Eine Szene aus dem Mu­sik­un­ter­richt, an die wir uns alle höchst un­gern er­in­nern: Eine be­stimm­te Stel­le miss­lingt uns immer wie­der, und der Leh­rer ruft, be­reits der Ver­zweif­lung nahe: „Ein­fach so spie­len, wie es in den Noten steht!“

Klingt ein­fach und selbst­ver­ständ­lich. Wenn es trotz­dem nicht klappt, muss es ja wohl an den Fin­gern lie­gen, nicht an den Noten. Ins­be­son­de­re wenn man aus einer Ur­text-Aus­ga­be spielt, aus einer Edi­ti­on, deren Noten ja kri­tisch ge­prüft wur­den und daher in Ord­nung sein müs­sen.

Aber ist dies tat­säch­lich immer der Fall? Kann es nicht doch auch an den Noten lie­gen, wenn sich Spiel­pro­ble­me er­ge­ben?

Ich möch­te dazu ein Werk vor­stel­len, bei dem man zu­min­dest pas­sa­gen­wei­se das Man­tra der Mu­sik­leh­rer um­dre­hen muss: „Bitte nicht so spie­len, wie es in den Noten steht!“

Es geht um das ein­zi­ge er­hal­te­ne Kam­mer­mu­sik­werk Gus­tav Mah­lers, um das Kla­vier­quar­tett in a-moll, von dem nur der Kopf­satz und Skiz­zen zu einem wei­te­ren Scher­zo-Satz über­lie­fert sind. Für die dem­nächst im Hen­le-Ver­lag er­schei­nen­de Neu­aus­ga­be (HN 1228) stand der Her­aus­ge­ber Chris­toph Flamm vor be­son­de­ren Pro­ble­men. Ein­zi­ge Quel­le für die wohl um 1876 ent­stan­de­ne Kom­po­si­ti­on ist eine au­to­gra­phe Par­ti­tur, die zwar den Ver­lauf des ers­ten Sat­zes voll­stän­dig über­lie­fert, im De­tail aber nicht ganz aus­ge­ar­bei­tet und ab­ge­schlos­sen ist. So feh­len an vie­len Stel­len dy­na­mi­sche An­ga­ben und Vor­zei­chen, Bo­gen­set­zun­gen er­schei­nen in­kon­se­quent oder sind sehr nach­läs­sig no­tiert. In einem Teil der Re­pri­se ist der Kla­vier­satz sogar nur skiz­zen­haft fest­ge­hal­ten (meist le­dig­lich Grund­tö­ne mit Ge­ne­ral­bass­zif­fern) und lässt sich nur mit­tels der Ana­lo­gie zur Ex­po­si­ti­on er­gän­zen:

Au­to­graph, S. 16, T. 203 ff.

Edi­ti­on Henle Hn 1228, T.201 ff.

Am auf­fal­lends­ten sind aber Ei­gen­hei­ten im Kla­vier­satz, die sich wie ein roter Faden durch die Kom­po­si­ti­on zie­hen und die man nicht an­ders als un­ge­schickt be­zeich­nen kann. So haben beide Hände häu­fig die­sel­ben Noten zu spie­len; auch bei ge­bro­che­nen Ak­kor­den wird kaum auf Be­quem­lich­keit und Spann­wei­te der Hand oder auf mög­li­che Kol­li­sio­nen mit der an­de­ren Hand ge­ach­tet. Diese Ei­gen­hei­ten muten in­so­fern er­staun­lich an, als das Kla­vier für den Kom­po­nis­ten im Mit­tel­punkt sei­ner mu­si­ka­li­schen Aus­bil­dung stand, ja Mah­ler in sei­ner Ju­gend sogar öf­fent­lich als Pia­nist auf­trat.

Hier seien nur zwei Stel­len aus dem Kla­vier­quar­tett­satz vor­ge­stellt – mit un­ter­schied­li­chen Kon­se­quen­zen für den prä­sen­tier­ten Ur­text und seine Spiel­bar­keit.

1)  In den Tak­ten 132–134 sind die Vier­telak­kor­de von Zähl­zeit 1 und 3 der lin­ken Hand wie nach­schla­gen­de Ach­tel­no­ten no­tiert:

Au­to­graph, S. 10, T. 132

Über­tra­gung

Es scheint ein­leuch­tend, dass diese Stel­le in der Edi­ti­on – Ur­text hin, Ur­text her – nur in be­ar­bei­te­ter Form er­schei­nen kann; eine no­ten­ge­treue Über­tra­gung ver­bie­tet sich be­reits durch die Ver­schie­bun­gen, die sich nicht ad­äquat in un­se­rem No­ten­sys­tem dar­stel­len las­sen. Aber ge­ra­de diese Ver­schie­bun­gen ka­schie­ren op­tisch mas­si­ve Kol­li­sio­nen bei­der Hände auf den Zähl­zei­ten 1 und 3. Um diese zu ver­mei­den, hat sich der Her­aus­ge­ber ent­schlos­sen, die Ak­kor­de der rech­ten Hand zu blo­ßem a1 zu re­du­zie­ren, wobei der Un­ter­satz der lin­ken Hand nun an den „kor­rek­ten“ Stel­len, also Zähl­zeit 1 und 3 er­scheint. (Au­ßer­dem wur­den in An­leh­nung an die drei­tö­ni­ge Struk­tur der lin­ken Hand sowie aller nach­fol­gen­der Takte bei der 3. und 5. Note der rech­ten Hand die „über­zäh­li­gen“ Noten a2 sowie g2 ge­stri­chen, die zwar spiel­bar sind, aber im Wi­der­spruch zum ge­ne­rel­len Er­schei­nungs­bild des Mo­tivs ste­hen.)

Henle Edi­ti­on HN 1228, T. 132 (hier mit roter Kenn­zeich­nung der ge­stri­che­nen Noten)

Mit die­sen letzt­lich un­ver­meid­ba­ren Maß­nah­men er­gibt sich ein mu­si­ka­lisch lo­gi­scher und zu­gleich spiel­ba­rer Text – ein Ur­text im stren­gen Sinn des Wor­tes liegt aber nicht mehr vor.

2)  Auch bei der zwei­ten Stel­le, den Tak­ten 57 ff., er­ge­ben sich Kol­li­sio­nen zwi­schen den bei­den Hän­den:

Henle Edi­ti­on HN 1228, T. 56 ff.

An­ders als beim ers­ten Bei­spiel kann hier die Stel­le ge­nau­so wie­der­ge­ge­ben wer­den, wie sie Mah­ler no­tiert hat. Denn im Prin­zip lässt sich die Stel­le so spie­len, wie es in den Noten steht – die ge­hal­te­nen Noten der lin­ken Hand wer­den le­dig­lich gleich­sam „igno­riert“. Es kommt ja auch bei an­de­ren Kom­po­nis­ten und Wer­ken vor, dass eine von einer Hand ge­hal­te­ne Note von der an­de­ren wie­der an­ge­schla­gen wer­den soll. Al­ler­dings ist eine sol­che Spiel­wei­se hier klang­lich mehr als un­be­frie­di­gend. Daher hat der Her­aus­ge­ber hier auf einen Aus­füh­rungs­vor­schlag der rech­ten Hand zur Ver­mei­dung von No­ten­ver­dop­pe­lun­gen ver­wie­sen, den er selbst beim Durch­spiel aus­pro­biert hat:

T. 57f., Aus­füh­rungs­vor­schlag des Her­aus­ge­bers

Ver­steht sich, dass sol­che Vor­schlä­ge, für die ja meh­re­re Va­ri­an­ten denk­bar wären, nicht in den Haupt­text einer Ur­text-Aus­ga­be auf­ge­nom­men wer­den kön­nen. Ent­spre­chend un­ver­bind­lich wer­den sie im Be­mer­kungs­teil (auf den in einer Fuß­no­te ver­wie­sen wird) prä­sen­tiert – dem Pia­nis­ten steht es na­tür­lich frei, sich eine an­de­re Lö­sung zu su­chen. Viel wich­ti­ger ist es (und dies gilt auch für ei­ni­ge wei­te­re Stel­len in die­sem Werk), ihn dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass be­stimm­te Stel­len in die­sem Werk nicht so ge­spielt wer­den kön­nen oder sol­len, wie sie in den Noten ste­hen.

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Eine Antwort auf »„Bitte nicht so spielen, wie es in den Noten steht!“ – Urtext und Spielbarkeit«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Es gab Zeiten in der Musikgeschichte, wo es bekanntlich nicht nur toleriert, sondern gefordert wurde, nicht so zu spielen, wie es in den Noten stand. Bei Mahler wundert mich das etwas, weil zu dieser Zeit doch schon der Komponist sehr genau notierte, was er sich vorstellte, und ich kann es mir nur so erklären, dass es sich da um eine Skizze und nicht um die Reinschrift handelt.
    Wenn man in der Musikgeschichte weiter zurück geht: die meisten Barockkomponisten (Bach vielleicht ausgenommen) überlassen dem Ausführenden quasi die Fertigstellung der Komposition. Ein Spieler, der damals nur exakt den Notentext wiedergegeben hätte, wäre wahrscheinlich als Stümper bezeichnet worden. Es wurde erwartet, dass man verzierte, variierte, und interessant war wahrscheinlich zu hören, wie der eine es machte und wie der andere es machte. Heutzutage meinen viele, schon viel getan zu haben, wenn sie mal einen Triller ergänzen oder eine Füllnote hinzufügen. Man erschrickt geradezu, wenn man sieht, dass man damals offensichtlich viel weiter ging. Telemann macht in seinen “Methodischen Sonaten” Vorschläge, wie man verzieren könnte, oder Carl Philipp Emmanuel Bach schreibt in seinen “Sonaten mit veränderten Reprisen” aus, was sonst wohl improvisatorisch gemacht wurde…
    Aber was sich quer durch die Musikgeschichte zieht: es kann einfach nicht alles in den Noten stehen. Der Notentext ist der verzweifelte Versuch, ein akustisches Ereignis (Musik) auf optischem Weg (Notenschrift) zu tradieren, und das ist und bleibt zwangsläufig unvollkommen. Interessantes Phänomen: solange man den Gregorianischen Choral mündlich tradierte, sind die Quellenbefunde trotz unterschiedlicher Neumenformen in fast ganz Europa ziemlich übereinstimmend, sobald die heutige Notenschrift (um 1000) aufkommt, werden die regionalen Unterschiede immer größer…

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