Musik für Kla­vier zu vier Hän­den brin­gen wir heut­zu­ta­ge un­will­kür­lich mit dem 19. Jahr­hun­dert in Ver­bin­dung. Es han­delt sich um die Haus­mu­sik-Gat­tung schlecht­hin. Kla­vier­spie­len konn­ten in der bie­der­mei­er­li­chen Welt viele, und zu vier Hän­den lässt sich mit wenig Auf­wand – will sagen mit be­schei­de­nem tech­ni­schen Kön­nen – doch recht klang­voll mu­si­zie­ren. Ge­ra­de im Kla­vier­un­ter­richt wird daher das Vier­hän­dig­spiel noch immer gern und viel prak­ti­ziert. Meist spielt der Leh­rer den Se­con­do-Part (und sorgt damit für eine or­ches­tra­le Grun­die­rung), wäh­rend der Schü­ler den leich­ter zu be­wäl­ti­gen­den, Me­lo­die tra­gen­den Pri­mo-Part bei­steu­ert (man denke nur an die Werke des un­ver­meid­li­chen Anton Dia­bel­li). Er­folgs­er­leb­nis ga­ran­tiert! Und damit das Ganze noch bes­ser klingt, tritt der Leh­rer beim Mu­si­zie­ren das rech­te Pedal.

Fa­mi­lie Mo­zart (Li­tho­gra­fie von J.N. della Croce, 1856, PD)

Vier­hän­di­ge Kla­vier­mu­sik ent­wi­ckelt sich im 19. Jahr­hun­dert je­doch ra­sant – und zu­neh­mend weg vom Image der Schü­ler­li­te­ra­tur. Be­son­ders be­liebt sind Ar­ran­ge­ments von Or­ches­ter­mu­sik, die sich auf die­sem Weg da­heim am Kla­vier gut re­pro­du­zie­ren ließ. Aber auch immer mehr „echte“ Werke für diese Be­set­zung ent­ste­hen, die an Tiefe der Musik für Kla­vier zu zwei Hän­den in nichts nach­ste­hen. Schon Mo­zart (HN 932) steu­er­te große Kom­po­si­tio­nen dazu bei, und Schu­bert (HN 94, 96, 98) stellt zwei­fel­los den ers­ten Hö­he­punkt in der Ent­wick­lung vier­hän­di­ger Kla­vier­mu­sik dar. Große und vir­tuo­se Kon­zert­li­te­ra­tur ent­stand, so etwa Bi­zets Jeux d’en­fants oder Brahms‘ Un­ga­ri­sche Tänze, bei der sich kein Primo mehr hin­ter einem Se­con­do ver­ste­cken kann.

Was sich in der all­ge­mei­nen Pra­xis je­doch hielt, war der Usus, das Pe­daltre­ten dem Se­con­do zu über­las­sen. Warum ei­gent­lich?

Mög­li­cher­wei­se ist es ein Über­bleib­sel aus der Schü­ler/Leh­rer-Si­tua­ti­on, mög­li­cher­wei­se aber auch der Tat­sa­che ge­schul­det, dass für ge­wöhn­lich im Se­con­do-Part die har­mo­ni­sche Ent­wick­lung der Musik bes­ser nach­zu­voll­zie­hen ist. Mög­li­cher­wei­se gibt es aber auch rein „kör­per­li­che“ Grün­de: Für den Pri­mo-Spie­ler, der beim Vier­hän­dig­spiel re­la­tiv weit rechts sitzt, ist das Hal­te-Pe­dal schlicht zu weit weg vom rech­ten Fuß (zu­ge­ge­ben: er könn­te auch links tre­ten).

In Antonín Dvořáks Sla­wi­schen Tän­zen op. 72 ist die klas­si­sche Ar­beits­tei­lung je­den­falls durch die Quel­len be­legt. Im Au­to­graph gibt der Kom­po­nist  die Pe­dal­be­zeich­nung unter dem Bass-Sys­tem des Se­con­do-Parts an (siehe fol­gen­de Ab­bil­dung. Man be­ach­te die Par­ti­tur­schreib­wei­se, d.h. Primo und Se­con­do sind über­ein­an­der und nicht ge­trennt nach Stim­men no­tiert).

Dvořák, Sla­wi­sche Tänze op. 72, Nr. 1, T. 112ff.

Die Erst­aus­ga­be (nun in Stim­men) über­nimmt dies und druckt die Pe­dal­be­zeich­nung nur im Se­con­do-Part, nicht aber in der Pri­mo-Stim­me. Wer hier tre­ten soll, ist klar.

Dvořák, Sla­wi­sche Tänze op. 72, Nr. 1, Erst­aus­ga­be

Ge­or­ges Bizet mach­te sich da mehr Mühe: Er no­tier­te im Au­to­graph der Jeux d’en­fants die Pe­dal­be­zeich­nung dop­pelt, d.h. so­wohl für den Pri­mo- als auch für den Se­con­do-Part.

Bizet, Jeux d'en­fants, Be­ginn

Diese Dopp­lung wurde in den Druck über­nom­men, wo beide Stim­men durch­gän­gig Pe­da­lan­wei­sun­gen ent­hal­ten. Sinn­voll, meine ich, denn warum soll nicht auch der Primo die Mög­lich­keit haben, den Pe­dal­ein­satz zu über­neh­men?

Ähn­li­che Über­le­gun­gen müs­sen auch bei der Druck­vor­be­rei­tung zu Dvořáks Le­gen­den op. 59 (er­scheint dem­nächst) statt­ge­fun­den haben. Im Par­ti­tur-Au­to­graph no­tiert der Kom­po­nist – genau wie bei den Sla­wi­schen Tän­zen – Pe­dalan­ga­ben unter der Se­con­do-Ak­ko­la­de.

Dvořák, Le­gen­den op. 59, 1. Heft Nr. 2, Au­to­graph

Ab­wei­chend davon fin­den sich in der Erst­aus­ga­be über­ra­schen­der­wei­se Pe­dal­be­zeich­nun­gen so­wohl in der Se­con­do- als auch in der Pri­mo-Stim­me.

Dvořák, Le­gen­den op. 59, 1. Heft Nr. 2, Erst­aus­ga­be

Kom­po­nist oder Ver­le­ger müs­sen also die Ent­schei­dung ge­trof­fen haben, auch dem Pri­mo-Spie­ler das Pe­daltre­ten zu er­mög­li­chen.

Dar­aus er­gibt sich je­doch ein Pro­blem: Was pas­siert, wenn eine der bei­den Stim­men pau­siert? Die Erst­aus­ga­be ist da recht ri­go­ros und setzt Pe­dal­zei­chen stets nur zu tat­säch­lich zu spie­len­den Noten. Die un­glück­li­che Kon­se­quenz dar­aus ist, dass die Pe­dal­be­zeich­nung an ei­ni­gen Stel­len zwi­schen Primo und Se­con­do ab­weicht.

Dvořák, Le­gen­den op. 59, 2. Heft Nr. 1, Erst­aus­ga­be

Was tun? Strikt der Quel­le fol­gen? Ich meine, eine gute Edi­ti­on muss hier eine Lö­sung vor­schla­gen und in die Haupt­quel­le (= Erst­aus­ga­be) ein­grei­fen. Unser Her­aus­ge­ber hat genau das getan und die Pe­dal­be­zeich­nung „nor­ma­li­siert“, d. h. zwi­schen Se­con­do und Primo De­ckungs­gleich­heit an­ge­strebt. Ein viel­leicht ir­ri­tie­ren­der Ef­fekt: Hin- und wie­der ste­hen nun Pe­dal­zei­chen in Pau­sen­tak­ten.

Dvořák, Le­gen­den op. 59, 2. Heft Nr. 1,HN 1080

Aber ist das nicht die­je­ni­ge Lö­sung, die der Spiel­pra­xis am meis­ten ent­ge­gen­kommt?

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4 Antworten auf »Wer tritt? Vom Pedalgebrauch bei Klaviermusik zu vier Händen«

  1. Lieber Herr Müllemann,
    ich könnte mir vorstellen, dass der Abdruck der Pedalanweisungen sowohl in der Secondo- als auch in der Primostimme einen ganz praktischen Grund hat: einfacheres Üben. Möchte man als Primo seine Stimme alleine üben, so ist es doch ungelenk wenn man ständig nach links schielen muss. Notiert man Primo und Secondo allerdings übereinander, so wie Dvorak dies getan hat, ist eine doppelte Ausführung der Pedalzeichen vermutlich nicht notwendig, da einfacher einsehbar und besser mit der eigenen Stimme zu koordinieren.
    Beste Grüße von
    der Lektoratsassistentin Alexandra Marx

  2. Dr. Michael Struck sagt:

    Lieber Herr Müllemann,

    Ihren schönen Beitrag und die hilfreiche Bemerkung von Frau Marx möchte ich noch ein wenig erweitern:
    1. Auch bei Schumann und Brahms finde ich in Manuskript- und Druckquellen vierhändiger Werke bzw. Arrangements die Doppelangabe für Primo und Secondo.
    2. Ich könnte mir vorstellen, dass die Pedalzeichen für den Primo – sofern er nicht bei Solopassagen (also ohne Secondo) doch mal selbst tritt, was ja durchaus sinnvoll sein kann – eine wichtige Information ist: Oft habe ich als Primo-Spieler bei Secondo-Partnern, die nicht sensibel treten, den Eindruck, bei gewünschtem Legatospiel (gerade in akkordischen Folgen) nicht genügend vom Pedal unterstützt zu werden, d. h. klanglich zu “verhungern”. Wenn ich nun in den Noten sehe, dass Ped. gefordert ist und später durch * wieder aufgehoben wird, kann ich beim Spielen entweder das Pedal in den betreffenden Passagen einfordern bzw. mir sicher sein, dass ich hier zusätzlich zum Fingerlegato auch “authentische” Pedalunterstützung bekomme. Das empfinde ich als Spieler durchaus als hilfreich.
    Herzliche Grüße Ihr
    Michael Struck (Johannes Brahms Gesamtausgabe, Musikwissenschaftliches Institut der Universität Kiel)

    • Lieber Herr Struck und liebe Frau Marx,
      besten Dank für Ihre beiden Kommentare. All diese Überlegungen finde ich sehr einleuchtend und hilfreich. Es zeigt sich, dass es nicht nur sinnvoll sondern sogar geboten ist, die Pedal-Dopplung der Quellen in eine Urtextausgabe zu übernehmen.
      Herzliche Grüße,
      Ihr
      Norbert Müllemann

  3. Martin Kückes sagt:

    Sehr geehrter Herr Müllemann,

    wir haben beim Dvorak-Spielen und (weil es vorwiegend sehr zarte Musik ist) insbesondere bei den “Legenden” auch genau die von Ihnen gestellten Fragen diskutiert. Ein gutes Beispiel ist der vorletzte Takt im letzten Stück, wo der secondo-Spieler ganz genau das Ende der Triolen im primo-Part abpassen muss, wir haben uns im secondo-Part den primo-Rhythmus mit Bleistift reingeschrieben (das können Sie natürlich nicht machen). Letztlich gehört so etwas in die gute Vorbereitung auf eine Aufführung, man muss am Pedal beide Parts sehr gut kennen.

    Dann gibt es noch solche Fälle wie Takt 79 im 7. Stück, wo im primo-Part eine Pedalisierung notiert ist, das aber im secondo-Part nicht erscheint (jedenfalls in unserer Bärenreiter-Ausgabe nicht). An dieser Stelle haben wir uns (aus musikalischen Gründen) für eine sehr leichte Pedalisierung entschieden, in Takt 80 kommt dann deutlich mehr.

    Und dann gibt es noch den Fall längerer Passagen ganz ohne Pedalisierung (z.B. Nr. 7 zu großen Teilen, Anfang von Nr. 8), wo wir abhängig vom jeweiligen Flügel und Raum ggf. etwas pedalisieren, aber immer unter Wahrung der in der Partitur angestrebten Klarheit.

    Wir wünschen viel Freude mit der Herausgabe der “Legenden”, das ist eine wunderbare Musik.

    Martin Kückes und Jürgen Lindner

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