Ge­le­gent­lich wird man als Lek­tor mit Fra­gen kon­fron­tiert, die auf den ers­ten Blick un­kom­pli­ziert er­schei­nen. Im Falle von Saint-Saëns’ 2. Kla­vier­kon­zert in g-moll op. 22 (1868) be­trifft dies den An­fang des Werks, ge­nau­er ge­sagt, die Frage, wo die Takt­zäh­lung des ers­ten Sat­zes be­gin­nen soll. Kann diese Frage tat­säch­lich zum Pro­blem wer­den? Ja, sie kann …

Saint-Saëns’ Kon­zert setzt näm­lich mit einem Ab­schnitt des So­lo­kla­viers ein, der me­trisch frei no­tiert wie eine aus­ge­spon­ne­ne Im­pro­vi­sa­ti­on an­mu­tet und erst am Ende durch zwei re­gu­lä­re Takte im 4/4-Me­trum ab­ge­schlos­sen wird.

Au­to­graph, S. 1-2

Der aus Mo­tiv­se­quen­zen und vir­tuo­sen Läu­fen be­ste­hen­de Ab­schnitt er­scheint zu­nächst wie eine Ka­denz so­zu­sa­gen an „fal­scher“ Stel­le. Aus der Sicht des klas­si­schen So­lo­kon­zerts wäre der Be­ginn des Kopf­sat­zes mit einer Ka­denz (an­statt sie vor die Coda zu plat­zie­ren) sinn­wid­rig: Das vir­tuo­se „Im­pro­vi­sie­ren“ mit dem mo­ti­visch-the­ma­ti­schem Ma­te­ri­al setzt deren Ex­po­si­ti­on und Durch­füh­rung ja zwin­gend vor­aus. Aber dem ers­ten Ein­druck, Saint-Saëns’ Opus 22 setze mit einer Ka­denz ein, ste­hen oh­ne­hin zwei Sach­ver­hal­te ent­ge­gen:

Zum einen wird der Ein­gangs­ab­schnitt an spä­te­rer Stel­le (Takte 95 ff.) wie­der­holt, dies­mal je­doch ein­ge­bun­den in ein re­gu­lä­res Me­trum und be­glei­tet von ge­hal­te­nen Ak­kor­den der Strei­cher.

Zum an­de­ren taucht etwa in der Mitte des Kopf­sat­zes (Takte 66 ff.) ein aus­drück­lich als „Ca­den­za ad li­bi­tum“ be­zeich­ne­ter Teil auf, der den Haupt­ge­dan­ken in klas­si­scher Ma­nier be- und ver­ar­bei­tet, al­ler­dings aus klas­si­scher Sicht eben­falls an „fal­scher Stel­le“ steht, da sich eine Art Re­pri­se erst da­nach an­schließt.

Au­to­graph, S. 35

Der Ein­gangs­ab­schnitt ist dem­nach eine dem Or­ches­ter­ein­satz vor­ge­schal­te­te Ein­lei­tung, die zwar auf den fol­gen­den Haupt­satz ein­stimmt, indem ein zen­tra­les Motiv des Haupt­the­mas (das Dreh­mo­tiv b–a–b) an­klingt, die aber kei­nes­wegs es­sen­ti­ell an­mu­tet. Lei­der haben sich zum 2. Kla­vier­kon­zert weder aus­führ­li­che Skiz­zen noch Ent­wür­fe er­hal­ten, so dass offen blei­ben muss, ob der Ein­gangs­ab­schnitt von An­fang an vor­ge­se­hen war oder erst re­la­tiv spät hin­zu­kam.

Wäh­rend die zeit­ge­nös­si­schen Druck­aus­ga­ben nur die Pro­be­buch­sta­ben als Ori­en­tie­rung haben, kön­nen heu­ti­ge Edi­tio­nen die Takt­zäh­lung nicht mehr aus­klam­mern.

Wo aber soll nun diese Takt­zäh­lung im Kopf­satz be­gin­nen? Mit dem ers­ten no­tier­ten Takt, sprich: dem „Rie­sen­takt“ der So­lo-Ein­lei­tung? Oder doch erst mit dem Or­ches­ter­ein­satz nach der Ein­lei­tung?

Bei der in Vor­be­rei­tung be­find­li­chen Neu­aus­ga­be des Kla­vier­aus­zugs im Hen­le-Ver­lag (HN 1355) habe ich mich für eine Takt­zäh­lung mit dem Or­ches­ter­ein­satz ent­schie­den, und zwar aus fol­gen­den Grün­den:

  • Das „ad li­bi­tum“ und die den frei­en Fluss un­ter­strei­chen­de No­tie­rung ohne Takt­stri­che be­to­nen die Mög­lich­keit, die­sen Ein­gang tat­säch­lich weg­zu­las­sen und – in kon­ven­tio­nel­ler Ma­nier – mit dem nach­fol­gen­den Or­ches­ter­ein­satz zu be­gin­nen.
  • Die Tem­po­an­ga­be „An­dan­te sos­te­nu­to“ er­scheint (wenn­gleich erst nach­träg­lich mit roter Tinte no­tiert) beim Or­ches­ter­ein­satz er­neut, die Me­tro­no­man­ga­be (eben­falls nach­träg­lich mit Blei­stift ge­schrie­ben) erst­mals, bei­des In­di­zi­en für den „ei­gent­li­chen“ Be­ginn.
  • Eine von Saint-Saëns selbst vor­ge­nom­me­ne Takt­zäh­lung mit Blei­stift setzt erst mit dem ers­ten Or­ches­ter­takt ein.

Au­to­graph, S. 3

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4 Antworten auf »Nur nicht aus dem Takt kommen! Zum ersten Satz von Saint-Saëns’ 2. Klavierkonzert«

  1. Wolfgang Merkes sagt:

    Meiner Meinung nach eine absolut richtige Entscheidung. Zumal der Komponist es genauso macht.
    Bei den Kadenzen klassischer Konzerte (wenn sie nicht gerade ausgeschrieben sind), setzt die Taktzählung auch aus. Und warum einen Takt hinschreiben, der keiner ist? Es gäbe mehr Verwirrung, als es nützen würde…

  2. Harald Schollmeyer sagt:

    Ich würde bei Taktzahlen letztlich den praktischen Bedürfnissen der Musiker Vorrang einräumen. Mir ist schon klar, dass hier ein Klavierauszug vorbereitet wird, aber wenn hier Orchestermaterial vorbereitet würde (und evtl. soll ja späteres Orchestermaterial kompatibel sein), sollte für eine klare und einfache Kommunikation in der Probe jeder Takt nummeriert sein, auch jeder „Riesentakt“.

    Eine Taktzählung, die sich primär an der musikwissenschaftlichen Bedeutung des Taktinhalts orientiert, würde bei Orchestermusikern auf wenig Gegenliebe stoßen: Taktzahlen sind letztlich nur Koordinaten in der Welt eines Werkes, aber sie stellen für die Musikpraxis keinen eigenen Inhalt oder musikalischen Wert dar.

    Gerade durch das Setzen einer Taktzahl wird Verwirrung vermieden, denn so kann man die Stelle unmittelbar benennen. Wenn keine Taktzahl vorhanden ist, muss man schon für die Benennung Umschreibungen verwenden. Direkt am Anfang eines Werks ist das ja kein Problem, aber wenn mehrere solcher Stellen existieren, plädiere ich im Sinne einer professionellen und zielgerichteten Probenarbeit für eine durchgehende Taktnummerierung.

  3. Kai Adomeit sagt:

    Taktzahlen sind für Orchestermusiker eine alltägliche Notwendigkeit, ein Urtextproblem stellen sie ja nun Gott sei Dank nicht dar.
    Es bleibt zu hoffen, dass etwa nachfolgende Editionen so vernünftig sind, die einmal aufgestellten Zahlen zu übernehmen um ein eventuelles Durcheinander zu vermeiden.
    Hat Henle eigentlich die alten Buchstaben übernommen? Das wäre durchaus hilfreich, da viele Pianisten noch die alte französische Ausgabe benutzen.

    • Peter Jost sagt:

      Vielen Dank für Ihren Kommentar. In der Henle-Ausgabe werden die Probe-Buchstaben der Originalquellen übernommen (gilt grundsätzlich für alle Klavierauszüge von Orchesterwerken).

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