Der G. Henle Verlag ist dafür bekannt, seine älteren Ausgaben auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls auf den aktuellen Stand zu bringen. Zuletzt wurde hier im Blog über die revidierte Neuausgabe von César Francks Violinsonate berichtet. Heute möchte ich auf die Revision von Beethovens Klaviervariationen hinweisen, deren erster Teil in Kürze erscheinen wird (HN 1267).
Die praktischen Ausgaben zu Beethovens Klaviervariationen (Teil I: HN 142/143, Teil II: HN 144/145) erschienen erstmals im Januar 1963. Sie basieren auf der entsprechenden Publikation innerhalb der Gesamtausgabe (Beethoven Werke, Abteilung VII, Band 5), die als erster Band der neuen Gesamtausgabe überhaupt 1961 bei Henle erschien. Der Pilotcharakter wird schon äußerlich daran sichtbar, dass nicht eine Person allein, sondern die Mitarbeiter des Beethoven-Archivs Johannes Herzog, Friedhelm Klugmann und Emil Platen unter der Leitung des damaligen Archivleiters Joseph Schmidt-Görg für die Herausgabe verantwortlich waren. Wie seinerzeit üblich, war der Kritische Bericht nicht in der Ausgabe selbst enthalten, sondern sollte als gesonderter Band in Kürze nachfolgen. Durch die Vorbereitung neuer Bände wie auch personelle Wechsel im Beethoven-Archiv wurde die Veröffentlichung dieses Berichts immer wieder verschoben, was insofern Auswirkungen auf die praktischen Ausgaben hatte, als dort im Laufe der Jahre in den Nachdrucken lediglich punktuelle Nachbesserungen, keine grundlegenden Überarbeitungen möglich waren.
Die Ankündigung des nachträglichen Kritischen Berichts durch Felix Loy (der im Herbst 2017 erscheinen soll) bot uns daher die Gelegenheit, die schon längst fällige Revision unserer Urtextausgabe in Angriff zu nehmen. Das nur pauschal über die Quellenlage berichtende, sehr knapp gehaltene alte Vorwort wurde jetzt dem Henle-Standard angepasst und durch einen ausführlichen Bemerkungsteil ergänzt. Vor allem aber wurde der Notentext anhand sämtlicher verfügbaren Quellen geprüft und wo nötig geändert.
Variationen bilden in der Klassik die zentrale Form, um sich mit einem musikalischen Gedanken auseinanderzusetzen, und so nimmt es nicht wunder, dass Beethoven sich damit mehr als vier Jahrzehnte lang, also nahezu über den gesamten Zeitraum als schöpferischer Komponist, beschäftigte. Der revidierte erste Band HN 1267 enthält die Klaviervariationen der Bonner und frühen Jahre der Wiener Zeit (WoO 63–66, 68–73, 75), die zwischen 1782 und 1799 im Druck erschienen. Gegenüber den wesentlich bekannteren späteren Variationen – namentlich den sogenannten „Eroica“-Variationen op. 35 und den berühmten Diabelli-Variationen op. 120 – mögen diese frühen Kompositionen zunächst weniger attraktiv erscheinen, zumal die Themen aus damals zumindest zeitweisen sehr populären, aber heute völlig vergessenen Bühnenwerke stammen.
Man sollte aber die frühen Variationen nicht unterschätzen, denn an zahlreichen Stellen lassen sich bereits typische Elemente des Personalstils erkennen. Oder wie es Klaus Schilde, der die Revision des Fingersatzes für unsere Neuausgabe übernommen hat, in einem Brief an mich ausgedrückt hat: „Der zukünftige Löwe zeigt bereits seine Pranken“. Dies gilt in gewissem Maße sogar schon für die im Alter von zwölf Jahren verfassten „Neun Variationen über einen Marsch von Ernst Christoph Dressler“ WoO 63. Denn hier wird bereits das Prinzip erkennbar, durch das sich Beethoven von den meisten zeitgenössischen Werken dieser Gattung abhebt: Die einzelnen Veränderungen beziehen sich nicht nur auf das Thema, sondern auch auf bestimmte Elemente vorangehender Variationen.
Besonders hingewiesen sei auf die Revision der „24 Variationen über die Ariette Venni Amore von Vincenzo Righini“ WoO 65. Zum einen bilden diese Variationen das wohl bedeutendste Werk im ersten Teil der Neuausgabe, zum anderen zeigen sich in der Revision hier die stärksten Änderungen gegenüber der früheren Ausgabe. 1984 wurde nämlich ein Exemplar der Erstausgabe von 1791 wiederentdeckt. Zuvor war man, da sich wie bei den meisten der frühen Variationen kein Autograph erhalten hat, auf den späteren Druck von 1802 angewiesen. Angesichts der Qualität dieser Komposition, die mit einer Fülle von Besonderheiten wie der überaus differenzierten Folge von Veränderungen, Kontrasten innerhalb der gleichen Variation und ausgedehnter Coda aufwartet, hatte man eine zeitnahe Umarbeitung des 1790/91 entstandenen ursprünglichen Werks vermutet. Beim Vergleich beider Ausgaben wurde die These von zwei Fassungen zwar hinfällig, aber es zeigte sich doch eine Fülle von Abweichungen insbesondere für Dynamik, Bogensetzung und Artikulation, gelegentlich aber auch für Stimmführung und Rhythmus, wie nachfolgendes Beispiel aus Variation I (Takt 5) zeigt:
Da der Nachdruck von 1802 aller Wahrscheinlichkeit ohne Mitwirkung Beethovens erschien, wurden durch die Wiederentdeckung des ersten Drucks die authentischen Lesarten greifbar. Unsere Revision bringt – unter Berücksichtigung der eindeutigen Korrekturen des späteren, von unbekannter Hand eingerichteten Drucks – erstmals den Notentext nach der Originalausgabe.
Wer nun Lust bekommen hat, diese Variationen anzuhören, dem sei eine Einspielung von Mark Dierauf empfohlen.