Das Urtext-Prinzip ist in unserem Blog ja bereits hinlänglich diskutiert worden und kann so als bekannt vorausgesetzt werden – aber kennen Sie den Ur-Kontext? Dieser spielt nämlich bei Henle ebenfalls eine große Rolle (auch wenn wir ihn nicht auf’s Cover schreiben…).
Bei der Konzeption einer Urtext-Ausgabe ziehen wir nicht nur das einzelne Werk in Betracht, sondern auch seinen (ursprünglichen) Kontext. Wir legen in unseren Ausgaben nämlich nicht nur möglichst sämtliche Werke eines Komponisten für eine bestimmte Besetzung in einem Band vor (so dass es bei uns dann gleich alle Klaviertrios von Mendelssohn oder Violinsonaten von Beethoven gibt), sondern berücksichtigen gleichermaßen den Entstehungs- oder originären Veröffentlichungskontext: Die bekannte Faurésche Fantaisie für Flöte und Klavier zum Beispiel erscheint bei Henle zusammen mit dem vergleichsweise unbekannten Morceau de lecture für dieselbe Besetzung, das im Sommer 1898 gemeinsam mit der Fantaisie für den alljährlichen Concours de flûte am Pariser Conservatoire entstand. (Womit übrigens zugleich sämtliche Werke von Gabriel Fauré für Flöte und Klavier vorgelegt sind – und nebenbei deutlich wird, dass es sich bei diesem Ausschnitt aus seinem Œuvre um reine Auftragskompositionen aus seiner Zeit am Conservatoire handelt.)
Ein anderes Beispiel sind unsere Lied-Ausgaben Robert Schumanns, bei denen wir die Lieder in den von Schumann zusammengestellten Opera und originalen Tonarten veröffentlichen. Sie meinen, das ist doch logisch? Das mag vielleicht für die „großen“ Zyklen wie die Dichterliebe op. 48 oder den Eichendorff-Liederkreis op. 39 gelten, aber suchen Sie mal eine aktuelle Ausgabe der Zwölf Gedichte von Justinus Kerner op. 35! Diese sind nämlich im Laufe der letzten einhundert Jahre versprengt worden in die verschiedenen Bände großer Sammlungen, die Schumanns Lieder (ebenso wie die von Franz Schubert oder Hugo Wolf) für den praktischen Gebrauch zusammengestellt anbieten und dabei nicht nur Transpositionen vornehmen, sondern mitunter auch originäre Werkzusammenhänge zerstören.
Der historisch informierte Leser mag nun einwenden, dass solche Auflösung der Zyklen doch kein Problem ist, da diese ja auch zu Schumanns Zeiten keineswegs vollständig erklangen, sondern öffentlich nur einzelne Lieder vorgetragen wurden. Zudem hat Schumann selbst gerne mal dieses oder jenes Lied aus einem Zyklus in anderem Zusammenhang abgeschrieben oder veröffentlicht und dabei sogar transponiert – wie zum Beispiel die „Frühlingsnacht“ aus Opus 39 in das pianistisch einfacher zu bewältigende G-dur (vgl. die Wiedergabe beider Fassungen in unserer Urtext-Ausgabe HN 550).
Auch gibt es bis heute von der „Mondnacht“ aus demselben Eichendorff-Zyklus mindestens ebenso viele Einzelaufnahmen wie vollständige Einspielungen von Opus 39. Und schließlich: Ist die Gruppierung mehrerer Lieder zur Veröffentlichung nicht überhaupt den Verlegern geschuldet, die keine aufwendigen Einzelausgaben, sondern ganze Hefte produzieren wollten?
All dies ist durchaus richtig – geht aber am Kern der „Urtext“-Frage vorbei, die ja auf die schöpferische Intention des Komponisten abzielt. Und diese betraf bei Schumanns Liederzyklen eben auch und gerade die Organisation der Texte – was bei einem literarisch so gebildeten und engagierten Komponisten auch kein großes Wunder ist. Aus den Textabschriften und Kompositionsautographen Schumanns geht klar hervor, dass er an der Auswahl und Anordnung der Texte für einen Zyklus lange feilte.
So vertonte er im November/Dezember 1840 insgesamt 14 Gedichte des von ihm geschätzten Justinus Kerner, die er mehrfach umsortierte und daraus zwei Lieder wieder ausschied, bevor „ein kleiner Cyklus Kerner’scher Gedichte“ zur „Liederreihe nach Justinus Kerner“ op. 35 wurde. Erst in der letzten Überarbeitung vor der Drucklegung entschied er sich noch, das erste Lied („Lust der Sturmnacht“) aus G-dur nach Es-dur zu transponieren – womit dieser wahrhaft stürmische Auftakt der Liederreihe in einem dominantischen Verhältnis zum nachfolgenden „Stirb, Lieb’ und Freud’“ steht.
Solche gezielten Bemühungen des Komponisten um die vollendete Form eines Opus sind uns Grund und Anlass genug, den Kerner-Zyklus in seiner originalen Form zu edieren – und mit unserer HN 552 den Musikern erstmals eine moderne praktische Urtext-Ausgabe zu bieten, in der sie die Lieder in ihrem Ur-Kontext studieren können. Ob sie dann daraus bewusst nur einzelne für den Vortrag auswählen oder vielleicht doch den gesamten Zyklus musizieren, sei ihnen gerne überlassen!