Leoš Janáčeks großartige Kammermusik, die wir in Kooperation mit der Wiener Universal Edition veröffentlichen, bereichert ja nun schon seit einigen Jahren unseren Katalog mit dem Bläsersextett Mládi (HN 1093) und dem originellen Marsch der Blaukehlchen für Pikkoloflöte und Klavier (HN 1143). Aber nun dürfen auch die Pianisten sich auf Janáček in bester Urtext-Qualität freuen, denn inzwischen ist der vierteilige Klavierzyklus Im Nebel (HN 1247) erschienen. Auch hier war philologische Gründlichkeit für unseren Janáček -Spezialisten Jiří Zahrádka wieder mit großem Aufwand verbunden, da das Werk nicht nur in mehreren autographen Niederschriften sowie zwei zum Teil stark überbearbeiteten Abschriften vorliegt, sondern auch noch verschiedene Druckausgaben existieren.
Janáček hatte sich nämlich mit dem damals noch schlicht „Mlhy“ (also „Nebel“) überschriebenen Klavierzyklus 1912 erfolgreich am Kompositionswettbewerb des Brünner Vereins der Freunde der Kunst beteiligt. Daraufhin erschien das Werk 1913 als Jahresgabe des Vereins zwar im Druck (jetzt mit dem heute bekannten Titel „V mlhách“, also „Im Nebel“), errang aber keine weite Verbreitung. Erst ein gutes Jahrzehnt später sollte 1924 bei Janáčeks Prager Haus-Verlag Hudební matice eine revidierte Ausgabe erscheinen, die dem Werk den Weg in eine breitere Öffentlichkeit ebnete.
Initiiert wurde diese Revision interessanterweise nicht vom Komponisten selbst, sondern von dem Pianisten und Pädagogen Václav Štépan, der den Zyklus mehrfach aufgeführt und sich mit Janáček intensiv darüber ausgetauscht hatte. Im November 1923 sandte er dem Komponisten seine, vermutlich in ein Exemplar der Erstausgabe eingetragene Revision mit der Versicherung, dass er „mit der allergrößten Ehrfurcht gegenüber jeder einzelnen Note vorgegangen“ sei und sich im Allgemeinen darauf beschränkt habe, „Ihre Vorstellungen so klar wie möglich für alle Pianisten zu machen, insbesondere für die weniger selbständigen“. Der einzige größere Eingriff betraf die Passage mit den absteigenden 32tel-Läufen in Nr. 4 (T. 117–124), die Štépan auf Janáčeks ausdrücklichen Wunsch geändert hatte (siehe unten). Die Revision fand beim Komponisten uneingeschränkte Zustimmung. Umgehend antwortete er: „Hochgeschätzter Herr Doktor! Ich danke Ihnen herzlich für die Bearbeitung. Sie sollte auf dem Titelblatt erwähnt werden.“ Und so geschah es:
Die zwischen Štépan und Janáček ausgetauschte Quelle ist heute leider verschollen, aber der Vergleich der beiden Druckausgaben lässt erkennen, dass die Revision sich in der Tat im Wesentlichen auf aufführungspraktische Angaben wie Dynamik und Pedal sowie die rhythmisch präzise Ausnotierung improvisatorisch anmutender Figuren beschränkte. Sie konnte daher auch problemlos auf den Stichplatten der Vorgänger-Ausgabe ausgeführt werden. Nur für die oben erwähnte Stelle in Nr. 4 musste eine neue Platte für Seite 16 gestochen werden:
Die sorgfältig revidierte und „für alle Pianisten“ optimierte Ausgabe von 1924 dokumentiert zweifelsohne die Fassung letzter Hand und ist damit ganz klar Hauptquelle unserer Edition. Wo liegt also das Problem? Einfach darin, dass auch diese Quelle noch Fragen aufwirft. Und dabei geht es nicht um die millimetergenaue Länge einer Decrescendo-Gabel oder „Strich oder Punkt“ für Staccato, sondern zum Beispiel um die fundamentale Frage, ob und wie in Stück Nr. 3 der zweite Teil zu wiederholen ist.
Hier findet sich nämlich in beiden Druckausgaben zu Beginn der 3. Zeile, vor T. 49, ein höchst überraschendes Wiederholungszeichen, dem sein Gegenpart, also das schließende Zeichen, fehlt. Das könnte natürlich heißen, dass man bis zum Ende des Stückes spielt und dann ab T. 49 wiederholt. Aber schauen Sie einmal genauer hin: In T. 48/49 erklingt zum wiederholten Male die charakteristische Begleitfigur:
Ein Neueinsetzen mit der zweiten Hälfte dieser Figur auf der ersten Zählzeit von T. 49 ist nach dem Schlusstakt musikalisch nicht denkbar (und gleiches gilt auch für den theoretisch zum Neubeginn einladenden Fermatentakt 67). Der gedruckte Notentext macht also keinen Sinn. Und so haben findige Herausgeber seit jeher versucht, dieser Stelle auf andere Weise Sinn einzuhauchen, indem sie die Wiederholung schon ab T. 37 beginnen lassen, so dass der gesamte zweite Teil zweimal erklingt, oder der Wiederholung ab T. 49 zumindest die erste Hälfte der Begleitfigur voranstellen.
Beides scheint eine musikalische sinnvolle Lösung des Problems zu sein – und die erste Variante mit der vollständigen Wiederholung ab T. 37 ist so weit verbreitet, dass auch ich das Stück jahrelang nur so kannte! Aber sie liefert keine Erklärung dafür, wie es zu dem falsch positionierten Wiederholungszeichen in T. 49 kam. Dies ist erst zu lösen, wenn man die bereits erwähnten früheren Abschriften zurate zieht, in denen dieser Abschnitt mehrfach verändert wurde. Zunächst war dieser zweite Teil nämlich deutlich kürzer (25 statt 32 Takte) und wurde dafür wiederholt; zudem begann er im dreifachen Pianissimo und – last but not least – entbehrte er noch die erwähnte Begleitfigur.
In der offenbar zunächst zeilengleich kopierten Abschrift 2 wurden just diese Takte mehrfach überarbeitet, zunächst durch Rasuren, dann mit einer Überklebung für die ersten Takte des Poco mosso, die den Schreibraum um eine Akkolade (auf 6 statt vorher 5) erweiterte. Dies war nötig, weil sich nun die Begleitfigur durch die Fortissimo-Akkorde schlängelt und die Einfügung mehrere Takte fordert. Aber auch auf der Überklebung wurde noch mehrfach rasiert und korrigiert, weswegen die Takte 37 bis 52 sehr schlecht lesbar sind.
Man kann aber erkennen, dass am Ende der vorletzten Akkolade, nach T. 48, kein normaler, sondern ein doppelter Taktstrich steht, der das Ende eines Abschnitts kennzeichnet. In diesem Kontext ist dann auch das uns nur allzu bekannte Wiederholungszeichen vor T. 49, zu Beginn der nächsten Zeile mit zwei Schrägstrichen notiert, logisch. Und auf der nächsten Seite ist erkennbar, dass am Doppelstrich vor dem Tempo I das schließende Wiederholungszeichen ausrasiert wurde.
Die zwischen den Zeichen notierten Takte sollten also zunächst einmal wiederholt werden. Im Zuge der Revision wurde diese Wiederholung offenbar gestrichen – aber das zu Zeilenbeginn verhältnismäßig unauffällig platzierte Zeichen vor T. 49 blieb dabei versehentlich stehen (ebenso wie der doppelte Taktstrich nach T. 48, der spätestens nach Eintrag der Begleitfigur nicht mehr sinnvoll war). So fand es Eingang in die Drucke, wo es ebenfalls unauffällig am Zeilenbeginn steht und so selbst dem prüfenden Auges des Revisors Štépan entging.
Folgt man dieser Erklärung, so ergibt sich als einzig logische Konsequenz, dass das Wiederholungszeichen in T. 49 zu streichen und Nr. 3 in der Fassung letzter Hand ohne jegliche Wiederholung des zweiten Teils zu spielen ist. Genau so finden wir es auch schon in einer späteren Auflage der revidierten Ausgabe, die 1938 erschien. Da war Janáček aber schon ein Jahrzehnt tot und zudem enthält die Ausgabe weitere sicher nicht autorisierte Eingriffe in den Notentext, weswegen sie als Quelle nicht vertrauenswürdig ist. Unsere Urtext-Ausgabe streicht das Wiederholungszeichen aus den besagten Gründen trotzdem – kennzeichnet diesen Eingriff aber selbstverständlich und liefert an entsprechender Stelle eine Erklärung für alle, die hier eine Wiederholung „vermissen“.