In Kürze wird die zwei­te Aus­ga­be im Hen­le-Ka­ta­log er­schei­nen, die auf dem Cover den dop­pel­ten Kom­po­nis­ten­na­men Bach · Bu­so­ni trägt. Bu­so­nis be­rühm­tes Ar­ran­ge­ment der nicht min­der be­rühm­ten Cha­conne ist be­reits län­ger bei uns er­hält­lich. Nun fol­gen die 10 Cho­ral­vor­spie­le.

Fast müss­te man von 11 ½ Cho­ral­vor­spie­len spre­chen, denn un­se­re Edi­ti­on bringt zu­sätz­lich zu den be­kann­ten 10 Or­gel-Über­tra­gun­gen ei­ner­seits eine zwei­te Ver­si­on der Nr. 1 („Komm, Gott, Schöp­fer“), die seit der Erst­ver­öf­fent­li­chung 1916 nun erst­mals wie­der zu­gäng­lich ge­macht wird; diese Zweit­fas­sung, die nur in Tei­len einen wirk­lich neuen No­ten­text ent­hält, mag man als „hal­bes“ neues Cho­ral­vor­spiel zäh­len. Ein voll­gül­ti­ges neues Werk ist an­de­rer­seits die Tran­skrip­ti­on des Or­gel­cho­ral­vor­spiels „Aus tie­fer Not schrei‘ ich zu dir“. Un­se­re Her­aus­ge­ber haben das Stück im Nach­lass Bu­so­nis (Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin · Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz) ent­deckt. Die Quel­le ist in­zwi­schen als Di­gi­ta­li­sat ein­zu­se­hen; in einer Ur­text­aus­ga­be er­scheint das Werk nun al­ler­dings zum ers­ten Mal.

Bu­so­ni scheint die­ses Ar­ran­ge­ment in der Tat ur­sprüng­lich für eine Ver­öf­fent­li­chung vor­ge­se­hen zu haben. Ein ex­pli­zi­tes No­ta­be­ne „für den Ste­cher“ (rechts oben auf der ers­ten Ma­nu­skript­sei­te) legt diese Ver­mu­tung nahe. Zum Druck kam es je­doch nie. Warum? War Bu­so­ni mit dem Kla­vier­satz nicht zu­frie­den? Er selbst räumt in der Fuß­no­te auf der ers­ten Seite ein: „Der Vor­trag eines po­ly­pho­nen sechs­stim­mi­gen Sat­zes bil­det so ziem­lich die äu­ßers­te Leis­tungs­gren­ze die­ser Art auf dem Pia­no­for­te“. Wir müs­sen dem Kom­po­nis­ten Recht geben. Der Kla­vier­satz ist aus­ge­spro­chen dicht. Fast möch­te man zwei­feln, ob es über­haupt mög­lich ist, diese Menge an Noten mit zehn Fin­gern zu be­wäl­ti­gen. Ich habe es ver­sucht: Es geht dann doch ver­blüf­fend gut – aber Sechs­stim­mig­keit lässt sich auf der Orgel zwei­fel­los bes­ser dar­stel­len als auf dem Kla­vier. Die ver­mut­lich 4 Jahre spä­ter ent­stan­de­nen – und dann auch ver­öf­fent­lich­ten – 10 Cho­ral­vor­spie­le sind je­den­falls deut­lich pia­nis­ti­scher an­ge­legt. Viel­leicht war „Aus tie­fer Not“ eine über­tra­gungs­tech­ni­sche Fin­ger­übung, eine Vor­stu­fe, über die Bu­so­ni mit den pu­bli­zier­ten Cho­ral­vor­spie­len hin­aus­ge­wach­sen war. Mög­li­cher­wei­se hatte Bu­so­ni die­sen „Über­tra­gungs-Ver­such“ (so der Titel) noch im Hin­ter­kopf, als er im Vor­wort zur Erst­aus­ga­be der 10 Cho­ral­vor­spie­le von 1898 schrieb:

Was den Her­aus­ge­ber ver­an­lass­te, eine Aus­wahl Bach’scher Cho­ral­vor­spie­le für das Pia­no­for­te zu um­schrei­ben, war we­ni­ger die Ab­sicht, eine Probe der Über­tra­gungs­kunst ab­zu­le­gen, als viel­mehr der Wunsch, ein grö­ße­res Pu­bli­kum für diese an Kunst, Emp­fin­dung und Phan­ta­sie so rei­chen Kom­po­si­tio­nen des Meis­ters zu in­ter­es­sie­ren und damit in mu­sik­lie­ben­den Krei­sen all­mäh­lich das Ver­lan­gen zu er­we­cken, auch die üb­ri­gen Werke die­ser Gat­tung (über hun­dert an Zahl) ken­nen zu ler­nen.

Die Art der Über­tra­gung, die wir im Ge­gen­satz zu den „Kon­zert­be­ar­bei­tun­gen“ als eine sol­che „im Kam­mer­stil“ be­zeich­ne­ten, stellt an die tech­ni­sche Fä­hig­keit des Spie­lers nur sel­ten die höchs­ten An­for­de­run­gen; will man zu die­sen nicht die Kunst des An­schla­ges zäh­len, der es bei dem Vor­tra­ge die­ser Cho­ral­vor­spie­le al­ler­dings im um­fas­sends­ten Maße be­darf.“

In un­se­rer Ur­text­aus­ga­be er­scheint „Aus tie­fer Not“ im An­hang – mögen nun Pia­nis­ten die Nr. 11 mit den üb­ri­gens 10 ½ Stü­cken ver­glei­chen und über­le­gen, aus wel­chen Grün­den Bu­so­ni das Stück nie hat dru­cken las­sen.

Zum Schluss noch ein klei­nes Text­pro­blem, das zeigt, wie schwie­rig der Um­gang mit Be­ar­bei­tungs­aus­ga­ben ist. In T. 20 schreibt Bu­so­ni im mitt­le­ren Sys­tem (1. Note) ein f:

Über den her­ben Klang der Note er­schrickt ver­mut­lich jeder Pia­nist. Ein Feh­ler Bu­so­nis?

Um das her­aus­zu­fin­den, muss­ten wir die Quel­len zur Bach-Vor­la­ge her­an­zie­hen. Der au­to­ri­sier­te Erst­druck von 1739 schreibt tat­säch­lich f; in ei­ni­gen Ex­em­pla­ren wurde die­ses f spä­ter zu fis kor­ri­giert – aber nicht in allen. Bu­so­ni ver­wen­de­te für seine Be­ar­bei­tung aber ver­mut­lich nicht Bachs Ori­gi­nal-Druck, son­dern ent­we­der die Aus­ga­be von Grie­pen­kerl/Roitzsch (1847) oder die alte Bach-Aus­ga­be (1853). Bei Grie­pen­kerl steht f, die alte Bach-Aus­ga­be schreibt fis. Diese Quel­len­la­ge wirft et­li­che Fra­gen auf, die sich kaum be­ant­wor­ten las­sen. Na­he­lie­gend ist le­dig­lich, dass sich Bu­so­ni of­fen­bar an Grie­pen­kerl ori­en­tier­te. Über­nahm er dabei mit dem f einen Feh­ler? Schrieb Bu­so­ni be­wusst f oder eher „un­re­flek­tiert“, ohne die Note zu hin­ter­fra­gen? Und auf einer an­de­ren Ebene: Wiegt Bachs Ori­gi­nal (des­sen Les­art al­ler­dings nicht ein­deu­tig ist) mehr oder das Au­to­graph der Bu­so­ni-Be­ar­bei­tung? Wer ist maß­geb­lich für den kor­rek­ten Text der Tran­skrip­ti­on: Der Kom­po­nist des Ori­gi­nals oder der Ar­ran­geur?

Ganz zum Schluss hier noch – zur Ent­span­nung – meine per­sön­li­che Lieb­lings­auf­nah­me eines der be­kann­tes­ten Bach/Bu­so­ni-Cho­ral­vor­spie­le, der Nr. 3, „Nun komm’ der Hei­den Hei­land“ mit Vla­di­mir Ho­ro­witz:

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