Auf­trä­ge oder Wid­mun­gen zu Wer­ken lie­ßen sich Kom­po­nis­ten ent­loh­nen, meist mit Geld oder Wert­sa­chen – man denke an die im 18. Jahr­hun­dert be­lieb­ten Ta­ba­tie­ren –, ge­le­gent­lich auch mit An­stel­lun­gen oder Jah­res­pen­sio­nen. Da­ge­gen dürf­te die Nie­der­schrift eines Mu­sik­stü­ckes als Ge­gen­leis­tung für die Zu­be­rei­tung einer Mahl­zeit doch sehr un­ge­wöhn­lich sein. Aber die De­vi­se „Leib­ge­richt gegen Leib­mu­sik“ trifft tat­säch­lich für die Ent­ste­hung von Men­dels­sohns Kon­zert­stück f-moll op. 113 (MWV Q 23) für Kla­ri­net­te, Bas­sett­horn und Kla­vier zu.

Als die da­mals am Mün­che­ner Hof tä­ti­gen Kla­ri­net­tis­ten Hein­rich Jo­seph Ba­er­mann und des­sen Sohn Carl, der auch als Bas­sett­hor­nist auf­trat, Ende 1832 bei Men­dels­sohn in Ber­lin ein­kehr­ten, kam es zu einer ku­rio­sen Ab­ma­chung: Sie ver­spra­chen dem be­freun­de­ten Kom­po­nis­ten eine üp­pi­ge Por­ti­on der ge­lieb­ten Dampf­nu­deln und Rahmstru­del – baye­risch-ös­ter­rei­chi­schen Spe­zia­li­tä­ten, die der Kom­po­nist bei einem Be­such in Mün­chen ken­nen ge­lernt hatte, aber in Ber­lin nicht be­kom­men konn­te –, wenn die­ser ihnen ein Stück schrie­be, das sie für ihre Tour­ne­en ein­set­zen könn­ten.

Rahmstru­del

Dampf­nu­del

 

 

 

 

 

 

In sei­nen „Er­in­ne­run­gen eines alten Mu­si­kan­ten“ (1882) be­schrieb Carl Ba­er­mann die Ge­scheh­nis­se des 30. De­zem­ber 1832 wie folgt:

„Als ich mich zur be­stimm­ten Zeit (9 Uhr früh) bei ihm ein­fand, setz­te er [= Men­dels­sohn] mir eine Kü­chen­hau­be auf, band mir eine Schür­ze um und steck­te mir einen Koch­löf­fel in das Band der Schür­ze. Die­sel­be Pro­ze­dur nahm er mit sich sel­ber vor, nur statt des Löf­fels steck­te er eine Feder hin­ter das Ohr, und führ­te mich, zum gro­ßen Er­göt­zen sei­nes Kü­chen­per­so­nals, in die Küche hinab. Er selbst kehr­te nun, wie er sagte, an sei­nen Kla­vier­herd zu­rück, wo­selbst er die Töne um­rüh­ren, kne­ten, sal­zen, pfef­fern, zu­ckern, eine pi­kan­te Sauce dazu ma­chen, und das ganze an einem höl­li­schen Feuer ko­chen woll­te. […] Den­sel­ben Abend pro­bir­ten wir das Duo, und nach klei­nen tech­nisch in­stru­men­ta­len Än­de­run­gen waren der Vater und ich noch ent­zück­ter über die rei­zen­de Kom­po­si­ti­on, als Men­dels­sohn über die Nudel und Stru­del, ob­wohl Letz­te­rer immer be­haup­te­te: meine Nu­del-Kom­po­si­ti­on sei viel geist­rei­cher als die sei­ni­ge. Es wurde daher gleich eine Wie­der­ho­lung der heu­ti­gen Scene ver­ab­re­det, wel­che auch ei­ni­ge Tage spä­ter mit glei­chem Er­fol­ge statt­fand.“

Die bei­den Ba­er­manns waren so be­geis­tert, dass sie Men­delsohn zu einem wei­te­ren Stück für diese Be­set­zung – das Kon­zert­stück d-moll op. 114 (MWV Q 24) – dräng­ten, das der Kom­po­nist auch wenig spä­ter, am 19. Ja­nu­ar 1833, ab­lie­fer­te. Die bei­den bei Kla­ri­net­tis­ten und Bas­sett­hor­nis­ten glei­cher­ma­ßen be­lieb­ten Kom­po­si­tio­nen wer­den in Kürze in einer Neu­aus­ga­be des Hen­le-Ver­lags (HN 1067), her­aus­ge­ge­ben von Frank Heidl­ber­ger, er­schei­nen.

Ti­tel­blatt des Au­to­graphs

So lus­tig die Ent­ste­hungs­ge­schich­te auch sein mag, fehlt es nicht an Schwie­rig­kei­ten für die Edi­ti­on. Dies gilt in be­son­de­rer Weise für das erste der bei­den Kon­zert­stü­cke, das wie ge­schil­dert an einem ein­zi­gen Tag ent­stan­den ist. Dem­entspre­chend ist das Ori­gi­nal­ma­nu­skript Men­dels­sohns sehr flüch­tig ge­schrie­ben und mit zahl­rei­chen Kor­rek­tu­ren ver­se­hen. Auf dem Ti­tel­blatt wird die Kom­po­si­ti­on von Men­dels­sohn als „Schlacht bei Prag“ und „Gro­ßes Duett für Dampf­nu­del oder Rahmstru­del“ be­zeich­net, wobei der Haupt­ti­tel mög­li­cher­wei­se auf die his­to­ri­sche Schlacht bei Prag im Mai 1757 zwi­schen Preu­ßen und Ös­ter­reich an­spielt – also preu­ßi­sche Kom­po­si­ti­on gegen (baye­risch-)ös­ter­rei­chi­sche Küche. Men­dels­sohns Humor macht aber auch nicht vor dem Namen der Wid­mungs­trä­ger halt: Das „Bär“ in „Ba­er­mann“ wird zu zahl­rei­chen Wort­spie­le­rei­en (wie „Bär­lin“ statt „Ber­lin“) ge­nutzt, die mit einer ei­gen­hän­di­gen Zeich­nung eines Bären ge­krönt wer­den.

Gleich in der ers­ten No­ten­zei­le des Au­to­graphs ver­steckt sich ein Pro­blem, das mög­li­cher­wei­se auf einen sim­plen Schreib­feh­ler zu­rück­geht. Die Ka­denz für das Bas­sett­horn, die in Takt 10 auf einem tie­fen c (klin­gend F) endet, be­wegt sich in der Grund­ton­art f-moll (no­tiert als c-moll), das von Men­delsohn als 2. Note in Takt 9 no­tier­te es (klin­gend As) er­gibt aber am Ende der Ka­denz die Folge as-es-c (klin­gend des-As-F), dem­nach also As-dur (klin­gend Des-dur) statt der zu er­war­ten­den Grund­ton­art.

Au­to­graph, T. 6-9

Der Ge­dan­ke liegt nahe, dass Men­dels­sohn in Takt 9 eine Hilfs­li­nie zu­viel zog und ei­gent­lich als 2. Note g (klin­gend c) no­tie­ren woll­te, womit sich die Folge as-g-c (klin­gend des-c-F) er­ge­ben würde. Dafür spricht, dass der da­mals be­tei­lig­te Bas­sett­hor­nist selbst von einem Ver­se­hen aus­ging, denn in der post­hu­men Aus­ga­be der bei­den Kon­zert­stü­cke (1869 bei J. André mit den Opus­zah­len 113 und 114 er­schie­nen) auf der Basis einer Ab­schrift von Carl Ba­er­mann ließ der Ver­le­ger einen Aus­schnitt aus der „Ori­gi­nal-Hand­schrift“ ab­bil­den, die genau diese „Kor­rek­tur“ – die si­cher­lich auf Carl Ba­er­mann zu­rück­geht – ent­hält:

Erst­aus­ga­be, Ab­druck der "Ori­gi­nal-Hand­schrift", T. 7-10

In der Erst­aus­ga­be selbst wird dann al­ler­dings eine stär­ker aus­ge­ar­bei­te­te Ka­denz von Carl Ba­er­mann ab­ge­druckt. Eine ab­wei­chen­de Ka­denz­fas­sung weist auch Men­dels­sohns ei­gen­hän­di­ge Or­ches­ter­fas­sung des ers­ten Kon­zert­stücks auf, die dem­nach für die frag­li­che Stel­le nicht wei­ter­hilft.

Ein Blick in die alte Men­dels­sohn-Ge­samt­aus­ga­be of­fen­bart Über­ra­schen­des: Hier näm­lich ist die Hal­be­no­te auf der zwei­ten Hälf­te von Takt 9 durch zwei Vier­tel­no­ten g-es (klin­gend c-As) er­setzt.

Alte Ge­samt­aus­ga­be (1877), T. 6-10

Der Her­aus­ge­ber des Ban­des, Ju­li­us Rietz, nutz­te of­fen­bar zu die­ser Edi­ti­on eine eben­falls er­hal­te­ne ei­gen­hän­di­ge Ab­schrift, wo sich genau der­sel­be No­ten­text fin­det. Wel­che Vor­la­ge aber hatte er dazu? Und wie kommt es zur Än­de­rung von einer Hal­be­no­te zu zwei Vier­tel­no­ten?

Damit kommt eine wei­te­re Ab­schrift in den Blick, von der al­ler­dings nur ein Blatt, näm­lich die Ti­tel­sei­te und auf der Rück­sei­te der An­fang des ers­ten Kon­zert­stücks, er­hal­ten ist. Lei­der ist aus­ge­rech­net die Ka­denz durch ein Blatt über­klebt; im­mer­hin aber kann man zwei­fels­frei er­ken­nen, dass in der zwei­ten Hälf­te von Takt 9 zwei Vier­tel­no­ten ste­hen.

Ab­schrift mit Über­kle­bung, T. 7-13

Da die Ab­schrift aus dem Um­feld der Ba­er­manns stammt und mehr­fach Spu­ren von Men­dels­sohns Hand auf­weist (vgl. „cre­scen­do“ in der Ab­bil­dung rechts), darf diese wo­mög­lich noch im Ja­nu­ar 1833 vor­ge­nom­me­ne Än­de­rung als au­to­ri­siert gel­ten. Un­klar bleibt aber, wie es dazu kam und ob sie auf den Kom­po­nis­ten di­rekt zu­rück­geht oder le­dig­lich ein Vor­schlag von Carl Ba­er­mann nach­träg­lich gut­ge­hei­ßen wurde. In un­se­rer Aus­ga­be steht die Vier­tel­no­ten-Lö­sung im Haupt­text, da sie nach der­zei­ti­ger Quel­len­la­ge Men­dels­sohns „letz­tes Wort“ dazu dar­stellt, je­doch wird in Fuß­no­te und Be­mer­kung auf die ur­sprüng­li­che sowie die „kor­ri­gier­te“ Hal­be­no­te hin­ge­wie­sen.

Ver­steht sich, dass die Vier­tel­no­ten-Lö­sung auch in der fol­gen­den Auf­nah­me aus dem Jahre 2009 er­klingt.

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