­ser Ak­kord­bre­chung in der Har­fen­stim­me ein fis steht (siehe No­ten­bei­spie­le).

F. Liszt, Isol­dens Lie­bes­tod, T.78


R. Wag­ner, Tris­tan und Isol­de, Schluss­sze­ne

Im Ge­gen­satz zum oben er­wähn­ten Fall bei Bu­so­ni, wo die klang­li­che Ver­bes­se­rung of­fen­sicht­lich ist, scheint das dis hier eine un­be­frie­di­gen­de Va­ri­an­te: zwi­schen 2. und 3. Note ent­steht ein gro­ßer Ok­tav­sprung, zudem wird so die Terz des H-dur-Ak­kords wie­der­holt, was nach tra­di­tio­nel­len Satz­re­geln un­üb­lich ist. Doch so sehr es in­tui­tiv rei­zen würde, die­sen ver­meint­li­chen „Terz­ver­schrei­ber“ in ein fis zu ver­bes­sern – die phi­lo­lo­gi­schen Be­fun­de spre­chen ein­deu­tig da­ge­gen. Das Au­to­graph ist lei­der nur un­voll­stän­dig er­hal­ten und kann für die­sen Takt nicht wei­ter­hel­fen, aber alle an­de­ren Quel­len über­lie­fern ein­hel­lig das dis.

In­ter­es­san­ter­wei­se stieß der Ver­lag Breit­kopf&Här­tel be­reits wäh­rend der Kor­rek­tur­pha­se der Erst­aus­ga­be 1875 auf diese Dis­kre­panz: der Ar­ran­geur und Lek­tor Al­bert Heintz (der von Breit­kopf mit einer Be­ar­bei­tung für 2 Kla­vie­re zu 8 Hän­den be­auf­tragt wor­den war) no­tier­te in Liszts Re­vi­si­ons­ex­em­plar am Rand: „? Laut Kla­vier­aus­zug von H. v. Bülow muß dies fis hei­ßen. Die Par­ti­tur wird’s aus­wei­sen“. Es ist si­cher an­zu­neh­men, dass der Ver­lag vor der Pu­bli­ka­ti­on, die erst ein gutes hal­bes Jahr spä­ter er­folg­te, diese Frage mit Liszt klär­te und das dis be­wusst ste­hen blieb.

Auch der Pia­nist und Liszt-Schü­ler Au­gust Stra­dal, der Isol­dens Lie­bes­tod im Rah­men der ers­ten Liszt-Ge­samt­aus­ga­be her­aus­gab, hat diese Note mit guten Grün­den ver­tei­digt (siehe Ab­bil­dung). Stra­dal gibt hier im Re­vi­si­ons­be­richt die wich­ti­ge In­for­ma­ti­on, dass Liszt auch beim Un­ter­richt nie das frag­li­che dis ver­bes­sert habe, und ver­weist auf die häu­fi­gen klei­nen Ab­wei­chun­gen, die Liszt sich in sei­nen Tran­skrip­tio­nen ge­stat­te­te. Und noch ein wei­te­res gutes Ar­gu­ment führt Stra­dal an: Liszts ori­gi­na­len Fin­gersatz 3–1–2, der ideal zum dis passt.

A. Stra­dal, Vor­wort zu Franz Liszts Mu­si­ka­li­sche Werke, III/1: Be­ar­bei­tun­gen und Tran­skrip­tio­nen für Kla­vier von Wer­ken Rich. Wag­ners, Leip­zig 1911, S. V.

In bei­den dar­ge­stell­ten Fäl­len ent­schie­den die Her­aus­ge­ber also zu­guns­ten des „zwei­ten Her­ren“, d.h. des Kom­po­nis­ten der Be­ar­bei­tung, nicht des Ori­gi­nals. Aber si­cher wer­den wir auch auf Fälle sto­ßen, wo die Waag­scha­le zur an­de­ren Seite hin aus­schla­gen wird. Ken­nen Sie ver­gleich­ba­re Stel­len in der Li­te­ra­tur? Oder haben Sie viel­leicht Wün­sche, wel­che Be­ar­bei­tun­gen wir in Zu­kunft her­aus­ge­ben soll­ten? Dann schrei­ben Sie uns doch einen Kom­men­tar!

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2 Antworten auf »„Diener zweier Herren“ – wenn der Herausgeber zwischen zwei Komponisten steht«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Treiben wir es auf die Spitze. Was tut ein Herausgeber, wenn der Komponist selbst einen Fehler macht? Auch Komponisten sind Menschen, Menschen machen Fehler und warum sollte die Sparte Komposition davon verschont bleiben?
    Zwei Beispiele. Zum einen: die von J.S.Bach selbst geschriebenen Einzelstimmen zum Doppelkonzert BWV 1043 weisen im langsamen Satz einen Fehler auf, es kann aus satztechnischen Gründen einfach nicht so sein. Vielleicht war auch Bach mal kurzzeitig nicht ganz konzentriert bei der Sache, zumal die Stimmführung als solche in der Stimme so sein könnte (aber eben nicht im Zusammenhang mit den anderen Stimmen).
    Anderes Beispiel: Bruckners 9. Symphonie, 3. Satz, T. 206, 3. Viertel, bricht mit einem seltsamen Akkord ab, der von manchen Kommentatoren als Vorläufer zu A. Webern und A. Berg bezeichnet wird. Ich habe von durchaus kompetenter Seite allerdings auch schon die These gehört, dass der Akkord unlogisch sei. Bruckner habe da einfach ein Vorzeichen vergessen (wohl ein Auflösungszeichen im 4. Horn). Das klingt unglaubwürdig, weil man weiß, dass Bruckner gerade in puncto Vorzeichen immer sehr penibel gewesen ist und eher ein Vorzeichen zu viel als zu wenig notiert hat. Aber vielleicht hat er hier – einmal in seinem Leben – einen Fehler gemacht. Die Symphonie ist unvollendet, wurde zu seinen Lebzeiten deshalb nicht aufgeführt oder gedruckt, deshalb ist der Fehler Bruckner selbst nicht aufgefallen und spätere Generationen nehmen den Autograph (zu Recht) als letzten Willen …
    Wie will (und kann) man so etwas letztlich beurteilen?

  2. Martin sagt:

    Sehr geehrter Henle-Blog,

    gerne nehme ich Ihre Anregung zum Anlass eines Vorschlags für weitere Bearbeitungen. Besonders gerne gehört habe ich immer die “2 Stücke aus Tannhäuser und Lohengrin”, davon insbesondere “Elsas Brautzug zum Münster”.
    Ich empfand Liszts Bearbeitungen oder Paraphrasen immer als durchaus eigenständige Werke, deren pianistische Qualität sie vom Status eines “besseren Klavierauszuges” sicher abhebt.
    Vielleicht wird man zu Wagners 150. Todestag eine Gesamtausgabe der Liszt´schen Wagnerbearbeitungen und Paraphrasen finden (im bewährten blauen Urtextformat..)

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